Startseite Kevin P. Riehle: Russian Intelligence. A Case-based Study of Russian Services and Missions Past and Present. Bethesda, MD.: United States Government National Intelligence Press 2022, 368 Seiten
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Kevin P. Riehle: Russian Intelligence. A Case-based Study of Russian Services and Missions Past and Present. Bethesda, MD.: United States Government National Intelligence Press 2022, 368 Seiten

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Veröffentlicht/Copyright: 5. März 2024

Rezensierte Publikation:

Riehle Kevin P. Russian Intelligence. A Case-based Study of Russian Services and Missions Past and Present Bethesda, MD. United States Government National Intelligence Press 2022 1 368


Spätestens seit dem Scheitern des militärischen Überfalls vor den Toren Kyjiws ist der Mythos der mächtigen russischen Armee dahin. Anzeichen dafür, dass der riesige Militärapparat Russlands an enormen strukturellen Schwächen leidet, gab es zwar schon länger. Aber diese wurden geflissentlich ignoriert und Putins Streitmacht als Armee von Weltrang bewundert. Ganz ähnlich verhält es sich mit den russischen Geheimdiensten. Auch diese umgibt ein Mythos von Allmacht und Allwissenheit. Doch stimmt das? Hat es jemals gestimmt? Während die schlechte Performance der russischen Armee in der Ukraine seit Februar 2022 vor aller Welt offenkundig ist, ist eine Leistungsbestimmung der geheimen Dienste Russlands aus der Außensicht nur schwer möglich. Naturgemäß ist es bei diesem arkanen Metier viel schwieriger, zuverlässige Quellen zu beschaffen und einen Einblick in die Operationsführung zu erhalten. Trotzdem ist es ein lohnenswertes Unterfangen, sich mit Russlands Geheimdienstsektor zu beschäftigen – nicht nur aus wissenschaftlicher Neugier, sondern weil Moskau und seine Dienste auf unabsehbare Zeit die größten Bedrohungen für den Frieden und die Sicherheit in Europa darstellen. Kevin Riehle hat mit seinem Buch Russian Intelligence. A Case-based Study of Russian Services and Missions Past and Present ein quellengesättigtes und hochaktuelles Werk zu diesem Thema vorgelegt. Riehle kann von zwei Seiten auf das Thema blicken: als Spionageexperte der US-Regierung mit über 30 Berufsjahren und als Wissenschaftler für Intelligence Studies an verschiedenen Universitäten. Eine solche Verbindung aus Praxis und Wissenschaft ist in Deutschland nicht möglich. Es gibt hierzulande bislang keine Universitätslehrstühle ausschließlich für die Erforschung von Geheimdiensten. Deswegen stammen fast alle wissenschaftlichen Publikationen zu den Geheimdiensten der Welt aus dem angelsächsischen Raum.

Wie es sich für eine wissenschaftliche Publikation gehört, beginnt das Buch mit einer Darstellung seiner Quellen. Ein großer Teil davon kommt aus der Zeit des Kalten Krieges, insbesondere von sowjetischen Überläufern, aber auch von neueren, glorifizierenden Stücken aus den Reihen ehemaliger Geheimdienstler. Da die Phase der Öffnung sowjetischer Archive unter Boris Jelzin nicht lange währte und mit Putin die Dienste ein Revival erlebten, bleibt es weiterhin schwierig, das Treiben der postsowjetischen „Tschekisten“ nachzuvollziehen. Das digitale Zeitalter hilft jedoch enorm, denn selbst die besten Agenten können sich nicht gänzlich technisch abschirmen. Die wichtigste Erkenntnis des Buchs lautet, dass sich das Wesen der russischen Geheimdienste – allen voran der großen drei: FSB, GRU und SWR – seit der Sowjetzeit in Weltbild, Struktur und Vorgehen kaum geändert hat. Seit 1917, dem Gründungsjahr der berüchtigten Außerordentlichen Kommission zur Bekämpfung von Konterrevolution und Spionage – kurz: Tscheka (im Deutschen) –, hat sich an der Kernmission dieser Organisation(en) nichts geändert: „Although in the West we think of Russian intelligence most often as the foreign intelligence arm of the Russian government, the core mission of Russian intelligence and state security, from the Okhrana [der Geheimpolizei des Zaren] to today, is to neutralize threats to the Russian regime itself“ (S. 29). Die russischen Geheimdienste sind also nicht nur bloße Nachrichtendienste, sondern zugleich repressive Sicherheitsapparate mit vielfältigen Aufgaben und Kompetenzen. Die Hauptgründe liegen in den personellen Kontinuitäten an der Spitze der Dienste und in der Selbsterhaltung eines besonderen Selbst- und Weltbilds – des sogenannten chekist mindset (S. 53). Innerhalb dieses tschekistischen Weltbilds – wie es in Ostdeutschland auch die Angehörigen der Stasi verinnerlicht hatten – existieren klare Vorstellungen von Freunden und Feinden, aber auch flexible Kategorien. „The chekist mindset is defined by constantly perceiving threats and seeking ways to mitigate them. Threats might come from within Russia. The Russian people are potential sources of unrest that could challenge the Russian leadership“ (ebd.). Die Vorstellung der permanenten Bedrohung und Unterwanderung ist so tief verwurzelt, dass sie bis heute das Denken und Handeln der Staatsspitze leitet.

Genährt durch popkulturelle Narrative, Filme und neuere patriotische Literatur ist die Figur des Geheimagenten in Putins Russland wieder en vouge. Allerdings ist auch hier Skepsis angebracht. Denn das von der Regierung glorifizierte und repressiv verordnete Bild der russischen Sicherheitsangehörigen muss noch längst nicht mit den Einstellungen der russischen Bevölkerung übereinstimmen. In repressiven Autokratien ist es schwierig festzustellen, was Zwang, Hinnahme oder Überzeugung ist. Was hingegen bekannt ist, sind die gedanklichen Eckpfeiler der tschekistischen Außen- und Sicherheitspolitik Russlands. Zu diesen zählen der Kampf um geopolitische Einflusssphären (als Nachfolger des einstigen Wettstreits der Ideologien), die Wiederher- und Sicherstellung der russischen Eigenstaatlichkeit, das Verhindern der Schwäche der russischen Verteidigungskapazitäten und – und das mag überraschen – der freie Zugang zu den Märkten anderer Länder (S. 55–56). Letzteres ist nicht nur in ökonomischer Hinsicht existenziell, sondern ein wichtiges Einfallstor für Operationen zur Beeinflussung ausländischer Gesellschaften im Interesse Moskaus.

Die Liste der Geheimdienstaktivitäten im Ausland ist mittlerweile lang und blutig – sie reicht von Cyberattacken und Desinformationskampagnen bis zu Giftmordanschlägen und gezielten Tötungen. Hiervon ist vieles durch öffentliche Berichterstattung bekannt. Es sind die weniger bekannten Zahlen und Fakten, die zu den Stärken des Buchs zählen. So etwa ist der Vergleich der Personalzahlen in den russischen Sicherheits- und Geheimdiensten zu Sowjetzeiten und heute aufschlussreich: „Combining all of the agencies that have a security function in Russia, there are more security personnel per capita in Russia today than there were during the Soviet era. In 1991, there were approximately 490,000 KGB personnel in a country of 291 million people, which calculates as one state security employee for every 593 citizens. More recently, the FSB, SVR, and FSO combined have approximately 350,000 personnel in a country of 141 million, which calculates to one for every 402 citizens“ (S. 73). Quantitativ ist Russland unter Putin also zu einem noch größeren Geheimdienststaat mutiert. Und die technologischen Möglichkeiten des Internets tragen dazu bei, das Land auch in der digitalen Sphäre stärker abzuschotten und flächendeckend zu überwachen.

Allerdings ist Masse nicht gleich Qualität. Darauf verweist auch Riehle am Beispiel der russischen Cyberoperation gegen das Computernetzwerk der US-Demokraten: „When Russian intelligence organizations conducted computer intrusions into the Democratic National Committee in the United States in 2016, both the GRU and probably the FSB ran parallel, uncoordinated operations in the same servers, apparently unaware of each other’s operations“ (S. 75). Überhaupt zeichneten sich die russischen Geheimdienste in jüngster Zeit durch ein zunehmend aggressives Vorgehen aus, das die Frage aufwirft, ob es tatsächlich gewollt (Einschüchterung) oder Ergebnis unprofessioneller Vorbereitung und dilettantischer Durchführung ist. Für Letzteres spricht, dass auch Russland schwer mit der demografischen Entwicklung zu kämpfen hat. Es gibt immer weniger junge Männer mit besonderen, für Sicherheitsdienste interessanten Fähigkeiten. Und wer Sprach- oder Techniktalent mitbringt, wird in der Wirtschaft besser entlohnt. Die Zahlen und Verpflichtungen, die mit dem Beruf eines Mitarbeiters in den russischen Geheimdiensten einhergehen, sprechen für sich – daher: Augen auf bei der Berufswahl! „Security Service worker’s travel is restricted: they can only take vacations within the borders of the Russian Federation and cannot leave the country for ten years after they leave the service. Their salaries are not high – 35,000 to 80,000 rubles ($400–1,000) per month – making it difficult for some officers to meet economic needs. Rank-and-file workers live in normal, rundown Russian housing, while senior leaders enjoy huge riches. With reportedly little comradeship, mistrust is rife among staff“ (S. 266).

Für was und wen opfert der einfache russische Tschekist dann das (Berufs-)Leben? Für Mütterchen Russland? Für den Großmachtstatus? Für den Zaren? All dies sind Fragen, die sich wohl erst in einem Russland nach Putin mit mehr gesellschaftlicher Freiheit beantworten lassen. Bis dahin bietet Riehles Buch eine solide und lesenswerte Handreichung zum Thema Ziele, Mittel, Erfolge und Schwächen von FSB und Co. Es trägt damit auf sachliche Weise zur Entmythologisierung der russischen Dienste bei und zeigt, dass die Moskauer Schlapphüte – selbst bei weit mehr Ressourcen und Kompetenzen – am Ende des Tages auch nur mit Wasser kochen. Hervorzuheben sind die gelungenen Abbildungen und Tabellen etwa zur institutionellen Genese der Dienste seit 1917 (S. 36, 59) und zu den diversen Geheimdienstoperationen in Kapitel 4 (Political Intelligence Collection). Zwei kleine kritische Punkte zum Schluss: Das Cover, das einen Schlapphutträger im Halbdunkel mit KGB-Medaille auf der Brust zeigt, hätte origineller sein können. Es bedient die alten Bildklischees. Der Nachfolgeband dürfte gern aktueller gestaltet sein – aber bitte nicht mit dem Hacker mit Hoodie! Auch das ist längst ein realitätsferner Topos. Ärgerlich ist etwas anderes: die Klebebindung des Buches ist schlecht gemacht. Wenn sich während des Lesens mehrfach Seiten lockern und herausfallen, trägt das nicht zur Kundenbindung bei. Glücklicherweise kann der genervte Leser auch das E-Book nutzen, das frei im Internet zugänglich ist.

Online erschienen: 2024-03-05
Erschienen im Druck: 2024-03-01

© 2024 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von De Gruyter.

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz.

Artikel in diesem Heft

  1. Titelseiten
  2. Editorial
  3. Editorial
  4. Aufsätze
  5. Schwäche ist tödlich – Warum Putin die Ukraine angegriffen hat und wie der Krieg beendet werden muss
  6. Wie man Russland schlagen kann – Lektionen aus dem Verteidigungskrieg der Ukrainer
  7. Eine fragmentierte Rüstungsindustrie – Europas strategischer Nachteil
  8. Kurzanalysen
  9. Die nasse Flanke des Russland-Ukraine-Kriegs – Lektionen für die moderne Seekriegsführung und die Marine
  10. Weltraumkapazitäten im Ukraine Krieg
  11. Die Kalaschnikows der Lüfte – Drohnenkriegsführung im Ukraine-Krieg
  12. Konnte man den Krieg Russlands gegen die Ukraine vorhersehen?
  13. Kommentar
  14. Kriege verhindern – Kriege führen – Kriege beenden: Zehn Lektionen aus drei aktuellen Kriegen
  15. Interview
  16. Was wissen wir über die Anschläge auf die Nord Stream-Pipelines vom September 2022?
  17. Ergebnisse internationaler strategischer Studien
  18. Politisch-strategische Lehren aus dem Ukraine Krieg
  19. Alina Polyakova/Edward Lucas/Mathieu Boulègue/Catherine Sendak/Scott Kindsvater/Ivanna Kuz/Sasha Stone: A New Vision for the Transatlantic Alliance: The Future of European Security, the United States, and the World Order after Russia’s War in Ukraine. Brüssel: Center for European Policy Analyses, November 2023
  20. Anthony H. Cordesman: The Lasting Strategic Impact of the War in the Ukraine. Washington, D.C.: Center for Strategic and International Studies, Juli 2023
  21. Militärische Lehren aus dem Ukraine-Krieg
  22. Katie Crombe/John A. Nagl: A Call to Action – Lessons from Ukraine for the Future Force, Parameters,53, no. 3 (2023), S. 19–28
  23. Marta Kepe: Logistics and Sustainment in the Russian Armed Forces. Santa Monica: Cal.: The RAND Corporation (Research Report), November 2023
  24. Mason Clark/Karolina Hird: Russian Regular Ground Forces Order of Battle. Washington, D.C.: Institute for the Study of War 2023
  25. William Alberque/Douglas Barrie/Zuzanna Gwadera/Timothy Wright: Russia’s War in Ukraine: Ballistic and Cruise Trajectories. London: International Institute for Strategic Studies, Oktober 2023
  26. Jack Watling/Nick Reynolds: Stormbreak – Fighting Through Russian Defences in Ukraine’s 2023 Offensive. London: Royal United Services Institute, September 2023
  27. J. Matthew McInnis: Russia and China look at the Future of War. Washington, D.C.: Institute for the Study of War, September 2023
  28. Andrew Metrick: Rolling the Iron Dice. The Increasing Chance of Conflict Protraction. Washington, D.C.: Center for a New American Security (CNAS) 2023
  29. Lehren aus dem Ukrainekrieg im Bereich Informationskriegsführung
  30. Nika Aleksejeva: Narrative Warfare. How the Kremlin and Russian News Outlets Justified a War of Aggression against Ukraine. Washington, D.C.: The Atlantic Council (Digital Forensic Research Lab – DFRLab), Februar 2023
  31. Denis Volkov/Andrei Kolesnikov: Alternate Reality: How Russian Society Learned to Stop Worrying About the War. Washington, D.C. Carnegie Endowment, November 2023
  32. Russland und die Auswirkungen von Sanktionen
  33. Alexandra Prokopenko: Permanent Crisis Mode – Why Russia’s Economy has been so resilient against Sanctions. Berlin: Zentrum für Osteuropa und Internationale Studien, November 2023
  34. Buchbesprechungen
  35. Herfried Münkler: Welt in Aufruhr – Die Ordnung der Mächte im 21. Jahrhundert. Berlin: Rowohlt Verlag 2023, 527 Seiten
  36. Kevin P. Riehle: Russian Intelligence. A Case-based Study of Russian Services and Missions Past and Present. Bethesda, MD.: United States Government National Intelligence Press 2022, 368 Seiten
  37. Nachruf
  38. Helga Haftendorn 1933–2023
  39. Bildnachweise
Heruntergeladen am 19.9.2025 von https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/sirius-2024-1024/html
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