Denis Volkov/Andrei Kolesnikov: Alternate Reality: How Russian Society Learned to Stop Worrying About the War. Washington, D.C. Carnegie Endowment, November 2023
Rezensierte Publikation:
Volkov Denis Kolesnikov Andrei Alternate Reality: How Russian Society Learned to Stop Worrying About the War Washington, D.C. Carnegie Endowment November 2023
Die vorliegende Studie basiert auf Untersuchungen des unabhängigen Lewada-Zentrums, eines Umfrageinstituts in Russland, dessen Resultaten man unter den gegebenen Umständen noch eine gewisse verlässliche Aussagekraft zugestehen kann. Die Verfasser werten die Umfrageergebnisse über einen längeren Zeitraum bis Ende August 2023 aus.
In den fast zwei Jahren seit Beginn von Russlands „militärischer Spezialoperation“ gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 habe sich die russische Gesellschaft, so ein wesentlicher Befund der Analyse, daran gewöhnt, vor dem Hintergrund eines brutalen bewaffneten Konflikts zu leben. Ein erheblicher Teil der Bevölkerung habe sich damit abgefunden, noch eine ganze Weile unter dem gegenwärtigen Stand der Dinge leben und sich an eine Realität anpassen zu müssen, die nicht zu ändern sei.
Alle Prognosen, die Unzufriedenheit der Bevölkerung, ausgelöst durch die kriegsbedingten Sanktionen und Einschränkungen des täglichen Lebens, werde das Regime von Wladimir Putin stürzen, hätten sich nicht bewahrheitet und als naiv erwiesen. Eher sei genau das Gegenteil eingetreten. Auch wenn sich die meisten Russen nicht mit dem Regime identifizieren, hätten sie sich hinter die Regierung geschart in der ernsthaften Annahme, diese kämpfe mit Zähnen und Klauen gegen einen Westen, der Russland zu zerstöre versuche. Obwohl dies der Realität widerspricht, hätten sehr viele Russen es als logische Erklärung für diesen langwierigen Albtraum akzeptiert.
Etwa 75 Prozent der befragten Russen würden im Prinzip die „Spezialoperation“ gegen die Ukraine begrüßen. Zwar gäbe es Unterschiede im Grad dieser Befürwortung, doch müsse man ein Fünftel der russischen Bevölkerung als aktive und kompromisslose Unterstützer des Krieges einschätzen. Viele von ihnen seien Männer im Rentenalter, die mit ihrer Situation insgesamt zufrieden sind und der Regierung und dem Militär die Stange halten. Die gleichen Segmente würden auch der Teilmobilisierung zustimmen. Es handele sich um Menschen, die selbst keinen persönlichen Risiken ausgesetzt sind und daher andere bedenkenlos in die Schützengräben schicken. Vertreter dieser Position sagen: „Wir sollten nicht auf halbem Weg aufhören, wir müssen die Arbeit zu Ende bringen“ oder „Wenn wir jetzt aufhören, werden wir diesen Kampf verlieren.“ Auch höre man häufig die Aussage: „Es gibt keinen Weg zurück.“ Seit der zweiten Hälfte des vergangenen Jahres zeige sich zunehmend spürbare Verbitterung nach dem Motto: Wir haben für die Sache schon zu viel geopfert, um jetzt aufzugeben.
Diejenigen, die offenkundig nicht die russischen Streitkräfte unterstützen, machten etwa 19 bis 20 Prozent der Stimmen aus. Weitere 7 Prozent täten sich mit einer Antwort schwer. Nach Ansicht der Verfasser seien diese Menschen nicht automatisch als Kriegsgegner einzustufen. Näher stünden sie eher den passiven Unterstützern der „militärischen Spezialoperation.“ Die große Mehrheit der Bevölkerung sei apathisch und folge gewohnheitsmäßig meist dem, was die Regierung vorgibt. Dieses Verhalten lasse sich als „angepasste Gleichgültigkeit“ bezeichnen. In den Augen dieser Menschen sei Putin ein legitimer Führer, also müsse seine „militärische Spezialoperation“ auch richtig sein. Die apathische Mehrheit werde kaum etwas anderes tun, als abzuwarten, bis diese schwierige Zeit vorüber ist.
Etwa ein Fünftel der Bevölkerung habe im untersuchten Zeitraum stark für Friedensverhandlungen plädiert. Von denen, die sich einen Waffenstillstand wünschen, sei jedoch mindestens die Hälfte nicht bereit, den Ukrainern Zugeständnisse zu machen. Die Idee, im Gegenzug für Frieden besetzte Gebiete zurückzugeben, fände wenig Anklang. Die Ergebnisse, so die Autoren, beweisen, dass die russische Gesellschaft noch nicht bereit ist für einen Kompromiss mit der Ukraine.
Die Verfasser stellen fest, dass die meisten Russen die aktuelle Konfrontation nicht als Konflikt zwischen Russland und der Ukraine betrachten, sondern als Konflikt zwischen Russland und dem Westen. Solche Interpretationen kursierten bereits im Jahr 2021, und die massive Militärhilfe des Westens für die Ukraine habe die Befragten darin bestätigt, dass sie Recht hatten und haben.
Insgesamt gesehen ist das eine gründliche, wenngleich ernüchternde Analyse. Sie zeigt, wie gut es Russlands Regierung gelungen ist, die Bevölkerung gleichzuschalten und jeglichen Protest dermaßen zu unterdrücken, dass immer weniger Russen es wagen, die Regierungspolitik offen zu kritisieren.
© 2024 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von De Gruyter.
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