Katie Crombe/John A. Nagl: A Call to Action – Lessons from Ukraine for the Future Force, Parameters,53, no. 3 (2023), S. 19–28
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Crombe Katie Nagl John A. A Call to Action – Lessons from Ukraine for the Future Force Parameters,53, no. 3 (2023), S. 19–28
Dieser Artikel befasst sich mit den Folgen des Ukraine-Kriegs aus der Sicht der US-Streitkräfte. Dieser Krieg, so die Autoren, markiere einen strategischen Wendepunkt, vergleichbar dem Jom-Kippur-Krieg (1973). Seinerzeit wurde das United States Army Training and Doctrine Command (TRADOC) gegründet mit dem Ziel, die Erfahrungen des Jom-Kippur-Kriegs auszuwerten, um sich besser auf die konventionelle sowjetische Bedrohung einzustellen. Die heutigen Streitkräfte müssten den russisch-ukrainischen Konflikt als Chance begreifen, sich zu einer genauso schlagkräftigen Truppe zu wandeln wie der, die die Operation Desert Storm gewonnen hatte. Die Verfasser schlagen Änderungen von Taktik und Doktrin vor, um bei großangelegten Kampfhandlungen in mehreren Domänen den Erfolg zu einem Zeitpunkt zu sichern, an dem sich die Natur des Krieges ändere.
Der Artikel basiert auf den Arbeiten eines Teams von Dozenten und Studierenden des US Army War College, das sich im Herbst 2022 zusammentat, um Lehren aus dem Ukraine-Krieg zu ziehen. Das Team war der Meinung, dass der Russland-Ukraine-Krieg, der sich gerade vor seinen Augen entfaltete, Anlass für einen Wandel in den Bereichen Ausbildung und Doktrin der Streitkräfte gibt. Der Artikel fasst einige Kernaussagen dieses Projektes zusammen.
Besserer Schutz von Gefechtsständen und Hauptquartieren
Laut den Verfassern habe der Russland-Ukraine-Krieg deutlich gemacht, dass man wegen der von den typischen derzeitigen Gefechtsständen ausgehenden elektromagnetischen Signatur nicht gegen einen Gegner bestehen kann, der über sensorgestützte Technologien, Mittel der elektronischen Kriegsführung und unbemannte Flugsysteme verfügt oder Zugang zu Satellitenbildern hat. Das treffe heute auf fast jeden staatlichen wie nichtstaatlichen Akteur zu, gegen den die Vereinigten Staaten in naher Zukunft kämpfen müssten. Die Streitkräfte müssten sich daher auf die Entwicklung von Befehls- und Kontrollsystemen und mobilen Gefechtsständen konzentrieren, die eine kontinuierliche Bewegung, eine verteilte Zusammenarbeit und eine Synchronisierung über alle Aufgaben hinweg ermöglichen. Ziel müsse es sein, die elektronische Signatur zu minimieren.
Kulturwandel in Richtung Auftragstaktik
Vielleicht noch wichtiger als der Einsatz neuer Befehls- und Kontrollsysteme sei der Kulturwandel, der erforderlich ist, um verteilte Führung und Kontrolle, besser bekannt als Mission Command (deutsch Auftragstaktik), einzuführen. Als General Mark A. Milley als Stabschef der Armee diente, erklärte er, es brauche ein Konzept des „disziplinierten Ungehorsams“, das Untergebene ermächtigt, eine Mission auszuführen, um das angestrebte Ziel des Kommandeurs durchzusetzen – selbst, wenn sie dafür einen bestimmten Befehl oder eine bestimmte Aufgabe missachten müssen. Ohne perfekte Kommunikation müsse man darauf vertrauen, dass ein untergeordneter Offizier oder Soldat während der Schlacht die richtige Entscheidung trifft, unbelastet von der Pflicht, für kleine Anpassungen Genehmigungen einzuholen.
Hohe Anfälligkeit für Verluste
Der Krieg zwischen Russland und der Ukraine habe erhebliche Schwachstellen der Streitkräfte offenbart, Verluste zu verkraften und zu ersetzen. Die medizinischen Planer der Armee rechneten anhand der Verluste in der Ukraine mit einer anhaltenden Rate von etwa 3.600 Opfern pro Tag (Gefallene und Verwundete). Bei einer prognostizierten Ersatzquote von 25 Prozent würde das Personalsystem jeden Tag 800 neue Soldaten benötigen. Für die Vereinigten Staaten seien derartige Verlustzahlen unbekannt. In zwei Jahrzehnten der Kämpfe im Irak und in Afghanistan hätten die US-Streitkräfte etwa 50.000 Opfer verzeichnet. Bei großangelegten Kampfhandlungen könnten die USA innerhalb von zwei Wochen die gleiche Zahl von Opfern zu beklagen haben und dann würde sich der Rückgang der Personalreserve dramatisch bemerkbar machen. Die Bereitschaftsreserve, die 1973 bei 700.000 und 1994 bei 450.000 lag, läge derzeit bei 76.000. Diese Soldaten und Soldatinnen könnten die bestehenden Lücken in der aktiven Truppe nicht auffüllen, geschweige denn einen Ersatz oder eine Erweiterung der Verluste während einer großangelegten Kampfhandlung kompensieren. Eine Konsequenz laute, dass man das Konzept einer Berufsarmee aufgeben müsse.
Veränderungen in der Kriegsführung
Der Artikel geht auf die qualitativen Veränderungen ein, die der Krieg in der Ukraine habe erkennen lassen. Der allgegenwärtige Einsatz von unbemannten Luftfahrzeugen, unbemannten Überwasserfahrzeugen, Satellitenbildern, sensorbasierten Technologien, Smartphones, kommerziellen Datenverbindungen und Open-Source-Informationen habe grundlegend die Art und Weise verändert, wie Armeen an Land kämpfen. Dieser qualitative Wandel sei vergleichbar mit dem, den die Einführung von Flugzeugen in die Kriegführung vor 100 Jahren anstieß. Unbemannte Luftfahrzeuge, gepaart mit Plattformen für künstliche Intelligenz, würden das Tempo des modernen Kriegs dramatisch beschleunigen. Werkzeuge und Taktiken, die in früheren Konflikten als Nischenfähigkeiten galten, würden zu primären Waffensystemen, die Analyse und Training erfordern, um sie zu verstehen, auszunutzen und mit ihnen zu kämpfen. Nichtstaatliche Akteure und schwache Nationalstaaten können heute Technologien erwerben, die Davids Kräfte denen Goliaths annähern.
Transnationale digitale Konzerne
Über die militärischen Veränderungen hinaus würden transnational operierende kommerzielle Konzerne im digitalen Bereich eine operativ bedeutsame Rolle auf dem Schlachtfeld spielen. Solche Unternehmen könnten die Effektivität der Verarbeitung, Ausnutzung und Verbreitung von Geheimdienstinformationen exponentiell erhöhen und zur dynamischen Zielerfassung beitragen. Eine öffentlich-private Partnerschaft, die auf Transparenz beruht, sei daher bei der Vorbereitung auf Konflikte und während der Auseinandersetzung unerlässlich. Das Militär sollte diese Partnerschaft initiieren und Übungen mit privaten Unternehmen in Kriegsspiele, Planungen, Übungen und Experimente integrieren. Nur so lasse sich sicherstellen, dass die Soldaten mit den Systemen vertraut werden, die sich in zukünftigen Kämpfen als entscheidend erweisen könnten. Ebenso müssten private Unternehmen ein besseres Verständnis dafür erlangen, welche Fähigkeiten das Militär benötigt.
Strategische Täuschung und verstärkter Einsatz von offenen Informationen
Die Einbeziehung von Open-Source- und freigegebenen Geheimdienstinformationen in den Informationsraum habe sich seit Beginn des Ukraine-Konflikts als wirksam erwiesen und die Reaktionen im In- und Ausland sowie beim Gegner beeinflusst. Diese Art von Informationen dürfte auch in zukünftigen Konflikten eine große Rolle spielen. Open-Source-Geheimdienstinformationen (OSINT) sollten in die nachrichtendienstliche Arbeit integriert werden. Mit ihnen lasse sich auch die Öffentlichkeit informieren, vorausgesetzt der Nutzen ihrer Veröffentlichung überwiegt das mögliche Risiko für Quellen und Methoden. Über die Einbindung von OSINT hinaus müsse angesichts der beispiellosen Transparenz, die bei Operationen in der Ukraine zu beobachten war, die militärische Berufsausbildung und Ausbildung der Armee eine grundlegende Unterweisung in Täuschungsoperationen umfassen. Die Streitkräfte der Ukraine seien außergewöhnlich geschickt darin, auf strategischer, operativer und taktischer Ebene zu täuschen.
Verbundene Operationen in verschiedenen Domänen
Laut den Autoren mache die US Army erhebliche Fortschritte bei der Entwicklung von Konzepten für verbundene Operationen in mehreren Domänen (Multidomain-Operationen – MDO). Im Mai 2023 habe die inzwischen dritte MDO-Task Force ihre volle Einsatzfähigkeit erreicht. Diese für jeden Kriegsschauplatz spezifisch aufzustellenden Einsatzkräfte würden weitreichende Präzisionseffekte erlauben, um hybriden Bedrohungen aus Russland und China entgegenzuwirken, und sich schnell weiter zu modernisieren. Doch auch der Rest der Streitkräfte müsse die Grundsätze verbundener Operationen in unterschiedlichen Domänen verstehen und verinnerlichen. Die Kommunikations- und Visualisierungsanforderungen an eine allwissende, allsehende MDO-Taskforce seien erheblich. Auch kleinere Einheiten müssten die Fähigkeiten einer MDO-Taskforce verstehen, müssten Lücken in der gegnerischen Verteidigung antizipieren und sich abzeichnende Vorteile ausnutzen können. Antizipation, Ausbeutung und Missionsführung erforderten eine entsprechende Ausbildung.
© 2024 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von De Gruyter.
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