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Bibliotheken aus systemtheoretischer Sicht. Eine Skizze

  • Hermann Rösch

    Hermann Rösch

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Published/Copyright: June 19, 2024

Zusammenfassung

Damit das Bibliothekssystem als gesellschaftliches Funktionssystem unter Berücksichtigung des systemtheoretischen Instrumentariums beobachtet und beschrieben werden kann, werden zunächst einige Grundlagen und theoriespezifische Begriffe kurz erläutert. Im Anschluss wird Informationsgesellschaft als sozialer Rahmen der aktuell überschaubaren Entwicklung näher bestimmt. Schließlich geht es um die Frage, welche Konturen ein systemtheoretisch durchdrungenes Bibliothekssystem besitzt und welche Erkenntnisgewinne mit einer solchen Annäherung zu gewinnen wären. Selbstverständlich bietet der nachfolgende Aufriss nicht mehr als einen äußerst knappen Impuls, dem die gründliche Ausarbeitung einer Theorie des Bibliothekssystems folgen könnte, aus der erst das tatsächliche Erkenntnispotenzial eines systemtheoretischen Blicks auf die bibliothekarische Wirklichkeit sichtbar würde.

Abstract

That the library system can be observed and described as a social functional system considering the systems theoretical instruments, some basics terms must be explained briefly. Afterwards, information society is determined in detail as a social framework of the current development. Furthermore, it will be discussed which contours has a library system in a systems theoretical sense and which findings are able to produce such an approach. Of course, the subsequent outline offers no more than an impulse that should be proceeded by a thorough elaboration of a theory of the library system which would uncover the potential of a systems theoretical view of the library reality.

1 Einführung

Das Analyse- und Erkenntnispotenzial der Systemtheorie beruht auf einer reichlich abstrakten und nicht immer leicht nachzuvollziehenden Theoriearchitektur. Darüber hinaus widersprechen systemtheoretische Grundaussagen nicht selten verbreiteten wissenschaftlichen Denkgewohnheiten und bewährten Alltagserfahrungen. Wenn Luhmann etwa behauptet, die Gesellschaft bestehe aus Kommunikation und nicht aus Menschen, diese kämen lediglich in deren Umwelt vor, ruft dies zunächst Irritation hervor.[1] Es sind nicht zuletzt diese Irritationen und dieser rigorose Bruch mit traditionellen Denkweisen, die das außerordentliche Erkenntnispotenzial erzeugen und die zum allmählichen Durchbruch der Systemtheorie in zahlreichen Disziplinen und Anwendungsfeldern geführt haben. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang z. B. Betriebswirtschaft, Psychotherapie, Literaturwissenschaft oder Politikwissenschaft. Tatsächlich versteht sich Systemtheorie als „Supertheorie“ mit dem Anspruch, „den gesamten Bereich der Wirklichkeit abzudecken, in dem sie zum Beispiel alle sozialen Systeme beschreibt“.[2] Unterstellt wird also, dass alle gesellschaftlichen Funktionssysteme „bei aller Sachverschiedenheit“ vergleichbare Strukturen aufweisen.

Damit das Bibliothekssystem als gesellschaftliches Funktionssystem unter Berücksichtigung des systemtheoretischen Instrumentariums beobachtet und beschrieben werden kann, werden zunächst einige Grundlagen und theoriespezifische Begriffe kurz erläutert. Im Anschluss wird Informationsgesellschaft als sozialer Rahmen der aktuell überschaubaren Entwicklung näher bestimmt. Schließlich geht es um die Frage, welche Konturen ein systemtheoretisch durchdrungenes Bibliothekssystem besitzt und welche Erkenntnisgewinne mit einer solchen Annäherung zu gewinnen wären. Selbstverständlich bietet der nachfolgende Aufriss nicht mehr als einen äußerst knappen Impuls, dem eine gründliche Ausarbeitung einer Theorie des Bibliothekssystems folgen könnte, aus der erst das tatsächliche Erkenntnispotenzial eines systemtheoretischen Blicks auf die bibliothekarische Wirklichkeit sichtbar würde.

2 Systemtheoretische Grundlagen

2.1 System, Umwelt, Subsystem

Die Grundüberlegung der Systemtheorie fußt auf der Erkenntnis, dass die Gesellschaft der Moderne durchgängig geprägt ist durch Arbeitsteilung. Die Evolution der modernen Gesellschaft kann demnach als fortschreitende Arbeitsteilung und als anhaltende Komplexitätssteigerung beschrieben werden. Damit allein aber ist das Besondere der Systemtheorie noch nicht hinreichend beschrieben. Hinzutritt die These, dass sich innerhalb der Gesellschaft einzelne Funktionssysteme herausbilden, die einen jeweils wichtigen Beitrag zum Funktionieren der Gesellschaft leisten, dies aber nur können, wenn sie gegenüber der Gesellschaft und den anderen Funktionssystemen Autonomie gewinnen. Demnach bedürfen die Funktionssysteme (Recht, Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Religion, Kultur usw.) der Autonomie, um Leistungen für die Gesellschaft bereitstellen zu können, andererseits müssen die Systeme in gewisser Weise aufeinander abgestimmt sein, damit Bedarf erkannt und Leistungen daraufhin erbracht und angeboten werden können. Die Systemtheorie beschreibt die Struktur der modernen Gesellschaft damit als überaus kompliziertes Gebilde.

Konstitutiv für die Systemtheorie ist naheliegenderweise der Begriff des Systems, der an erster Stelle behandelt werden soll. Dabei geht es ausschließlich um soziale Systeme. Deren wesentliches Merkmal ist es, dass sie sich selbst erzeugen („Autopoiesis“) und selbst festlegen, welche Elemente zum System gehören und welche nicht. Diese Grundunterscheidung erzeugt damit nicht nur das System, sondern auch die systemspezifische Umwelt. Umwelt also ist nicht etwas objektiv oder statisch Gegebenes; jedes System hat seine je eigene Umwelt.

Nicht leicht nachzuvollziehen ist das Verhältnis von System und Umwelt. Einerseits erzeugen Systeme die Elemente selbst, aus denen sie bestehen; sie organisieren sich autonom und bauen eigene Strukturen auf. Andererseits tun sie dies in Abhängigkeit von der Umwelt und keineswegs ohne sie, denn ein System ist nicht ohne seine Umwelt denkbar. Determiniert werden sie von der Umwelt jedoch nicht.[3] Umgekehrt ist es dem System aber auch unmöglich, operativ in seine Umwelt einzugreifen. Zu den Besonderheiten der Systemtheorie gehört Luhmanns These, dass Systeme handeln, indem sie kommunizieren und die Kommunikation anderer Systeme, d. h. ihrer Umwelt beobachten. Soziales Handeln wird damit gleichbedeutend mit kommunikativem Handeln oder Mitteilungshandeln. Dabei ist keineswegs garantiert, dass mitgeteilte Informationen so verstanden werden, wie der Sender es intendiert hat. Die Sinnzuschreibung erfolgt immer durch den Empfänger.

Systeme operieren also selbstreferenziell, sie bauen kommunikative Austauschbeziehungen systemintern zwischen ihren einzelnen Elementen auf, erzeugen eine systemspezifische Struktur und erbringen Leistungen, die von der Umwelt in Anspruch genommen werden können oder auch nicht. Systeme beobachten ihre Umwelt, um ihre Leistungen auf den Bedarf der Umwelt abzustimmen. Diese kognitive Offenheit des Systems gegenüber seiner Umwelt dient auch dazu, Veränderungen in der Umwelt wahrzunehmen, um sie in systemspezifische Ereignisse zu übersetzen. Dies kann zum Beispiel zur Folge haben, dass die systemspezifischen Operationen modifiziert werden mit dem Ziel, die Umweltanpassung des Systems zu verbessern, auf die veränderten Bedingungen auszurichten. Dabei können natürlich Fehlbeobachtungen und Fehlinterpretationen vorkommen. Diese Angewiesenheit auf funktionierende Beziehungen zwischen System und Umwelt wird als strukturelle Kopplung beschrieben.[4]

Zu beachten aber bleibt: Das System kann ebenso wenig der Umwelt seine Leistungen oktroyieren, wie die Umwelt dem System vorschreiben kann, welche Leistungen es erbringen und auf welche Weise dies geschehen soll. Eine Umwelt kann z. B. vom Rechtssystem erwarten, dass es auf der Grundlage geltender Gesetze eindeutig bestimmt, welche Handlungen als Recht und welche als Unrecht zu betrachten sind. Wie die Rechtssprechung zu organisieren ist, wie Urteile gefällt werden müssen, damit Rechtsgeltung gewahrt bleibt, kann nur das Rechtssystem festlegen. Wenn in der Umwelt der Eindruck entsteht, dass die Rechtsprechung inkonsistent ist, können vielerlei Folgen eintreten: Entzug von Vertrauen, Einschränkung materieller oder personeller Unterstützung, Ersatzmaßnahmen, Zunahme von Rechtsbrüchen usw. Aufgabe des Rechtssystems ist es dann, diese Unzufriedenheit wahrzunehmen und systemintern durch Korrekturen oder andere Modifikationen so zu reagieren, dass die Erwartungen der Umwelt erfüllt werden.

Die großen gesellschaftlichen Funktionssysteme sind in sich wiederum in eine Vielzahl von Subsystemen unterteilt, die zugleich innerhalb wie außerhalb des übergeordneten Systems liegen. Auch diese Paradoxie ist nicht ohne Weiteres nachzuvollziehen. Das Finanzsystem z. B. ist zweifelsohne ebenso Subsystem des Wirtschaftssystems wie ein Unternehmen der chemischen Industrie. Beide sind beteiligt am Austausch von Waren gegen Geldzahlungen zum Zwecke der Beseitigung von Knappheit. Beide sind aber auch insofern autopoietisch als sie sich selbst erzeugen und auf der Grundlage systemintern getroffener Entscheidungen ihre Leistungen erbringen. Nur wenn das Finanzsystem die Erwartungen seiner Umwelt trifft (Liquidität ermöglichen zu langfristig stabilen Bedingungen), wird es Vertrauen genießen und die notwendigen Zuwendungen materieller und ideeller Art erhalten. Gleiches gilt für das Unternehmen: Wenn es Produkte erzeugt, die von seiner Umwelt nicht benötigt werden, kann es nicht dauerhaft überleben. Die Umwelt wird dem Unternehmen von sich aus keine Hinweise darauf geben, wie es seine Praxis ändern muss. Das Unternehmen muss die Umwelt selbst beobachten und daraus Erkenntnisse zur Anpassung der eigenen Praxis an den Bedarf der Umwelt in der eigenen Logik und mit den systemspezifischen Methoden entwickeln. Das Subsystem Unternehmen muss aber zugleich die eigene Praxis beobachten und ständig überprüfen, ob diese den eigenen Maßstäben und Erwartungen entspricht.

Die gesellschaftlichen Funktionssysteme können theoretisch in unbegrenzt viele Subsysteme untergliedert werden. So besteht das Bibliothekssystem aus dem System wissenschaftlicher und demjenigen Öffentlicher Bibliotheken. Aber auch die einzelne Universitäts- oder Stadtbibliothek besteht wiederum aus Subsystemen: der Benutzungsabteilung, der Erschließungsabteilung, der IT-Abteilung usw. Allerdings ist die Autonomie der bibliothekarischen Subsysteme erheblich geringer als jene der großen, gesellschaftlichen Subsysteme. So können etwa Zielvorgaben der Bibliotheksleitung dazu dienen, die untergeordneten Abteilungen aufeinander abzustimmen und Parameter für deren Leistungsvolumen zu setzen. Je strikter diese Vorgaben sind, desto stärker schlägt die lose in eine feste Kopplung um.

2.2 Evolution und Funktionale Differenzierung

Mit dem Modell autopoietisch operierender Funktionssysteme beschreibt die Systemtheorie die Gesellschaft der Moderne. Die Entwicklung zu den komplexen Strukturen der Gegenwart ist über verschiedene Evolutionsstufen erfolgt, die wiederum mit Veränderungen in den jeweils dominierenden Kommunikationsweisen korrelieren. Die gesellschaftliche Evolution beginnt demnach mit archaischen, tribalen Gesellschaften. Diese Gesellschaften sind vergleichsweise klein. Ihre räumliche Ausdehnung und die Zahl ihrer Mitglieder werden begrenzt durch die Reichweite ihres Kommunikationsmediums, die gesprochene Sprache. Arbeitsteilung ist in diesen Gesellschaften nur in bescheidenen Ansätzen ausgeprägt. Sie sind voneinander isoliert und füreinander noch nicht Umwelt.

Auf der nächsten Entwicklungsstufe können sich innerhalb der Gesellschaft unterschiedliche Elemente voneinander absondern. Die Erfindung der Schrift erweitert die Reichweite der einzelnen Gesellschaft und ermöglicht die Kommunikation und Koordination der Glieder untereinander. Gesellschaft wird damit zum segmentär differenzierten System. Dessen Besonderheit besteht darin, dass die einzelnen Systemglieder nach Gleichartigkeit streben. Sowohl ihre Struktur als auch ihre Funktion ist weitgehend identisch. Aus dem „Einzeller“ Gesellschaft ist ein „Mehrzeller“ geworden, ohne dass sich bereits Organe mit spezifischen Funktionen herausgebildet hätten.

Mit der Erweiterung des Horizontes durch Schrift wächst aber langfristig auch die Komplexität der Systeme, so dass sich allmählich hierarchische Strukturen ausprägen. Damit entstehen stratifikatorisch differenzierte Systeme. Die Systemglieder sind nicht mehr funktional gleich, sondern es gibt mindestens ein Systemglied, das den anderen übergeordnet ist oder gar eine Struktur, die aus mehreren hierarchischen Schichten besteht. Eine Sonderform der stratifikatorischen Differenzierung ist jene nach Zentrum und Peripherie oder nach Stadt und Land. Im Zentrum steht der Herrscher oder die Stadt. Dort bilden sich Hochkulturen heraus. Das zugehörige und vom Zentrum beherrschte Land verbleibt auf der Stufe segmentärer Differenzierung. Im eigentlichen Sinne wird mit stratifikatorischer Differenzierung eine Entwicklungsstufe bezeichnet, auf der sich unterschiedliche gesellschaftliche Schichten herausbilden: Adel, Klerus, Handwerker und Bauern. Angehörige dieser Schichten verfügen über ähnliche Rechte und Aufgaben. Die Gesellschaft verfügt mit den Schichten über unterschiedliche Subsysteme, die einander hierarchisch zugeordnet sind. Wie beispielhaft in der Feudalgesellschaft werden einzelne Schichten (Bauern) von anderen Schichten (Adel) beherrscht. Innerhalb der einzelnen Schicht (des Subsystems) herrscht für die jeweiligen Systemglieder relative Gleichheit.

Auf die Phase stratifikatorischer Differenzierung folgt jene der funktionalen Differenzierung. Auf dieser Stufe bilden sich spezifische gesellschaftliche Funktionssysteme heraus, die einerseits aufeinander angewiesen sind, andererseits in ihrem Zuständigkeitsbereich eine gewisse Autarkie genießen. Das für stratifikatorische Differenzierung charakteristische hierarchische Verhältnis der Subsysteme zueinander wird nun abgelöst durch Gleichordnung. Aus dem Einzeller ist über den Mehrzeller eine komplexe Struktur geworden, in der spezialisierte Subsysteme für die Erzeugung von Bewusstsein zuständig sind (Gehirn) oder für die Sauerstoffzufuhr (Lunge). Die Bauart der Subsysteme ist gleich, ihre Funktion und ihr Produkt sind spezifisch. Der Vergleich zwischen biologischer und sozialer Evolution hinkt insofern, als die Umwelt sozialer Systeme stärkerem und schnellerem Wandel unterworfen ist als jene z. B. eines Körperorgans. Übertragen auf die Gesellschaft und ihre sozialen Systeme entsprechen den Körperorganen die Funktionssysteme Recht, Politik, Wissenschaft, Wirtschaft, Kunst, Religion usw. Innerhalb der Funktionssysteme zeigt sich ein Trend zu immer weiterer Arbeitsteilung bzw. funktionaler Differenzierung.

Gefördert wird die Entwicklung von stratifikatorischer zu funktionaler Differenzierung durch die Erfindung und Verbreitung des Buchdrucks. Speicherkapazität und Reichweite der Kommunikation werden dadurch exorbitant gesteigert. Der Horizont der Gesellschaft erweitert sich zunächst mit dem Buchdruck, später forciert auch durch digitale Medien und das Internet auf die ganze Welt. Während kleine tribale Gesellschaften und solche segmentärer Differenzierung in großer Zahl nebeneinander existierten, ist die Anzahl der erheblich größeren stratifikatorischen Gesellschaften bereits überschaubar. Die funktional differenzierte Gesellschaft nimmt globale Ausmaße an und entwickelt sich tendenziell zur Weltgesellschaft. Innerhalb der funktional differenzierten Gesellschaft aber existieren Subsysteme, die anderen Differenzierungsformen entsprechen. Die Entwicklung in der Gesamtgesellschaft oder diejenige in einem übergeordneten System und die Entwicklung in den zugehörigen Subsystemen müssen keineswegs synchron verlaufen. So können z. B. innerhalb des bereits funktional differenzierten Bibliothekssystems Bereiche bestehen, die von diesen Systemstrukturen nicht erfasst werden. Zu denken ist in diesem Zusammenhang etwa an Instituts- und Seminarbibliotheken, die über viele Jahrzehnte abgekoppelt waren von der Professionalisierung, der Standardisierung und der leistungssteigernden Arbeitsteilung des Bibliothekssystems, dem hingegen die Universitätsbibliotheken angehörten.

3 Informationsgesellschaft

Die moderne Gesellschaft beschreibt sich häufig mit dem Begriff der Informationsgesellschaft. Dieser inzwischen schillernde Begriff ist nicht unumstritten. In der Alltagssprache und der Sprache der Politik wie der Medien wird als oft synonymer Begriff häufig Wissensgesellschaft verwendet. Die Verwirrung beginnt bereits bei dem Versuch die Begriffe Information und Wissen eindeutig zu definieren und gegeneinander abzugrenzen. Bibliotheks- und informationswissenschaftlich ist Information immer Bestandteil menschlicher Kommunikation. Ein Sender (Sprecher, Autor o. ä.) macht eine Mitteilung. Er macht Teile seines subjektiven Wissens zum Gegenstand einer Kommunikationsofferte. Aufgabe des Adressaten ist es, den Inhalt der Mitteilung zu verstehen. Erst wenn der Adressat die Kommunikationsofferte annimmt und den Inhalt der Mitteilung versteht, d. h. mit Sinn zu versehen vermag, kommt es zu einer Kommunikation. Information entsteht daraus erst dann, wenn der Adressat die Offerte nicht nur annimmt, sondern den Inhalt der Mitteilung auch als Neuigkeit versteht und in seinen individuellen Wissensvorrat integriert. Der Adressat also ist die Instanz, die darüber entscheidet, ob ein Kommunikationsprozess überhaupt entsteht. Er entscheidet zunächst, ob er die Offerte annimmt, dann wie er den Sinn versteht und schließlich ob das Verständnis für ihn neu ist, d. h. Informationscharakter besitzt. Ein Informationsprozess ist daher keinesfalls gleichzusetzen mit der simplen Übertragung von Sinn oder „materieller Substanz“, die als Information anzusehen wäre. Stattdessen besteht ein Informationsprozess aus einem Angebot in Form kodierten Sinnes, den der Adressat dekodieren und als neu ansehen muss.

Selbst wenn ein Kommunikationsprozess zustande kommt und der Adressat das Angebot als Information bewertet, gibt es keine Gewähr dafür, dass der Empfänger exakt das in seinen Wissensvorrat einbaut, was der Sender gemeint hat. Dafür können viele Ursachen verantwortlich sein. Der Sender kann sich unpräzise artikuliert haben, der Übertragungskanal kann Missverständnisse hervorgerufen haben und schließlich wird der Empfänger Sinnofferten immer aus seiner Sicht, auf der Grundlage seines Kontextwissens interpretieren und die so gewonnenen Informationen in seinen Wissensbestand integrieren. Niemand kann garantieren, dass eine Mitteilung vom Empfänger so aufgenommen wird, wie sie gemeint war. Dies ist einer der Gründe, weshalb der Begriff des Wissens streng vom Informationsbegriff unterschieden werden muss. Wissen ist demnach immer persönliches Wissen, während potentielle Informationen als kodierte Sinnofferten weitergegeben, in Datenbanken gespeichert, gefunden, aufgeschrieben, gesammelt, gezählt oder verglichen werden können. Ob freilich aus den Sinnofferten Informationen werden, hängt vom Empfänger ab. Unter diesem Aspekt sind Begriffe wie „Informationsdienstleistung“ oder „Fachinformation“ streng genommen unscharf. Denn unterstellt wird damit, dass die in den jeweiligen Prozessen beteiligten Sinn- bzw. Kommunikationsofferten von den Empfängern tatsächlich angenommen und zudem als neu bewertet werden. Da aber in der Fachsprache der Gebrauch der unscharfen Begriffe weit verbreitet ist und ein Abweichen die Verständigung erheblich erschweren würde, erscheint es vertretbar, trotz dieser Bedenken, an der gängigen Terminologie festzuhalten.

Zu den herausragenden Eigenschaften der gegenwärtigen Gesellschaft gehören die starke Zunahme von Sinnproduktion sowie der beständig und enorm wachsende Bedarf an Neuigkeiten. Da Wissen am Prozessieren von Sinn, genauer neuem, d. h. bislang unbekannten Sinn nicht beteiligt ist, erweist sich der Begriff Wissensgesellschaft als ungeeignet. Mit Informationsgesellschaft lässt sich die gegenwärtige Gesellschaft hingegen treffender charakterisieren.

Informationsgesellschaft steht evolutionsgeschichtlich im Kontinuum der archaischen Gesellschaften nomadisierender Jäger und Sammler, der Agrargesellschaft und der Industriegesellschaft. Die Gemeinschaften von Jägern und Sammlern verfügen nur über eine rudimentär ausgebildete Arbeitsteilung und entsprechen segmentärer Differenzierung. Agrargesellschaft zeichnet sich dadurch aus, dass die Mehrheit der Beschäftigten im Agrarsektor tätig ist. Sesshaftigkeit aber erfordert erste Formen von Arbeitsteilung. Teile der Gesellschaft erhalten z. B. die Aufgabe, den Schutz der Gemeinschaft zu garantieren. Dies führt schließlich zur Ausprägung von Befehlsgewalt und grundsätzlich hierarchischer Strukturen im Sinne stratifikatorischer Differenzierung. In der Industriegesellschaft ist die Mehrheit der Beschäftigten im industriellen Sektor tätig. Der Agrarsektor organisiert sich nach den Prinzipien industrieller Produktion. Funktionale Differenzierung beginnt sich zu entfalten. Die Informationsgesellschaft steigert diesen Trend. Ein nennenswerter Teil der Beschäftigten ist im Informationssektor tätig. Agrarsektor und Industriesektor organisieren sich nach den Methoden und Techniken digitaler Informationsverarbeitung und digital vernetzter Kommunikation.

Zu den Markenzeichen der Informationsgesellschaft gehören also einerseits digitale Technologien und auf deren Grundlage weltweite Vernetzung etwa in Form des Internet. Auf der anderen Seite verlangen immer komplexer werdende Strukturen nach beschleunigter Zufuhr von Informationen und damit gleichzeitig nach einer quantitativen Steigerung der Belieferung mit Sinnofferten, aus denen sich Informationen gewinnen lassen. „Informationsflut“ ist also zugleich Voraussetzung und Ergebnis der Informationsgesellschaft. Typische Phänomene der Informationsgesellschaft sind also anhaltende Beschleunigung der Sinnproduktion, beständig wachsender Informationsbedarf, multimediale Präsentation von Informationen (Kombination von Text, Bild und Ton), Globalisierung, d. h. genauer wachsende Verdichtung globaler Vernetzungsstrukturen (Internet), Verkürzung von Innovationszyklen, Dezentralisierung usw.

4 Bibliotheken als System

Wenn das Bibliothekssystem auf der Grundlage der Systemtheorie beschrieben werden soll, ist natürlich zunächst klar, dass begrifflich damit nicht Bibliothekssystem im Sinne der Bibliotheksverwaltungssoftware gemeint ist. Wenn hingegen unter Bibliothekssystem Einheiten verstanden werden, die im Bereich der Öffentlichen Bibliotheken aus einer Zentralbibliothek und mehreren Zweigbibliotheken bestehen oder im Bereich der wissenschaftlichen Bibliotheken aus einer zentralen Universitätsbibliothek und mehreren fachlichen Bereichsbibliotheken bestehen, können diese auch im systemtheoretischen Verständnis als Sonderformen oder Subsysteme des übergeordneten Bibliothekssystems betrachtet werden. Sowohl für Subsysteme des Typus Zweigbibliothek einer Zentralbibliothek als auch für solche des Typus funktional differenzierte Unterabteilung der Gesamtbibliothek gilt, dass in der Praxis meist die oben erwähnte strikte Kopplung, d. h. die Weisungsbindung an die Zentrale vorliegt.

Auch der Begriff Informationssystem im systemtheoretischen Verständnis muss von anderen Konnotationen abgegrenzt werden. Wenn Informationssystem etwa definiert wird als technisch organisiertes Instrument zur Übertragung von Informationen, das aus den Komponenten Input-Bereich, Übermittlungskanal und Out-Bereich besteht[5] oder als Funktion des betrieblichen Informationssystems angegeben wird, es verarbeite die Objektart Information und gehöre damit in den Gegenstandsbereich der Wirtschaftsinformatik,[6] so liegt dem ein anderer theoretischer Bezugsrahmen zugrunde als die Systemtheorie.

Jedes autopoietische System zeichnet sich dadurch aus, dass es eine Leitunterscheidung trifft, auf deren Grundlage es markiert, was zum System gehört und was zur Umwelt. Luhmann spricht in diesem Zusammenhang von symbolisch generalisiertem Code. Die Leitunterscheidung des Wirtschaftssystems ist demnach Zahlung/Nicht-Zahlung, die des Rechtssystems ist Recht/Unrecht oder die des politischen Systems Macht haben/keine Macht haben. Im Falle des Bibliothekssystems könnte diese Unterscheidung in der Opposition „bewahren, bereitstellen und vermitteln“ einerseits sowie „nicht-bewahren, nicht-bereitstellen und nicht-vermitteln“ andererseits angegeben werden. Zu den Besonderheiten des Bibliothekssystems gehört es zum einen, dass es sich bei der Materialart, auf die sich die Leitunterscheidung bezieht, überwiegend um Publikationen handelt und zum anderen, dass die Operationen nicht marktorientiert sind, d. h. keine vordergründig kommerziellen Interessen verfolgt werden.

Je nach Bibliothekstyp lässt sich die Leitunterscheidung ergänzen und modifizieren. Im Falle der wissenschaftlichen Hochschulbibliotheken kann präzisiert werden im Sinne von „für die wissenschaftliche Informationszirkulation dauerhaft bereitstellen“ versus „vergessen“. Im Falle der Öffentlichen Bibliotheken könnte die Formulierung lauten „für die allgemeine Literatur- und Informationsversorgung bereitstellen“ versus „ignorieren“.

Mit der Leitunterscheidung ist festgelegt, was System und was Umwelt des Systems ist. In der systemspezifischen Umwelt existieren zahlreiche Kraftzentren, die in ihrer Eigenperspektive selbst Systeme sind. Das Bibliothekssystem muss diese Fremdsysteme beobachten und seine eigene Praxis so organisieren, dass deren Leistungserwartungen erfüllt werden können. Verändern sich diese, was im Grunde permanent geschieht oder mindestens droht, muss das Bibliothekssystem diese erkennen, interpretieren und in systemspezifische Operationen umwandeln, damit den veränderten Erwartungen möglichst bald entsprochen werden kann.

Als Beispiel ließen sich etwa die durch die PISA-Studien veränderten Anforderungen des Bildungssystems an Bibliotheken im Hinblick auf Vermittlung von Informationskompetenz nennen. Kein Bildungspolitiker, kein Lehrer oder Hochschullehrer kann den Bibliotheken Anweisungen geben, wie sie dem neuen Bedarf entsprechen können. Wahrnehmbar wird allein das Defizit (unterentwickelte oder fehlende Informationskompetenz). Wie Bibliotheken Angebote zur Vermittlung von Informationskompetenz gestalten, wie sie vorhandene Kompetenzen und Angebote (Benutzerschulung) in das neue Dienstleistungsangebot einbringen oder welche traditionellen Funktionen gegebenenfalls gekürzt werden müssen, damit Kapazitäten für neue Funktionen frei werden, kann nur innerhalb des Bibliothekssystems entschieden werden. Aus Sicht des Bildungssystems besteht keinerlei Zwang, zur Deckung eines neu identifizierten Bedarfs das Angebot des Bibliothekssystems in Anspruch zu nehmen. Als Alternativen denkbar wären z. B. die Befriedigung des neuen Bedarfs als Eigenleistung der Systeme, in denen die Leistung benötigt wird (z. B. Vermittlung von Informationskompetenz als Schulfach oder integriert in Fachunterricht, Hochschulcurricula und Seminare) oder die Ausdifferenzierung eines eigenen Funktionssystems.

Als weiteres Beispiel für eine Umweltanpassung des Bibliothekssystems lässt sich die Integration digitaler Medien in die von der Grundunterscheidung „bewahren – vergessen“ geprägte Operation anführen. Während über Jahrhunderte hinweg ausschließlich analoge Medien, bevorzugt gedruckte Bücher und Zeitschriften Gegenstand bibliothekarischer Tätigkeit waren, wurde das Spektrum in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zunächst um weitere analoge Medien wie Mikrofilme erweitert, denen später auch digitale offline-Medien (z. B. Volltexte und Datenbanken auf CD-ROM), und schließlich digitale Netzpublikationen folgten. Bei diesen systemspezifischen Modifikationen handelt es sich unzweifelhaft um Reaktionen auf eine veränderte Umwelt. Konzeptionell sind in diesem Zusammenhang zahlreiche Angebote entwickelt worden (z. B. Digitale Bibliotheken oder Fachinformationsdienste). Auch hinsichtlich des Dienstleistungsportfolios sind in den vergangenen Jahren immer wieder neue Angebote entwickelt worden. Zu denken ist etwa an die Bereitstellung von Lern- und Kreativräumen, Aufbau und Pflege institutioneller Repositorien oder das Management von Forschungsdaten. Ob diese Angebote tatsächtlich dem veränderten Bedarf gerecht werden, muss an der Reaktion der Umwelt überprüft werden.

Selbst wenn einige dieser Angebote unter geringer Inanspruchnahme leiden, empfiehlt es sich, deren Eignung mit längerem Atem zu prüfen. In manchen Fällen verändern sich Informationsverhalten und Informationskultur der Benutzer grundsätzlich nur zögernd. In anderen Fällen mag die Erwartung der Bibliotheken unrealistisch gewesen sein; aber es ist auch vorgekommen, dass die bibliothekarischen Marketingstrategien untauglich waren. Darauf jedenfalls deuten die großen und anhaltenden Erfolge hin, die Amazon und andere Betreiber von Internetportalen z. B. mit Personalisierungsoptionen erzielen, während sich gleichzeitig viele Bibliotheken schwer damit tun, vergleichbare Dienstleistungsangebote bei ihrer Klientel zu popularisieren.

Zwar ist mit der Grundunterscheidung „Bewahren/Bereitstellen“ und „Vergessen/Ignorieren“ zunächst markiert, was System und was Umwelt ist, doch knüpfen sich daran weitere Operationen des Bibliothekssystems an. Die Ausgangsunterscheidung legt nur fest, mit welchem Ziel Teile aus dem beobachtbaren Kosmos zirkulierender Kommunikationsangebote ausgewählt werden sollen. Verbunden mit der Unterscheidung „Bewahren – Vergessen“ sind die bibliothekarischen Operationen „Sichten“ (als Voraussetzung der Entscheidung über Bewahren und Nicht-Bewahren), „Sammeln“ (Beschaffen und Bewahren), „Ordnen“ (Erschließen), „Bereitstellen“ (auf Initiative des Benutzers zugänglich machen) und „Vermitteln“ (proaktives Nutzungsangebot auf Initiative der Bibliothek lancieren). Hinzu treten seit einigen Jahren verstärkt Dienstleistungen wie Vermittlung von Informationskompetenz, die es den Benutzern erleichtern soll, lebenslanges Lernen selbst zu organisieren.

In der Umwelt des Bibliothekssystems befinden sich wie bereits angesprochen Kraftzentren, die selbst Systeme sind. Dazu zählen die wichtigsten gesellschaftlichen Funktionssysteme wie etwa das Wirtschaftssystem, das Wissenschaftssystem, das Bildungssystem, das Mediensystem, das Rechtssystem, das kulturelle System oder das politische System. Mit allen diesen Systemen ist das Bibliothekssystem dadurch verbunden, dass es Leistungen erbringt, die dazu gedacht sind, den entsprechenden Bedarf in den Systemen der Umwelt zu befriedigen. Das Bibliothekssystem ist zum einen darauf angewiesen, dass diese Leistungen abgerufen werden und dass umgekehrt die anderen Funktionssysteme Leistungen zur Verfügung stellen, derer das Bibliothekssystem bedarf.

Um die Komplexität auch des Bibliothekssystems zu verstehen, ist es wichtig auf den Aspekt der Mehrsystemzugehörigkeit hinzuweisen. Diese liegt immer dann vor, wenn ein Ereignis eines Systems gleichzeitig in einem anderen System informationell relevant ist. Wenn z. B. ein Bibliotheksverbund die Entscheidung trifft, neue Hard- oder Software einzuführen, hat dies Auswirkungen im Bibliothekssystem selbst, aber auch im Wirtschaftssystem, an dem der Verbund als Kunde, d. h. als Marktteilnehmer, beteiligt ist. Bibliotheken als Organisationseinheiten sind i. d. R. ebenfalls in mehrere Systeme eingebunden. Wenn eine Hochschulbibliothek sich z. B. entscheidet, die eigenen Katalogdaten in WorldCat einzuspeisen, ist dies in erster Linie eine Entscheidung, die aus bibliothekarisch-fachlichem Ermessen erfolgt und dem Bibliothekssystem zuzuordnen ist. Gleichzeitig hat diese Entscheidung das Potenzial, Bedeutung für die eigene Hochschule zu entfalten. Wenn nämlich durch diese Maßnahme Preprints und Publikationen von Wissenschaftlern dieser Hochschule plötzlich weltweit wahrgenommen und rezipiert werden, steigt möglicherweise das Renommee der Hochschule und verbessert ihre Stellung im Hochschulsystem. Die Entscheidung selbst aber muss von den bibliothekarischen Experten gefällt und umgesetzt werden.

Das Bibliothekssystem hat in seiner eigenen Entwicklungsgeschichte die Stufen und Merkmale der gesellschaftlichen Evolution nachvollzogen.[7] Ausgehend von Universalbibliotheken, die völlig unverbunden als isolierte Einzelphänomene existierten, haben sich zunächst Formen segmentärer Differenzierung herausgebildet. Bibliotheken strebten vor allem seit der Erfindung des Buchdruckes danach, einen identischen Fundus an Druckwerken bereitzustellen. Bis zum 19. Jahrhundert bildeten sich stratifikatorische Differenzierungsformen heraus. Seit dem Ende des 19. Jahrhundert begann im deutschen Bibliothekswesen die funktionale Differenzierung. Der unvermeidliche Abschied vom Konzept der Universalbibliothek legte Formen arbeitsteiliger Kooperation der Bibliotheken nahe. Kooperativer Bestandsaufbau, Erschließungsstandards, Gesamtkataloge und organisierter Leihverkehr entwickelten sich in der Folge.

So wie sich die Gesamtheit der Bibliotheken makrosoziologisch als System beobachten lässt, so können sich innerhalb dieses umfassenden Funktionssystems regionale, fachliche oder aufgabenbezogene Subsysteme herausbilden.[8] Zu denken ist dabei etwa an die Verbundsysteme und an Zusammenschlüsse wie die Arbeitsgemeinschaft Katholisch-theologischer Bibliotheken oder die Arbeitsgemeinschaft der Kunst- und Museumsbibliotheken. Diese Binnendifferenzierung entspricht einer weiteren internen Spezialisierung und Arbeitsteilung, die erfolgen, um die Leistungsfähigkeit des Gesamtsystems zu steigern. Auch die individuelle Bibliothek kann mikrosoziologisch als System aufgefasst werden. Zwar weisen z. B. Stadtbibliotheken strukturelle Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten auf, doch verfügt die Stadtbibliothek A über eine Umwelt, die sich definitiv von jener der Stadtbibliothek B unterscheidet. Die Unterschiede ließen sich durch eine Gemeinwesenanalyse genauer beschreiben. Gleiches gilt natürlich für Hochschulbibliotheken. Die Funktion, welche die jeweilige Einrichtung für ihre Umwelt erbringt, ist abstrakt weitgehend identisch, kann konkret jedoch markante Unterschiede aufweisen. Die Binnendifferenzierung, die im umfassenden Funktionssystem Bibliothek erfolgt, findet ab einer gewissen Größe auch in der konkreten Einzelbibliothek statt: Es bilden sich Arbeitseinheiten heraus, die sich auf Einzelfunktionen der Bibliothek spezialisieren: Erwerbungs- und Erschließungsabteilung, Benutzungsabteilung, IT-Abteilung usw.

Die Evolution von Systemstrukturen des wissenschaftlichen und des öffentlichen Bibliothekswesens in Deutschland verlief im Wesentlichen getrennt. Bemühungen, diese sachlich nicht gerechtfertigte Spartentrennung in der Bundesrepublik aufzuheben, sind im „Bibliotheksplan ’73“ und im Strukturpapier „Bibliotheken ’93“ zu erkennen. Die zukunftsweisende Perspektive Öffentliche und wissenschaftliche Bibliotheken in einer vierstufigen Skala als aufeinander bezogene Elemente eines einheitlichen Bibliothekssystems zu verstehen, hat sich bisher allerdings nicht wirklich durchgesetzt. Weiteres Entwicklungspotenzial liegt im Aufbau funktional differenzierter Kooperation im Hinblick auf diverse Dienstleistungsangebote (Vermittlung von Informationskompetenz, Langzeitarchivierung, Distributionsfunktionen, Monitoring usw.), der Verflechtung mit nicht-bibliothekarischen Segmenten des Informationswesens oder der Internationalisierung.

5 Ausblick

Von einer gründlich auszuarbeitenden systemtheoretischen Analyse des Bibliothekssystems ist zu erwarten, dass sie den Blick der beteiligten Entscheidungsträger auf den Handlungsspielraum, das systemspezifische Potenzial, langfristige Entwicklungstrends und den Stellenwert im Ensemble gesellschaftlicher Systeme und Subsysteme schärft und möglicherweise in der einen oder anderen Problemstellung gar zu neuen Einsichten verhilft. Das Bewusstsein um die Autopoiesis des Systems könnte dazu führen, dass Entscheidungen mit größerem Selbstbewusstsein getroffen werden, dass die Resilienz der Systems und der einzelnen Systemglieder erheblich gestärkt wird und dass aufgrund der Betonung der System-Umwelt-Relation, der seit einiger Zeit zu beobachtende Prozess einer zunehmenden Dienstleistungsorientierung konsequent fortgesetzt wird. Die Auseinandersetzung mit dem Trend zu funktionaler Differenzierung könnte dazu führen, dass arbeitsteilige Systemstrukturen stärker als bisher auf- und ausgebaut werden.

Über den Autor / die Autorin

Hermann Rösch

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Literaturverzeichnis

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Wang, Weiguo (1989): Bibliotheken als soziale Systeme in ihrer Umwelt. Köln: Greven. (Kölner Arbeiten zum Bibliotheks- und Informationswesen: 12).Search in Google Scholar

Online erschienen: 2024-06-19
Erschienen im Druck: 2024-07-31

© 2024 bei den Autoren, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

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  27. Chancen und Herausforderungen der E-Preferred-Strategie für die monografische Erwerbung in wissenschaftlichen Bibliotheken
  28. Der Berg ruft und ein Reiseunternehmen will geführt sein, wo steckt der Fehlerteufel? Ein Interview mit Markus Walter
  29. Rezensionen
  30. Pettegree, Andrew: The Book at War. Libraries and Readers in a Time of Conflict. London: Profile Books, 2023. 474 S., s/w-Abb. im Text, 31 Farbabb., ISBN: 978-1-80081-493-6, eISBN: 978-1-80081-495-0. Hardcover ₤ 30, Paperback ₤ 12,99
  31. Anne Baillot: From Handwriting to Footprinting: Text and Heritage in the Age of Climate Crisis. Cambridge: Open Book Publishers, 2023, 179 Seiten, ISBN 978-1-80511-089-7, https://doi.org/10.11647/OBP.0355
  32. Hassan Soilihi Mzé: Geöffnet – Gelenkt – Umgebaut. Universitätsbibliothek Leipzig, Deutsche Bücherei und Leipziger Stadtbibliothek zwischen institutioneller Reorganisation und politischer Instrumentalisierung (1945–1968/69). Leipzig: Leipziger Universitätsverlag, 2023. 266 S., ISBN 978-3-96023-555-2. Hardcover € 33,–
  33. Madeleine C. Fombad, Collence Takaingenhamo Chisita, Omwoyo Bosire Onyancha und Mabel K. Minishi-Majanja (Hrsg.): Information Services for a Sustainable Society: Current Developments in an Era of Information Disorder. Berlin, Boston: Walter de Gruyter, 2023. VII, 369 Seiten: Illustrationen, 129,00 €, ISBN 978-3-11-077268-5. Auch als PDF & EPUB
  34. Stefan Alker-Windbichler, Axel Kuhn, Benedikt Lodes, Günther Stocker (Hrsg.): Akademisches Lesen. Medien, Praktiken, Bibliotheken. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, V&R unipress 2022. 370 S.
  35. Verena-Christin Schmidt: Digitale und hybride Lernraumgestaltung in Wissenschaftlichen Bibliotheken, Wiesbaden: b.i.t. verlag gmbh, 2023, 118 Seiten, 24,50 €, ISBN 978-3-9824425-5-6
Downloaded on 12.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/bfp-2024-0015/html
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