Rezensierte Publikation:
Münkler Herfried Welt in Aufruhr – Die Ordnung der Mächte im 21. Jahrhundert Berlin Rowohlt Verlag 2023 1 527

Lawrence Freedman, europäischer Doyen der Strategic Studies, hat wie wenige andere die Notwendigkeit strategischer Denker und handelnder Akteure betont, sich systematisch mit der Zukunft auseinanderzusetzen. Zugleich hat er darauf hingewiesen, dass solches Denken immer eines bleibt: works of imagination. Auf dieses Terrain begibt sich Herfried Münkler, ein Veteran der Politikwissenschaft, auf den 527 Seiten seines hier besprochenen Buchs. Er ist beschlagen mit einem gelehrten Wissenskanon aus politischer Theorie, Soziologie, Geschichte und internationaler Politik, der in der heute hoch spezialisierten Wissenschaftselite kaum mehr Nachahmung findet. Dass er dieses „riskante Projekt“, wie er schreibt, eingegangen ist, zeichnet ihn aus. Und dies wohlwissend, dass die „Antizipation … erheblich verwundbarer [ist], dafür aber politisch sehr viel nötiger als eine weitere Runde von Wünschen und Hoffnungen, bei denen man zum Zeitpunkt der Niederschrift schon weiß, dass sie nicht in Erfüllung gehen werden.“
Sein Sujet, Weltordnung, ist von erheblicher Spannbreite. Münklers Behandlung von Fragen der Weltordnung betont gleich zu Beginn, dass „Weltunordnung“ heute nur empfinden könne, wer außerhalb des seinerzeitigen Ost-West-Konflikts „kaum anderes“ sehen wollte. Deshalb sei es zentral, die Rolle des „globalen Südens“ in die eigene Sichtweise zu integrieren. Seiner Ansicht nach mache die neue Weltordnung aus, dass sie weniger auf Regeln beruhe, sondern dass „Verabredungen und Verträge zwischen den großen Mächten, den dominierenden Akteuren dieser Ordnung“ ihr konstitutives Element sein werden.
Schon in der Einleitung mahnt er die Europäer, die er als EU begreift (und damit durchgängig Großbritannien ausschließt), sich im Sinn der realistischen Schule anzustrengen, „eine handlungsfähige Macht“ zu werden. Nur so könne die EU dem „kleinen Kreis der die Weltordnung dominierenden Akteure angehören.“ Etwas unvermittelt schiebt er die Annahme nach, dass der Aufstieg des globalen Südens den „globalen Geltungsanspruch (westlicher) Werte und Normen einschränkt.“ Der Westen, wer immer dazugehören mag, solle sich daher auf sein eigenes Territorium konzentrieren.
Das Buch gliedert sich in weitere Kapitel, die allesamt durch tiefe Belesenheit gekennzeichnet sind. Beginnend mit einer Typologie der Bildung von Großreichen und dafür notwendigen Strategien, geht er zur Schlüsselfrage über, ob es weiterhin eine Ordnung mit einer dominierenden Macht (so wie für viele Jahrzehnte die USA) geben wird oder ob man sich auf eine Situation einstellen müsse, in der die großen Mächte einen gewissen Zustand der Koexistenz festschreiben und sich dabei bestimmten Regeln unterwerfen. Münklers These lautet, dass die künftige internationale Ordnung durch ein Gleichgewicht der großen Mächte hergestellt werden wird bzw. ein Direktorat sich bereits abzeichne und als gesetzt angesehen werden muss. Im abschließenden Kapitel legt er dar, wie die globale Ordnung der Mächte aussehen wird und welche diese ordnenden Mächte sein werden. Münkler setzt seine Ausführungen unter den „Vorbehalt, dass die politischen Eliten der fraglichen Mächte keine gravierenden Fehlentscheidungen und obendrein die erforderlichen Schritte machen, um den ihnen möglichen, aber keineswegs sicheren Platz in einem System der globalen Vormächte einzunehmen“.
Von fünf Mächten nimmt Münkler an, dass ihre „Interessen tatsächlich globaler Art sind, [weshalb sie] es nicht zulassen können, dass globale Entwicklungen Platz greifen, auf die sie keinen Einfluss haben“. Daher seien sie es, die „die Last der ersten Reihe auf sich nehmen müssen“. Dazu zählt er die USA, die EU (ohne Großbritannien), Russland, China und Indien. Diese Pentarchie bildet Münklers Direktorium. Diese klassische Denkkategorie – das Konzert der Großmächte – findet sich bereits bei Gentz, Metternich, Bismarck, den „Großen Drei“ von 1945, den Schöpfern des VN-Sicherheitsrats, sodann bei de Gaulle, Kissinger, Hedley Bull und anderen. Sie unterliegt bei Münkler aber einem substanziellen Konstruktionsfehler.
Münkler stellt sein Modell so dar, „als ob [es] schon vollendet wäre“. Das steht im Widerspruch zu seiner Aussage, dass sich diese Ordnung erst gerade herausbilde. Entscheidend für die Herausbildung einer derartigen Ordnung sei, räumt der Verfasser ein, dass sich die Großmächte gegenseitig anerkennen. Aber warum die von ihm benannten Großmächte ein „Interesse daran“ haben sollten, „möglichst potente Akteure mit den Aufgaben des Direktoriums zu betrauen“, begründet er nicht. Münkler lässt diese Frage unbeantwortet. Seine Annahme, der Prozess der gegenseitigen Anerkennung lasse sich darauf reduzieren, dass sich diese aus der gegenseitigen Annahme globaler Interessen und dafür notwendiger materieller Kapazitäten mehr oder minder ergibt, ist fragwürdig. Münkler sieht durchaus abweichende Rationalitäten im Handeln von Großmächten und auch die Relevanz von Prestige. Und dennoch hält er die genannte Pentarchie für die „wahrscheinlichste“ Variante einer künftigen Ordnung des Weltgeschehens.
Münkler blendet aus, dass die Beziehungen zwischen den von ihm genannten Mächten derzeit eher von der Nichtanerkennung anderer Vertreter der Pentarchie bzw. der Suche nach Allianzpartnern geprägt sind. Diesen Machtkampf in einer sich erst herausbildenden Weltordnung behandelt er nicht. Es ist schwer nachzuvollziehen, wie man die Annahme „gegenseitiger Anerkennung“ schlicht konstatieren kann. Die gegenwärtige Realität kennzeichnet sich eher durch Machtrivalität und Austesten roter Linien bis hin zum Krieg aus. Es ist nicht so, dass Krieg unvermeidbar ist, aber es ist absehbar, dass der gegenseitigen Anerkennung ein spannungsgeladener Kampf vorausgeht, an dessen vorläufigem Ende Unterordnung, realpolitische Akzeptanz als Gleiche und nur idealerweise konzertähnliche Anerkennung stehen wird. Ob dies durch Krieg entschieden wird oder ob eine dramatische Verschärfung des Gegensatzes durch eine zweite Kuba-Krise den Abgrund des nächsten Schritts in aller Härte verdeutlicht, bleibt offen. Münkler greift diese Thematik gar nicht auf. Dabei ist doch eines offenkundig: die Unvereinbarkeit der Machtansprüche Chinas und Amerikas. Ob sie sich strategisch auflösen lässt, wie es der Autor mit seiner Pentarchie impliziert, ist keineswegs gegeben. Völlig unklar bleibt auch, worauf Russlands „Anerkennung“ als Mitglied der Pentarchie beruhen soll. Dass Moskaus aggressives Verhalten die Europäer dazu veranlasst, Europas Sicherheitsordnung nicht anders als im Kampf und in der Bereitschaft zum Kampf gegen Russlands Vormachtansprüche zu schaffen, auch das blendet Münkler aus. Weshalb er dies nicht in seine Logik der „Anerkennung“ einbezieht, ist nicht nachzuvollziehen.
Es gibt einen weiteren Kritikpunkt an Münklers These. Es liegt im strategischen Interesse Europas (einschließlich Großbritanniens), durch Neugestaltung des transatlantischen Bündnisses mit den USA eine neue Aufgaben- und Lastenteilung zu erreichen. Schließlich müssen sich beide Seiten auf die Eventualität des Zusammentreffens zweier Kriege, in Europa und in Ostasien, einstellen. Dabei kommt auch Indien ins Spiel. Zwar beharrt Indien auf seiner Non-aligned-Tradition und will durch seine Unabhängigkeit die beste aller Welten (russisches Öl und Waffen, Handel mit China, Aufmerksamkeit der USA und eine gewichtige Stimme des globalen Südens). Diese Haltung ist indes nur solange möglich, wie Indien nicht substanziell von einer anderen Großmacht (China) bedroht wird. Die USA haben deshalb strategische Schritte unternommen, um Indien in die sich entwickelnde Koalition gegen China einzubauen. Die Lieferung hochsensiblen Know-hows und der dazugehörigen nuklearen Technologie macht deutlich, wie sehr Washington daran liegt, Delhi für sich zu gewinnen. Was wir hier sehen, ist die Praxis strategischer Diplomatie, die Münkler ideenreicher hätte durchleuchten müssen. Zu dieser gehört gegebenenfalls auch, Indiens Streben nach Prestige richtig zu bedienen. Das könnte durch das offizielle Angebot einer vollen Mitgliedschaft in der G7 und eine höhere Stimmengewichtung in der Weltbank geschehen.
Indem Münkler die Pentarchie für gesetzt hält, übersieht er den bereits mit großer Intensität genutzten strategischen Gestaltungsraum, den der Westen, insbesondere mithilfe des Quad-Formats, im eigenen Interesse zur – keineswegs leichten – Einbindung Indiens nutzt. Dass Münkler die sich hier bietende Option verkennt, ist seinem statischen Denken über die Zukunft geschuldet. Und dass er hinsichtlich Russlands Kriegslust keine Strategie aufzeigt, mit der das Containment Moskaus erfolgen muss, ist fragwürdig. So hätte er unterstreichen können, auf welch dünnem Eis sich die Regeln bewegen werden, die ein absolutes Mindestmaß an Ordnung gewährleisten sollen.
War das Unterfangen des Autors, sein „riskantes Projekt“, deshalb zu riskant? Nein, denn das Werk kondensiert das Wissen eines der wenigen großen Gelehrten der jungen Berliner Republik. Aber es reflektiert, dass strategisches Denken in Deutschland lange geringgeschätzt worden ist.
© 2024 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von De Gruyter.
Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz.
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