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Kriege verhindern – Kriege führen – Kriege beenden: Zehn Lektionen aus drei aktuellen Kriegen

  • Rudolf G. Adam

    Publizist, München, war von 1976 bis 2014 im diplomatischen Dienst und war u. a. Vizepräsident des BND und Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik

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Published/Copyright: March 5, 2024

1 Das Ziel jedes Krieges ist Frieden

Kriege werden nicht um ihrer selbst willen geführt. Jeder Krieg zielt auf eine neue Friedensordnung; Tod und Zerstörung sind Mittel zu strategischen Zwecken. Als zeitlich begrenzter Gewaltakt muss jeder Krieg über sich selbst hinausweisen auf einen neuen, in sich stabilen Zustand. Krieg muss sich selbst überwinden. Er ist die Fortsetzung von Politik mit anderen Mitteln.[1] Gerade deshalb muss er in die gewaltfreien Bahnen der Politik zurückführen. Die andere klassische Formulierung von Clausewitz, wonach Krieg ein Akt der Gewalt ist, um den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen[2], bedarf der Ergänzung. Ebenso entscheidend ist es, dem Gegner die Erfüllung seines Willens zu verwehren.

Krieg sollte zu einem Zustand überleiten, in dem beide Seiten eine stabile Koexistenz finden. Krieg kann dazu dienen, den Gegner zu vernichten; er kann dazu führen, den Gegner dauerhaft zu schwächen und ihm die Fähigkeit, wenn schon nicht den Willen, zur Aggression zu nehmen. Das beste Ergebnis besteht jedoch darin, den Feind von gestern zum Freund von morgen zu machen. Das hat Clausewitz übersehen. Für ihn steht im Vordergrund, den Feind zu entwaffnen, d. h. ihm die Fähigkeit zu Feindseligkeiten zu nehmen. Viel wichtiger ist es allerdings, seinen Willen so zu beeinflussen, dass er seine feindseligen Absichten ändert. Das ist den USA 1945 vorbildlich gelungen. Russland hat dies bis heute nicht verstanden.

Krieg ist ein Kräftemessen zwischen unvereinbaren Wertesystemen: Eine Seite hält für gerecht, was die Gegenseite für ungerecht hält; eine Seite beansprucht, was die andere unter keinen Umständen hergeben will. Wo es keine verbindlichen Kriterien für Gerechtigkeit gibt, bleibt Gewalt der einzige Weg, eine Entscheidung zu finden. „Frieden ist die Frucht der Gerechtigkeit“ weiß schon die Bibel.[3] Aber sie sagt nicht, was Gerechtigkeit ist.

Beliebte Floskeln wie „es kann keine militärische Lösung geben“ oder „die Stärke des Rechts muss das Recht des Stärkeren ersetzen“ gehen am Kern der Sache vorbei: Die heutige Staatenwelt ist das Ergebnis von Kriegen der Vergangenheit. Ohne den Dreißigjährigen Krieg kein Westfälischer Friede und die mit ihm in die Welt gekommenen Grundsätze des Völkerrechts. Und ohne den Zweiten Weltkrieg hätte es nicht die heutige, weitgehend regelbasierte internationale Ordnung gegeben. Derzeit versuchen einige, diese durch Krieg umzuschreiben.

Aserbaidschan hat die territoriale Zugehörigkeit Nagorno Karabachs militärisch entschieden (so wie Armenien es vor dreißig Jahren militärisch für sich gewonnen hatte). Russland wäre vermutlich mit der Einverleibung der Krim ungeschoren davongekommen (ebenso wie mit der Schaffung der Satrapenstaaten Transnistrien, Abchasien und Südossetien), hätte es nicht 2022 den Krieg um die Existenz der Ukraine entfesselt. Mit den ultimativ vorgebrachten Entwürfen für Verträge mit den USA und der NATO vom 17. Dezember 2021 hat Russland überdeutlich gemacht, dass es ihm nicht um die Ukraine geht, sondern um ein neues völkerrechtliches Regelwerk.

Ohne die Zwangsinstrumente des staatlichen Monopols legitimer Gewalt ist es mit der Stärke des Rechts nicht weit her. Ohne Polizei und ohne Gerichtsvollzieher bleiben Gesetze ein Fetzen Papier und Gerichtsurteile leere Worte. Im zwischenstaatlichen Bereich gibt es kein Gewaltmonopol. Somit hat Völkerrecht keine Stärke aus sich heraus. Es bedarf eines Staates, der seine nationalen Machtmittel in dessen Dienst stellt oder einer Gruppe von gleichgesinnten Staaten. Systeme kollektiver Sicherheit sind idealistische Träumereien geblieben. Jeder souveräne Staat ist Kläger, Richter und Polizist zugleich.

Multipolarität stellt nicht nur die traditionelle Vormachtstellung der USA in Frage. Sie zielt darauf, die unter ihrer Ägide aufgebaute internationale Ordnung zu untergraben. Wer Multipolarität fordert, beansprucht ein eigenständiges Machtzentrum, um seine eigenen Ordnungsvorstellungen mit Gewalt durchzusetzen. Für ihn ist Recht, was dem Staat (bzw. dessen Lenkern) nützt. Recht und Justiz sollen demzufolge staatliche Machtfülle nicht einhegen, sondern steigern. Wenn Russland und China von Multipolarität sprechen, meinen sie damit das Recht, Nachbarstaaten zu unterwerfen, ohne dass die Garantiemacht der alten Ordnung, die USA, dagegen einschreitet.

2 Kriege werden in den Köpfen entschieden

Der Nachkriegszustand hängt von Zufallsfaktoren und einer unkontrollierbaren Eigendynamik ab. Darum ist ein strategischer Kompass wichtig. Diese Einsicht droht in der aufgeregten Empörung über die jeweils neuesten Gräueltaten verloren zu gehen. Der Ruf, „das sinnlose Töten sofort zu beenden“, ist ebenso sinnlos wie das, was er anprangert.

Das Entscheidende für die Beendigung eines Kriegs sind nicht Opfer oder Zerstörungen, sondern die Bedingungen, auf denen ein neuer Friedenszustand aufbauen kann. Es kommt nicht darauf an, die Kämpfe so schnell wie möglich zu beenden, sondern zu dauerhaften Bedingungen. Wer hätte 1943 gewagt zu fordern, „das sinnlose Blutvergießen sofort zu beenden“, ohne zuvor die Macht der Nationalsozialisten zu brechen? Die Trennung zwischen „unschuldigen Zivilisten“ und „feindlichen Heeren“ machte im Zeitalter absolutistischer Kabinettskriege Sinn, wo Untertanen bewaffnete Marionetten in den Händen ihrer jeweiligen Potentaten waren. In Demokratien wird es schwieriger, zwischen Regierung und Regierten zu unterscheiden. Jede demokratisch gewählte Regierung weiß mehr als die Hälfte des Volkes hinter sich, und das gilt auch für autoritäre Systeme. Sind diejenigen, die eine solche Regierung gewählt haben oder unterstützen, „unschuldig“ oder nicht? Ebenso wie Regierungen für ihre Völker, so sind Völker für ihre Regierungen verantwortlich.

Putin weiß 70 Prozent der Bevölkerung Russland hinter sich. Hamas erhielt 2006 nach dem Rückzug Israels bei den Wahlen, die auf massiven westlichen Druck hin stattfanden und bislang die letzten geblieben sind, den größten Stimmenanteil (44 Prozent) und die absolute Mehrheit der Sitze. Und das, obwohl Hamas in Wort und Tat keinen Zweifel an den eigenen Zielen gelassen hatte: Israel auslöschen, Juden ausrotten, ein fundamentalistisches Kalifat errichten.

Wer sich vorschnell auf Formelkompromisse einlässt, bereitet den Weg für den nächsten, noch horrenderen, blutigeren Waffengang. Wenn es nicht gelingt, auf beiden Seiten ein Umdenken zu erzielen und Vorurteile aufzubrechen, entsteht auf den Gräbern der Getöteten nur eine noch verbittertere, kampfbegierigere neue Generation.

Kriege werden nicht auf dem Schlachtfeld, sondern in den Köpfen entschieden. Sie enden, wenn der Wille zur Fortsetzung des Kriegs schwindet. Die Bereitschaft, über einen neuen Frieden zu verhandeln, entspringt schmerzhafter Einsicht und einer selbstkritischen Revision eigenen Wunschdenkens. Erst wenn der Drang nach Revanche und Rache erstirbt, ist der Friede gefestigt. Das aber setzt die Akzeptanz neuer Machtverhältnisse, die Legitimierung neuer geopolitischer Fakten, vor allem aber eine Einigung über künftige Spielregeln im Umgang miteinander voraus.

Jeder Krieg testet kollektiv Entschlossenheit, Opferbereitschaft, Mobilisierungsfähigkeit und das Produktionspotenzial der Gegner. Das macht Krieg für eine individualistisch-liberale Gesellschaft so unerträglich. Im Krieg ist persönliche Schuld irrelevant. Krieg fasst eine Nation als handelnde politische Einheit zusammen. An der Front wird nicht gefragt, ob der gegnerische Soldat für oder gegen die Kriegsregierung gestimmt hat. Im Artilleriefeuer und im Drohnenschwarm ist es unmöglich, „Unschuldige“ von „Schuldigen“ zu trennen.

3 Die Illusion von Sieg und Niederlage

Traditionelle Begriffe wie „Sieg“ und „Niederlage“ verlieren ihre Bedeutung. Kriege enden nicht mehr in triumphalen Siegesparaden oder bedingungslosen Kapitulationen. Meist enden sie in einer prekären Balance zwischen weiterhin widerstreitenden Interessen. Umso entscheidender wird sein, welche Rechtsprinzipien diese fortbestehenden Divergenzen einhegen. Man kann einen Krieg militärisch gewinnen, ihn aber politisch verlieren. Die höchste Kunst der Diplomatie zeigt sich darin, Kriege zu vermeiden und, sind diese erst einmal ausgebrochen, in einen stabilen Friedenszustand überzuleiten. Das ist 1990/91 bei der Auflösung des sowjetischen Imperiums zunächst gelungen. Wenige Jahre später ist beides bei der Auflösung Jugoslawiens gescheitert.

Kriege verlaufen häufig anders, als der Aggressor es sich vorstellt. Clausewitz spricht vom Nebel der Ungewissheit.[4] Diese Ungewissheit bezieht sich nicht nur auf das Gefechtsfeld, das schnell unübersichtlich wird. Sie versperrt mit ihren kurzfristigen taktisch-operativen Anforderungen den strategischen Blick darauf, was nach dem Krieg werden soll. Kriege machen, wie Roulette, süchtig, und je länger sie sich hinziehen, desto schwieriger wird es, sie zu beenden. Jeder Staat zieht siegesgewiss in den Krieg, weiß aber nie, wie er ausgehen wird. Und je höher die Opfer, die er im Krieg erbringt, umso höher seine Erwartungen an einen Kriegsgewinn. Sicher ist, dass eine Seite, oft sogar beide, geschunden und geschwächt zurückkehrt. Napoleons Schwäche lag darin, dass er zu wenig über den militärischen Sieg hinaus dachte. Ihm gelang es nicht, für eroberte Gebiete eine Friedensordnung zu finden, die von den dort Lebenden als legitim und erträglich hingenommen werden konnte – eine Lektion, die Russland noch lernen muss.

Und niemand ist bereit, für eine verlorene Sache zu kämpfen. Die meisten Menschen, vor allem Politiker, sind von den eigenen Fähigkeiten und vom Glauben ans eigene Geschick so überzeugt, dass sie Skepsis oder realistische Selbsteinschätzung verdrängen. Völker sind leichter in einen Siegestaumel zu versetzen als vor einer Niederlage zu warnen. Viel zu viele Deutsche haben noch bis Ende 1944 an den „Endsieg“ geglaubt und Hitlers Befehle befolgt.

Soldaten oder Terroristen geben eine Sache nicht auf, weil der Erfolg ausbleibt, sondern weil sie den Glauben an ihre Anführer und die ihnen gepredigten Ziele verlieren. Es kommt im Krieg weniger darauf an zu siegen, als darauf, den gegnerischen Willen, ihn fortzusetzen, zu zermürben. Eines der wichtigsten strategischen Ziele in der Ukraine wie auch in Nahost besteht darin, Russen und Palästinenser dazu zu bewegen, sich von ihren heutigen Führern abzuwenden: Russland braucht eine De-Putinisierung, die Palästinenser brauchen eine Ent-Hamasierung. Israel muss seinerseits einen Weg finden, die fundamentalistischen Siedler zu zügeln. Wenn aus Jerusalem radikale Forderungen zu hören sind, die Bevölkerung Gazas zu vernichten und Atombomben einzusetzen, oder wenn Siedler auf der Westbank im Windschatten des Gazakriegs Palästinenser töten und sich deren Land aneignen, kann das die Suche nach einem Frieden nur erschweren.

Die Charta der UNO verbietet Angriffskriege. Sie definiert aber nicht, was ein Angriff ist. Das ist unter modernen Bedingungen umso misslicher, als die Cyberdimension, Terroranschläge, die Verbreitung propagandistischer Hassbotschaften und die Verwundbarkeit extraterritorialer Kommunikations- und Überwachungsnetze völlig neue Optionen eröffnen, einen Gegner zu schädigen, ohne dass ein Schuss fällt oder ein Panzer rollt.

4 Jenseits von Abschreckung

Um Kriege zu vermeiden, setzt die Staatengemeinschaft seit 1945 auf Abschreckung. Abschreckung beinhaltet jedoch zwei unauflösbare Dilemmas.

Erstens kann Abschreckung versagen: Putin wusste, dass er den ganzen Westen gegen sich haben würde, als er unprovoziert den Krieg gegen die Ukraine vom Zaun brach. Er hofft immer noch, durch Zeitablauf und Abnutzung die Unterstützung des Westens für die Ukraine langsam ausdörren zu können. Die wiederholten Androhungen eines Nukleareinsatzes zielen auf westliche Eskalationsängste. Sie sollen den Verteidigungswillen westlicher Staaten lähmen und die Risikoprämie für die militärische Unterstützung der Ukraine erhöhen. Putin glaubt, die Unterstützer der Ukraine so verunsichern zu können. Wenn sein Amtsvorgänger Medwedew zur Vernichtung der Ukraine aufruft, mal Polen einen Teil dieser Beute anbietet, dann wieder mit „dem Tod der polnischen Staatlichkeit in ihrer Gesamtheit“ droht,[5] zeigt dies, wie weit wir derzeit von einer Basis für Verhandlungen entfernt sind.

Noch eklatanter hat Abschreckung beim Terrorüberfall der Hamas vom 7. Oktober 2023 versagt. Gaza hat keine strategische Tiefe und keine Luftabwehr. Es ist für seine Energie, für Lebensmittel und Medikamente auf Israel angewiesen. Hamas kann nur Terror gegen Israelis ausweiten. Der Angriff der Hamas war mit Abschreckungslogik unvereinbar. Dennoch ist er erfolgt. Die Frage nach dem Weshalb ist deshalb so wichtig, weil von ihr abhängt, wie belastbar die Abschreckungstheorie eigentlich ist. Drei Kalküle scheinen den Ausschlag gegeben zu haben:

  • Man wollte die allmähliche Annäherung Israels an sein arabisches Umfeld torpedieren.

  • Israel sollte vor den Augen der Weltöffentlichkeit an den Pranger gestellt werden. Israelische Grausamkeiten sollten die bestialische Brutalität des eigenen Vorgehens in Vergessenheit geraten lassen.

  • Die arabische Welt sollte im Kampf gegen den „kolonialen Eindringling“ geeint werden, der Iran mehr Einfluss in der islamischen Welt gewinnen.

Israels Sicherheit wurde dadurch gefährdet, dass man in Jerusalem zu selbstsicher glaubte, Hamas unter Kontrolle zu haben. Warnungen schlug man in den Wind und unterstellte dem Gegner das eigene rationale Risikokalkül. In ähnlicher Weise haben die meisten Politiker und Experten Putins Willen zum Krieg unterschätzt.

Zweitens gibt es die Crux der Selbstabschreckung: Wer abschrecken will, darf sich nicht selbst abschrecken. Eigene Verwundbarkeiten zu minimieren ist wichtiger als offensive Fähigkeiten zu maximieren. Längst sind die Bilder des Kriegsverlaufs politisch mindestens ebenso bestimmend wie die militärische Lage. Kriege produzieren Bilder, Bilder schaffen Emotionen, Emotionen führen zu Protesten oder Solidaritätsbekundungen und beeinflussen die Positionierung von Regierungen. Man schreckt vor einschneidenden Militäroperationen zurück, weil man fürchtet, Bilder zu produzieren, die Verbündete abtrünnig werden lassen und den Gegner politisch und moralisch stärken könnten.

Selbstabschreckung wirkt noch stärker, wenn ein Staat Vergeltung für einen Angriff üben soll, der nicht ihm selbst, sondern einem Verbündeten gilt (erweiterte Abschreckung). Er müsste, um der Bedrohung eines entfernten Dritten entgegenzutreten, das eigene Territorium und die eigenen Bürger einem Gegenschlag aussetzen. Darin besteht das Dilemma der USA, die mittlerweile nicht nur in der Ukraine und auf europäischem NATO-Territorium, sondern auch im Pazifik und in Nahost militärisch gefordert sind, und zwar durch die zwei nächststärksten Nuklearmächte und eine fanatische Theokratie, die weite Teile der arabischen Straße zu mobilisieren versteht. Einen großen Krieg auf drei Kontinenten zu führen würde die Fähigkeiten der USA überfordern. Wie ein US-Präsident auf den Einsatz einer Nuklearwaffe reagieren würde, ist schwer abzuschätzen, vor allem wenn er als schwacher Präsident einem isolationistischen Kongress gegenübersteht und eine Wiederwahl anstrebt. Die eigenen Bürger in einen Atomkrieg zu stürzen ist keine gute Empfehlung im Wahlkampf.

Dieses Dilemma könnte sich dadurch lösen lassen, dass derjenige Staat, der anderen eine nukleare Abschreckung zusagt, sich mit defensiven Mitteln vor einem Gegenschlag sichern kann. Es ginge darum, dem Gegner den verheerenden Zweitschlag zu verwehren. Bislang galt dies als technisch nicht machbar und die gegenseitig gesicherte Zweitschlagsfähigkeit (das Konzept gesicherter gegenseitiger Vernichtung – MAD) gilt immer noch als stabilisierend. Aber moderne Raketen- und Luftabwehrsysteme sowie eine zuverlässige Abschirmung sensitiver elektronischer Datennetze eröffnen in absehbarer Zukunft neue Optionen wirksamer Abwehr. Die USA bauen – wenngleich noch im kleinen Maßstab – eine globale Raketenabwehr auf, Israel hat mit dem Iron Dome ein leistungsfähiges Abwehrsystem installiert, in der Ukraine zeigt sich tagtäglich, wie stark ukrainische Abwehrfähigkeiten russische Luft- und Raketenangriffe behindern. Nur unter einem solchen Schutzschirm der Heimat ist auf Dauer eine glaubhafte erweiterte Abschreckung vorstellbar.

Abschreckung beruht auf der Drohung mit einem Gegenangriff, der inakzeptablen Schaden anrichten könnte. Es ist jedoch unmöglich, zuverlässig zu bestimmen, welchen Schaden der angreifende Gegner für inakzeptabel hält und wie hoch er die Wahrscheinlichkeit einschätzt, tatsächlich Opfer eines solchen Gegenanschlags zu werden. Das Schadenskalkül des Gegners lässt sich nur schwer nachvollziehen, seine Opferbereitschaft kann wesentlich höher sein als die eigene. Das macht die Bestimmung dessen, was für ihn inakzeptabel ist, so schwierig. Russland und die Hamas haben eine völlig andere Bereitschaft gezeigt, für strategische Ziele Opfer hinzunehmen. Eine Abschreckung, die dem Gegner inakzeptable Vernichtung androht, ohne sich vor einer ebenso inakzeptablen Verwundbarkeit zu schützen, bleibt gefährliche Selbsttäuschung.

5 In der globalisierten Welt werden viele Kriege zu „Weltkriegen“

Im Krieg geht es um Deutungshoheit, um Narrative und moralische Positionierungen. Jeder Krieg beansprucht, „gerecht“ zu sein, und zwingt zur Stellungnahme. Heute ist es immer weniger möglich, wie seinerzeit Goethe davon zu reden, dass „hinten, fern in der Türkei, die Völker aufeinanderschlagen.“ Die globale Verbreitung von Bildern und Nachrichten sorgt dafür, dass die Welt an fast jedem Krieg teilnimmt – diplomatisch, mit materieller oder finanzieller Unterstützung, mit Abstimmungen in den Vereinten Nationen oder mit Solidaritäts- oder Protestbekundungen. Dass ein Krieg Massen mobilisieren kann, hat sich zum ersten Mal während des Vietnamkriegs gezeigt. Derartige Kriege haben eine enorme polarisierende Wirkung. In der Nahostresolution der VN-Generalversammlung vom 27.10.2023 hat sich die EU auseinanderdividieren lassen (Frankreich, Belgien, Spanien, Slowenien, Portugal, Malta und Luxemburg stimmten dafür, Österreich, Kroatien, Ungarn, Tschechien dagegen, die übrigen enthielten sich). Frankreich verurteilte das Vorgehen Israels scharf, Deutschland erklärte Israels Sicherheit zur „Staatsräson.“ Die Türkei zeigt offen Sympathie für Hamas, Ungarn für Russland. Das Verhältnis Israels zu den USA ist belastet und wird mit jedem Kriegstag weiter belastet. Darin zeigt sich die polarisierende Wirkung jedes Kriegs auf die Weltöffentlichkeit

6 Die Trennung zwischen Kombattanten und Zivilisten verwischt zusehends

Wenn das Kampfgeschehen urbane Räume erreicht, lassen sich Zivilisten und zivile Infrastruktur immer weniger schonen. Ein Blick auf die Ruinen von Marjinka, Awdijiwka, Bachmut oder Wuhledar, aber auch auf die weitflächigen Zerstörungen besiedelter Gebiete in Gaza legt davon trauriges Zeugnis ab. Anhaltende Bilder menschlichen Elends stoßen ab, Bilder eines einmaligen Massakers hingegen verblassen schnell. Das begründet eine Asymmetrie zwischen Kriegsparteien, wenn die eine auf wiederholte punktuelle Nadelstiche setzt (Guerilla, Terror) und die andere dadurch gezwungen ist, nachhaltig massive Gewalt einzusetzen.

Der humanitäre Imperativ, Zivilbevölkerung, Kranke und Verwundete, Kinder und Frauen zu verschonen, war im klassischen Landkrieg mit seinen auf den Frontverlauf beschränkten Operationen möglich. Der Luftkrieg erlaubt es jedoch, den Krieg weit ins Hinterland hineinzutragen. Selbst präziseste Luftschläge können massive Kollateralschäden nicht vermeiden. Im Häuserkampf wird das noch schwieriger. Völlig unmöglich wird die Differenzierung zwischen Kombattanten und Zivilisten im Krieg gegen eine Guerilla, die sich nach Mao „in der Zivilgesellschaft wie der Fisch im Wasser bewegt“, gegen eine Terrorgruppe oder wenn der Gegner geschützte Objekte missbraucht, um darunter strategische Einrichtungen zu verbergen. Für jeden, der in solch einem Umfeld zu kämpfen hat, wird es eine unerträgliche Herausforderung zu entscheiden, welche Ziele legitim angegriffen werden dürfen und wie die Güterabwägung zwischen dem Schutz von Zivilisten und der Zerstörung militärischer Ziele zu erfolgen hat. Wer Zivilisten als Schutzschilde bzw. Geiseln nutzt oder seinen Gefechtsstand in einem Krankenhaus verschanzt, stellt seinen Gegner vor ein unlösbares Dilemma: Entweder beachtet dieser die traditionellen Regeln der Kriegsführung, versucht, Kollateralschäden so weit wie möglich zu vermeiden, und riskiert damit, die Ausschaltung des vielleicht wichtigsten Ziels zu versäumen. Oder aber er kümmert sich nicht um zivile Opfer, bis er das militärische Ziel zerstört hat, und nimmt dafür entsetzliche Bilder von Elend, Qual und Zerstörung in Kauf.

Im Krieg wird der Mensch zum Mittel, seine Würde wird antastbar. Im Krieg geht es nicht mehr darum, jedes Menschenleben, sondern primär das der eigenen Staatsbürger zu schützen und auf die Menschen der Gegenseite so einzuwirken, dass sie sich von ihrer Regierung abwenden.

In Gesellschaften, in denen die Bevölkerung auf demokratischem Weg Druck auf die eigene Regierung ausüben kann, geraten zivile Ziele kalkuliert ins Visier, um in der Bevölkerung Resignation und Unterwerfungswilligkeit zu schüren, was zunehmenden Druck auf die Regierung auslösen und deren Bereitschaft steigern soll, den Kampf aufzugeben. Um einen Krieg zu führen, braucht es zwar Streitkräfte und Waffen, vor allem aber Kampfmoral und Kampfwillen. Wer gegen Streitkräfte und Waffen keine Erfolge erzielen kann, verlegt sich umso stärker auf psychologische Kriegsführung, die eben diese Moral und diesen Selbstbehauptungswillen untergraben soll. Zivilisten und zivile Infrastruktur werden so vermehrt zu Kriegszielen. Wer die von der feindlichen Regierung kontrollierten Streitkräfte nicht besiegen kann, zielt darauf, den Rückhalt in ihrer Bevölkerung zu unterminieren. Man greift gewissermaßen uneinnehmbare Bollwerke nicht frontal an, sondern untergräbt deren Fundamente, um sie einstürzen zu lassen. So wird der Gegner zermürbt und gibt seinen Widerstandswillen auf.

Der Ukraine-Krieg zeigt eine andere Dimension der Verwischung des Unterschieds zwischen Kombattanten und Zivilisten: Während die Ukraine anstrebt, die Kampfkraft Russlands zu dezimieren, will Russland kritische zivile Infrastruktur treffen und die Zivilbevölkerung verunsichern. Die Erwartung ist, dass der ukrainische Widerstandswille, wenn nicht an der Spitze, so doch an der Basis einbricht.

Ermordete Zivilisten und der Beschuss von Schulen und Krankenhäusern sind dann kein unbeabsichtigter kollateraler Schaden, sondern Teil einer bewussten Strategie. Es ist mittelalterliche Abschreckung: Je ungezügelter die eigene Soldateska wütet, umso größer die Furcht der gegnerischen Bevölkerung, Opfer solcher Exzesse zu werden. Zuverlässiger Zivilschutz, Resilienz und Redundanz lebenswichtiger kritischer Infrastruktur sind Grundvoraussetzung für jeden, der in einem modernen Konflikt bestehen will. Das beinhaltet Luft- und Raketenabwehr, Absicherung der Kommunikations- und Energienetze gegen Cyberattacken und Sabotage sowie eine hinreichende Reserve an medizinischen Versorgungseinrichtungen und technischer Nothilfe. Sonst riskiert man, dass Gewinne an der Front nichts nützen, weil die eigene Bevölkerung die Gefolgschaft verweigert. Und dann könnte sich die Dolchstoßlegende aus dem Ersten Weltkrieg bewahrheiten.

7 Starke Beschützer können einen im Stich lassen

Es ist riskant, die eigene Sicherheit oder das eigene Überleben in die Hände eines mächtigen Beschützers zu legen. Armenien hat sich gegen das überlegene Aserbaidschan nur behaupten können, weil es sich auf Russland verließ. Putin braucht jedoch die Türkei und Aserbaidschan in seinem Konflikt mit der Ukraine und dem Westen dringender als das unbedeutende Armenien. Die russischen Schutztruppen in Nagorno-Karabach haben sich ebenso schmählich verzogen wie die UNO-Blauhelme 1995 aus Srebrenica. Die Ukraine kann sich gegen den Überfall Russlands nur dank massiver Unterstützung durch die USA behaupten. Diese Unterstützung wankt und könnte mit einem neuen Präsidenten ab 2025 vollständig auslaufen. Damit wäre das Schicksal einer unabhängigen Ukraine besiegelt.

Europa lebt seit den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts unter dem nuklearen Schutzschirm der USA. Wenn es Europa ernst ist mit eigener „strategischer Autonomie“ bzw. seinen geopolitischen Ambitionen, sollte es obige Lektion genau studieren. Derzeit taumeln die USA von einer Haushaltskrise zur nächsten, ständig am Rand der Zahlungsunfähigkeit. Der Kongress bietet das Bild dysfunktionaler Selbstlähmung, der Sturz des Vorsitzenden des Repräsentantenhauses Kevin McCarthy und die mühsame Wahl seines Nachfolgers sind Symptome fortschreitenden Verfalls des verfassungsmäßigen Grundkonsenses. Sollte Trump seine zweite Amtszeit im Weißen Haus antreten können, sind massive, schwer zu korrigierende Verwerfungen in der amerikanischen Außenpolitik wahrscheinlich. Die Verfassung könnte weit über ihre Resilienz hinaus verbogen werden, Amerika sich durch interne Konflikte selbst schwächen.

Die Staaten Europas sind gut beraten, eigene militärische Fähigkeiten schnellstens so weit auf- und auszubauen, wie es konventionelle Landesverteidigung erfordert. In den nächsten Jahren dürfte die Bereitschaft der USA, die Kosten für ein globales Sicherheitsengagement zu tragen, weiter abnehmen, vor allem wenn sich der Eindruck verfestigt, dass Verbündete, die ebenso wohlhabend und leistungsfähig sind wie die USA, sicherheitspolitische Trittbrettfahrerei betreiben, um die eigene zivile Wirtschaftskraft (und damit den Wettbewerbsdruck auf die USA) auszubauen.

8 Sanktionen bewirken politisch und militärisch wenig

Wirtschaftssanktionen mögen die Wirtschafts- und Finanzkraft eines sanktionierten Landes beeinträchtigen, allerdings erst mit erheblichen Verzögerungen. Sie zeigen wenig politische oder militärische Auswirkungen. Gazas Ein- und Ausfuhren wurden mit Argusaugen überwacht. Dennoch konnte Hamas Tausende von Raketen, riesige Munitionsvorräte, Gewehre und motorisierte Gleitschirmflieger importieren. Nordkorea ist ähnlich strikt sanktioniert. Diese Sanktionen haben weder Fortschritte an seinem Nuklearprogramm behindert noch die Politik des etablierten Regimes erkennbar verändert. Sie haben dessen Entschlossenheit eher bestärkt, sich gegen alle Widerstände zu behaupten. Iran ist trotz strengster Sanktionen zum wichtigsten Produzenten von Kampfdrohnen aufgestiegen und steht an der Schwelle zur militärischen Nuklearmacht. Er ist in seinen regionalen Ambitionen nicht zurückhaltender, sondern aggressiver geworden. Der Kampf der Hamas wäre ohne iranische Unterstützung nicht möglich.

Russland ist seit 2022 mit einem dichten Netz westlicher Sanktionen überzogen. Aber weder ist seine Wirtschaft in der Weise eingebrochen, wie noch im April 2022 erwartet, noch ist seine Finanzbasis so geschwächt, dass sein politischer Spielraum eingeengt wäre. Die russische Luftfahrt scheint erst allmählich die Folgen der Sanktionen zu spüren. Russland zeigt keinerlei Zurückhaltung bei militärischen Operationen, Kriegszielen und Propaganda. Wenn seine Wirtschaft ins Taumeln gerät, dann eher wegen exorbitanter Ausgaben für Militär und Sicherheitsorgane als wegen westlicher Sanktionen.

Sanktionen sind in einer globalisierten Weltwirtschaft kaum noch durchzusetzen. Die Türkei, Indien, der Iran und China füllen bereitwillig die Lieferlücken, die westliche Sanktionen geschlagen haben, und verhelfen Russland zu Gütern, die es auf direktem Weg nicht einführen kann. Sie stärken so die eigene Wirtschaft. Kasachstans Handelsstatistik weist seit Februar 2022 einen fünfmal so hohen Import von Waschmaschinen und Kühlschränken aus wie im Vorjahr – vermutlich nicht, weil nun jede Jurte mit diesen Segnungen moderner Küchentechnik ausgestattet werden soll. Vielmehr werden diese Importe nach Russland re-exportiert und dort ausgeschlachtet, um die darin verbaute Elektronik für improvisierte Waffensysteme zu verwenden.

Sanktionen sind außenpolitische Symbol- und Ersatzhandlungen, die Entschlossenheit und Unbeugsamkeit signalisieren sollen, faktisch aber wenig ausrichten. Sanktionen sind leicht zu umgehen und haben massive Rückwirkungen auf diejenigen, die sie verhängen. Sie schwächen den Gegner, aber auch einen selbst. Sie vermögen ein Land nicht wirklich von den internationalen Waren- und Geldflüssen abzuschneiden. Drittlandsgeschäfte, falsche Deklarationen, Umladen auf Hoher See oder traditioneller Schmuggel schaffen unübersehbare Kanäle im grauen und schwarzen Markt. Wenn trotz strengster Überwachung immer noch gewaltige Mengen an Drogen nach Nordamerika und Europa gelangen, kann man sich leicht ausmalen, wie sich Wirtschaftssanktionen umgehen lassen. Sanktionen erhöhen letztlich bloß die Preise und fördern organisierte Kriminalität, die meist eng mit dem herrschenden Regime verbunden ist.

Es ist schwer genug, eine Vielzahl von Staaten auf eine einheitliche Sanktionspolitik einzuschwören. Es wird noch viel schwerer, Sanktionen durchzuhalten und eines Tages wieder aufzuheben. Welche Konzessionen muss ein sanktioniertes Land machen, um von Sanktionen befreit zu werden? In den meisten Fällen laufen Sanktionen einfach durch Zeitablauf sang- und klanglos aus. Sanktionen verlieren, je länger sie in Kraft sind, an materieller Wirkung, vertiefen jedoch emotionale Vorurteile. Wer die Wirksamkeit der gegen Russland verhängten Sanktionen abschätzen will, darf nicht vergessen, dass diese auch die Entfremdung der russischen Bevölkerung vom Westen verstärken und so indirekt Putin in die Hände spielen. Sanktionen schaffen neue Feindbilder.

9 Wenn Kriege in den Köpfen entschieden werden, muss man in die Köpfe hineinschauen können

Die laufenden Kämpfe zeigen vor allem eines: Trotz der enormen Fortschritte verschiedener Kriegstechnologien bleiben boots on the ground ein Schlüsselfaktor. Wer ein Gebiet und dessen Bevölkerung kontrollieren will, muss eigene Sicherheitskräfte dorthin bringen. Das zeigt sich an den verbissenen Grabenkämpfen in der Ukraine, das zeigt sich am erbitterten Häuserkampf in Gaza. Wer boots on the ground entsenden will, benötigt gute Landkarten.

Noch wichtiger ist eine zuverlässige Kartographie der gegnerischen Mentalität. Das haben die völlig verfehlten Annahmen offenbart, die den Operationen im Irak und in Afghanistan zugrunde lagen. Von traditionellen lokalen Bräuchen, sozialen Normen, von Clan-Loyalitäten und religiösen Bindungen, vom Einfluss der Prediger und ihrer religiösen Schulen, von Machtstrukturen in patriarchalisch-archaischen Gesellschaften hatten die primär in materieller Effizienz und formalistischen Vorstellungen von Demokratie denkenden Soldaten, Diplomaten und gutwilligen Helfer wenig Ahnung. Gerade dort, wo Aufklärung im Sinn rationaler Wissenschaftlichkeit fehlt, ist zuverlässige nachrichtendienstliche Aufklärung unersetzlich. Nur mit ihr gelingt es, ein realistisches, differenziertes Bild der Motive, Absichten und Ambitionen des Gegners zu gewinnen. Nur so lässt sich ermessen, wie der Gegner einen selbst sieht und einschätzt. Nur so lassen sich Hebel finden, um Mentalität und Denkmuster des Gegners zu beeinflussen. Nur so lässt sich der Imperativ jeder Konfrontation befolgen: Kenne dich selbst und kenne deinen Gegner! Und kenne vor allem, wie der Gegner dich sieht!

Alle drei Kriege haben gezeigt, wie sehr es darauf ankommt, die Absichten des Gegners richtig zu deuten. Darin ist das klassische Handwerk der Nachrichtenbeschaffer (HUMINT) jeglicher technischen Aufklärung (SIGINT; IMINT) überlegen. Israel hat sich gegenüber der Hamas auf Überwachung und Eindämmung durch Zäune und Mauern verlassen.

Putins ominöser Essay vom Juli 2021 wurde als Hirngespinst eines Amateurhistorikers abgetan, obwohl klar war, dass Putin damit mental den Angriff auf die Ukraine vorbereitete. Niemand hat Putin entschieden widersprochen, niemand ist damals diesen „Hirngespinsten“ entschlossen entgegengetreten. Damals hat man die Chance vertan, der russischen Drohung eine entsprechende Gegendrohung entgegenzusetzen. Wie 1982 beim Nachrüstungsbeschluss hätte man den russischen Aufmarsch mit der Stationierung westlicher Verbände auf dem Territorium der Ukraine beantworten und Russland eine beidseitige Null-Lösung anbieten können: Wir ziehen unsere Truppen wieder ab, wenn ihr eure Truppen zurückverlegt. Vielleicht hätte sich dieser Krieg vermeiden lassen. Hätte man Hitlers Judenhass, den er schon 1923 zu Papier gebracht hatte, ernster genommen, hätte sich vielleicht verhindern lassen, dass er ihn in die Tat umsetzte.

Nur Zugang zum persönlichen Umfeld erlaubt es, Gedanken und Absichten des Gegners zu entschlüsseln. Nur wenn wir einen Blick in seinen Kopf werfen können, können wir seine Ambitionen und sein Risikokalkül nachvollziehen. Einer der Hauptfehler der Sicherheitspolitik liegt in der Versuchung, dem Gegner die eigenen Prioritäten zu unterstellen. Wie fatal das sein kann, haben wir erlebt, als al-Qaida am 11. September 2001 in New York zuschlug. Wir haben es am 24. Februar 2022 erlebt, als Putin ohne zwingende Notwendigkeit einen Krieg vom Zaun brach, der leicht in einen Weltkrieg entarten kann. Wir haben es erlebt, als Hamas gegen Israel losschlug, ohne dass erkennbar war, was sich gewinnen ließ. Waren Nordkoreas Überfall auf Südkorea 1950 oder Russlands Invasion Afghanistans rationaler? Letztlich lagen auch den westlichen Interventionen in Afghanistan, im Irak, in Libyen irrationale Annahmen zugrunde.

Abschreckung lässt sich nicht in Zahlen von Waffensystemen bemessen. Abschreckung hängt von Annahmen, Überzeugungen, subjektiven Wahrnehmungen und nicht zuletzt von Emotionen und Machtkalkülen ab: Ein Krieg hat stets zur Folge, dass die Machtposition der Krieg führenden Regierung zunächst gestärkt wird. Im Krieg herrscht der Ausnahmezustand, im Krieg dominieren Befehl und Gehorsam gegenüber freien Debatten, im Krieg kann Kritik als Vaterlandsverrat oder Sabotage denunziert und entsprechend geahndet werden. Krieg erfordert, dem Führer bedingungslos zu folgen, Wahlen stören da nur. Selbst im Vereinigten Königreich, dem Urbild moderner Parlamente, fanden zwischen 1935 und 1945 keine Wahlen statt. In Russland dürfen sie 2024 nur stattfinden, weil der Sieger schon längst feststeht. Die USA haben 1944 nur wählen können, weil der Krieg in Europa und Asien das amerikanische Festland nicht tangierte. Krieg festigt zunächst die Machtposition der Herrschenden.

10 Kriege sollen internationale Spielregeln ändern

Wer Krieg führt, hat meist eine vage Vorstellung von einer wünschenswerten Nachkriegsordnung. Diese ist sein Kriegsziel. Krieg zielt immer weniger darauf, unter bestehenden Regeln Besitz- und Machtverhältnisse zu verschieben, sondern diese Regeln zu verändern. Es geht nicht mehr darum, im traditionellen Spiel zu gewinnen, sondern ein neues Spielbrett aufzustellen.

Die im Westfälischen Frieden verankerte Gleichheit souveräner Staaten gerät in der Ukraine in den Fokus. Russland betrachtet Ukrainer als Heloten, die sich dem Diktat des mächtigen Nachbarn zu fügen haben. Das unterscheidet den Ukraine-Krieg von Kabinettskriegen der Vergangenheit, bei denen die Grundstrukturen damaliger Politik, die Legitimität der herrschenden Dynastien, nicht in Frage gestellt wurden. Dies änderte sich mit den napoleonischen Kriegen. Seitdem werden Kriege zunehmend zu Weltanschauungskriegen, d. h. zu Kämpfen um die Prinzipien der internationalen Rechtsordnung. Russland, Nordkorea, der Iran und die Hamas träumen von einer Welt, in der die Starken sich nehmen, was sie wollen, und die Schwachen dies widerspruchslos dulden. Es war entlarvend, dass Putin in einer seiner ersten Reden zum Ukraine-Krieg eine ordinäre Vergewaltigungsmetapher benutzte.

Wer Vernichtungsphantasien hegt, wie Russland sie gegenüber der Ukraine und Polen geäußert hat, wie sie die Hamas und der Iran gegen Israel wiederholen, mit dem ist keine Verständigung möglich. Wer umgekehrt seine eigene Sicherheit darin sucht, fremdes Land zu besetzen und dessen Bevölkerung rechtlos zu halten, darf sich nicht wundern, wenn sich Hass und Verzweiflung ausbreiten. Was jüdische Siedler im Windschatten des Kriegs in Gaza auf der Westbank tun, ist inakzeptabel. Wer einmal in Hebron war, weiß, wie diskriminierend die Präsenz fundamentalistischer israelischer Siedler auf Palästinensergebiet sein kann. Insofern ist jedes „Ja aber“ zur Lage in Nahost moralisch ein Skandal, politisch jedoch Ausdruck einer notwendigen Abwägung, durch die erst die ganze Widersprüchlichkeit der Lage in den Blick gerät. Keine der Parteien ist nur Opfer, keine nur Täter. Deshalb wird es nicht ausreichen, die Führer der Hamas zu eliminieren. Damit gewänne man lediglich Zeit, bis eine neue, vermutlich noch radikalere Generation von Kämpfern herangewachsen ist. Deshalb hat Außenminister Blinken Recht, wenn er meint, die Hamas sei ein mindset, eine Art Weltanschauung. Solange es nicht gelingt, diesem mindset die Grundlage zu entziehen, solange wird das Problem fortbestehen.

In Nahost lauten die Fragen, die vor einem Frieden beantwortet werden müssen:

  • Wird das Existenzrecht Israels anerkannt? Wird das Recht der Palästinenser auf Selbstbestimmung und Eigenstaatlichkeit anerkannt?

  • Wo liegen die Grenzen zwischen beiden Staaten und wie durchlässig können sie sein?

  • Welche Garantien können beide Seiten einander für eine friedliche Koexistenz bieten?

  • Was wird aus den „Vertriebenen“, die mittlerweile in dritter, wenn nicht vierter Generation primär von internationaler und meist unkonditionierter Hilfe leben? Hat die Arbeit von UNWRA, dem Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten, versöhnend gewirkt oder hat sie durch anhaltende Transfers die Empfänger davor bewahrt, sich mit der politischen Wirklichkeit abzufinden? Betrachtet man die Erfahrung Europas, so war der endgültige Verzicht auf Rückkehr- und Restitutionsforderungen die wichtigste Grundlage einer Aussöhnung zwischen den Feinden des Zweiten Weltkriegs.

  • Was kann Israel bieten, um Kernforderungen der Palästinenser entgegenzukommen?

  • Lassen sich Ansätze finden, um auf beiden Seiten den Schulunterricht so zu gestalten, dass die nächste Generation nicht mit verzerrten Feindbildern aufwächst? Deutschland hat zusammen mit Frankreich und Polen Geschichtsbücher entwickelt, um zu verhindern, dass sich nationalistische Schablonen auf die nächste Generation vererben. Es war die wirksamste Friedenspolitik, die Deutschland je verfolgt hat. Vielleicht ließe sich daraus auch in Russland, Israel und seinen arabischen Nachbarn lernen?

Ohne einer Antwort auf diese Fragen näher zu kommen, wird es wenig bringen, die Kämpfe einzustellen. Ein Waffenstillstand wäre lediglich ein Aufschub bis zum nächsten, noch zerstörerischen Zusammenstoß.


Hinweis

Eine Kurzversion dieses Beitrags ist am 30. Oktober 2023 in der Neuen Zürcher Zeitung erschienen. Die Redaktion wurde am 5. Dezember 2023 abgeschlossen. Ereignisse nach diesem Datum konnten nicht mehr berücksichtigt werden.


Über den Autor / die Autorin

Rudolf G. Adam PhD

Publizist, München, war von 1976 bis 2014 im diplomatischen Dienst und war u. a. Vizepräsident des BND und Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik

Online erschienen: 2024-03-05
Erschienen im Druck: 2024-03-01

© 2024 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von De Gruyter.

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz.

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  1. Titelseiten
  2. Editorial
  3. Editorial
  4. Aufsätze
  5. Schwäche ist tödlich – Warum Putin die Ukraine angegriffen hat und wie der Krieg beendet werden muss
  6. Wie man Russland schlagen kann – Lektionen aus dem Verteidigungskrieg der Ukrainer
  7. Eine fragmentierte Rüstungsindustrie – Europas strategischer Nachteil
  8. Kurzanalysen
  9. Die nasse Flanke des Russland-Ukraine-Kriegs – Lektionen für die moderne Seekriegsführung und die Marine
  10. Weltraumkapazitäten im Ukraine Krieg
  11. Die Kalaschnikows der Lüfte – Drohnenkriegsführung im Ukraine-Krieg
  12. Konnte man den Krieg Russlands gegen die Ukraine vorhersehen?
  13. Kommentar
  14. Kriege verhindern – Kriege führen – Kriege beenden: Zehn Lektionen aus drei aktuellen Kriegen
  15. Interview
  16. Was wissen wir über die Anschläge auf die Nord Stream-Pipelines vom September 2022?
  17. Ergebnisse internationaler strategischer Studien
  18. Politisch-strategische Lehren aus dem Ukraine Krieg
  19. Alina Polyakova/Edward Lucas/Mathieu Boulègue/Catherine Sendak/Scott Kindsvater/Ivanna Kuz/Sasha Stone: A New Vision for the Transatlantic Alliance: The Future of European Security, the United States, and the World Order after Russia’s War in Ukraine. Brüssel: Center for European Policy Analyses, November 2023
  20. Anthony H. Cordesman: The Lasting Strategic Impact of the War in the Ukraine. Washington, D.C.: Center for Strategic and International Studies, Juli 2023
  21. Militärische Lehren aus dem Ukraine-Krieg
  22. Katie Crombe/John A. Nagl: A Call to Action – Lessons from Ukraine for the Future Force, Parameters,53, no. 3 (2023), S. 19–28
  23. Marta Kepe: Logistics and Sustainment in the Russian Armed Forces. Santa Monica: Cal.: The RAND Corporation (Research Report), November 2023
  24. Mason Clark/Karolina Hird: Russian Regular Ground Forces Order of Battle. Washington, D.C.: Institute for the Study of War 2023
  25. William Alberque/Douglas Barrie/Zuzanna Gwadera/Timothy Wright: Russia’s War in Ukraine: Ballistic and Cruise Trajectories. London: International Institute for Strategic Studies, Oktober 2023
  26. Jack Watling/Nick Reynolds: Stormbreak – Fighting Through Russian Defences in Ukraine’s 2023 Offensive. London: Royal United Services Institute, September 2023
  27. J. Matthew McInnis: Russia and China look at the Future of War. Washington, D.C.: Institute for the Study of War, September 2023
  28. Andrew Metrick: Rolling the Iron Dice. The Increasing Chance of Conflict Protraction. Washington, D.C.: Center for a New American Security (CNAS) 2023
  29. Lehren aus dem Ukrainekrieg im Bereich Informationskriegsführung
  30. Nika Aleksejeva: Narrative Warfare. How the Kremlin and Russian News Outlets Justified a War of Aggression against Ukraine. Washington, D.C.: The Atlantic Council (Digital Forensic Research Lab – DFRLab), Februar 2023
  31. Denis Volkov/Andrei Kolesnikov: Alternate Reality: How Russian Society Learned to Stop Worrying About the War. Washington, D.C. Carnegie Endowment, November 2023
  32. Russland und die Auswirkungen von Sanktionen
  33. Alexandra Prokopenko: Permanent Crisis Mode – Why Russia’s Economy has been so resilient against Sanctions. Berlin: Zentrum für Osteuropa und Internationale Studien, November 2023
  34. Buchbesprechungen
  35. Herfried Münkler: Welt in Aufruhr – Die Ordnung der Mächte im 21. Jahrhundert. Berlin: Rowohlt Verlag 2023, 527 Seiten
  36. Kevin P. Riehle: Russian Intelligence. A Case-based Study of Russian Services and Missions Past and Present. Bethesda, MD.: United States Government National Intelligence Press 2022, 368 Seiten
  37. Nachruf
  38. Helga Haftendorn 1933–2023
  39. Bildnachweise
Downloaded on 11.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/sirius-2024-1009/html
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