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Vandier Pierre La dissuasion au troisième âge nucléaire Paris Éditions du Rocher 2018 1 106 10,90 €

Betrachtet man die Erfolge und Bekanntheit von Kampagnen zur Abschaffung von Atomwaffen wie „Global Zero“ oder „ICAN“, so könnte man den Eindruck gewinnen, dass sich das Leitbild einer nuklearwaffenfreien Welt bald durchsetzen wird. Liest man jedoch das Buch „La dissuasion au troisième âge nucléaire“ des französischen Konteradmirals und ehemaligen Kommandanten des Flugzeugträgers Charles-de-Gaulle, Pierre Vandier, scheint nichts weiter von der Realität entfernt zu sein. Laut Vandier ist das Zeitfenster für eine globale nukleare Abrüstung, welche in den 1970er Jahren mit den SALT-Verträgen zur nuklearen Abrüstung begann und ihren Höhepunkt in den 1990er Jahren erreichte, mittlerweile geschlossen. Die Gründe hierfür seien mannigfaltig und würden von den nicht gehaltenen Versprechungen des Atomwaffensperrvertrags, dem US-amerikanischen Einmarsch in Irak, über den europäischen Raketenabwehrschirm bis hin zu den atomaren Bestrebungen Irans und Nordkorea reichen. Die daraus resultierende „Rückkehr“ der Atomwaffen als wesentliche Rahmenbedingung internationaler Politik zu Beginn des 21. Jahrhunderts läute eine Epoche ein, welche Vandier – in der Folge des französischen Historikers Christian Malis – als „drittes nukleares Zeitalter“ bezeichnet.
Dieses Zeitalter sei zum einen von der fortdauernden Prävalenz des Prinzips der Abschreckung geprägt, samt seinen nicht intendierten Effekten. Zurzeit könne kein Nuklearstaat ernsthaft eine Aufgabe seiner nuklearen Fähigkeiten in Erwägung ziehen. Diese würden noch immer die ultimative Sicherheitsgarantie und deshalb das wesentliche Spannungsfeld jeder militärstrategischen Überlegung darstellen. Diese Stabilität auf der nuklearen Ebene führe jedoch auch im 21. Jahrhundert zu einer Instabilität auf den unteren Ebenen, ein Paradoxon welches bereits André Beaufre und Raymond Aron identifiziert hatten. In der Folge komme es zu einer Bevorzugung indirekter Strategien und begrenzter Konflikte unter Einsatz von Stellvertretern. „Weit davon entfernt, die toten Winkel der Abschreckung zu bilden, sind die asymmetrischen und terroristischen oder ‚hybriden‘ Kriege Ausdruck einer Konfliktualität unter nuklearen Bedingungen“ (S. 55).
Zugleich werde angesichts der konventionellen Aufrüstung bestimmter Schwellenländer das Festhalten an Nuklearwaffen insbesondere für Mittelmächte wie Frankreich sogar zu einer Notwendigkeit. Staaten wie China oder Russland hätten in den letzten Jahrzehnten mit zweistelligen Wachstumsraten im Verteidigungsbereich eine rasante militärtechnologische Aufholjagd vorgenommen, die zu einer Erosion des westlichen technologischen Vorsprungs geführt habe. Dies schränke Handlungsmöglichkeiten weiter ein und führe zu einer genaueren Abwägung jeglicher militärischen Aktion, insbesondere dann, wenn die Durchhaltefähigkeit mangels „Masse“ fehle. Für Staaten mit weltweiten wirtschaftlichen Interessen und Verflechtungen bestehe somit das Risiko, in Regionalkonflikten „militärisch nicht mehr ins Gewicht fallen zu können, obwohl diese durchaus unsere Interessen oder sogar unsere Souveränität berühre“ (S. 67). Dies könne in besonderem Maße Frankreich treffen, das mit seinen 2,7 Millionen Einwohnern in den Überseegebieten und 1,7 Millionen Expatriates weltweit verankert und Anrainer aller Weltmeere sei. Um unter diesen Bedingungen eine gewisse Handlungsfreiheit beibehalten zu können, seien Nuklearwaffen unerlässlich, da sie zumindest ein gewisses Gleichgewicht der Kräfte sicherstellen.
Konkret auf die französische Nukleardoktrin bezogen sprach sich Vandier dafür aus, diese im dritten nuklearen Zeitalter „global“ zu denken, um glaubwürdig zu bleiben. Dies beinhalte zum einen die technische Fähigkeit, trotz Raketenabwehrschirmen und „Anti-Access/Area-Denial“-Systemen die Zweitschlagsfähigkeit aufrechtzuerhalten. Die derzeitige Modernisierung der Luft-Komponente der französischen Force de frappe samt Weiterentwicklung der Tarnkappen- und Überschalltechnologie seien hierfür essentiell. Zum anderen bedürfe es hierfür auch dualer und symbolischer Fähigkeiten, die also im konventionellen wie im nuklearen Spektrum einsetzbar seien und deren Einsatz bereits eine politische Warnung aussende. Dies treffe sowohl auf das Mehrzweckkampflugzeug Rafale als auch auf den Flugzeugträger Charles-de-Gaulle zu.
Mit „La dissuasion au troisième âge nucléaire“ ermöglicht Pierre Vandier dem Leser einen Einblick in die militärinterne Debatte zur Bedeutung von Atomwaffen für die internationale Sicherheitspolitik des 21. Jahrhunderts im Allgemeinen und für Frankreich im Speziellen. Äußerst selten wird das Thema der nuklearen Abschreckung öffentlich von französischen Militärs besprochen, ein Thema welches selbst an der Pariser Kriegsschule nicht gelehrt wird. Auch wenn Deutschland kein Nuklearstaat ist, so ist das Buch auch für das hiesige Fachpublikum von Bedeutung, stellt es doch im Grunde genommen die Frage nach der Herstellung von Sicherheit zu einer Zeit, in der Rüstungskontrollregime reihenweise aufgekündigt werden und internationalen Spannungen zunehmen.
Das größte Manko hierbei ist jedoch, dass diese Frage ausschließlich militärisch und insbesondere atomar gedacht und beantwortet wird. Der Besitz von Atombomben erscheint alternativlos, in diesem Sinne ist das Buch – selbst wenn oder gerade, weil es von einem aktiven französischen Admiral geschrieben wurde – weit mehr evolutionär als revolutionär. Zugleich redet Vandier dabei jene Bedrohungen klein, die von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen und sich nicht atomar abschrecken lassen, zugleich aber sehr wohl die Grundfesten einer Gesellschaft erschüttern können. Die Notwendigkeit von neuen Abrüstungsvereinbarungen wird ebenso übergangen wie die Tatsache, dass es Staaten ohne Atomwaffen durchaus gelingt, Sicherheit herzustellen und zu gewährleisten, während Staaten wie Israel, Großbritannien oder China trotz Nuklearwaffen symmetrische Kriege ausfochten.
Unabhängig davon, ob man Atomwaffen – deutsche, europäisierte oder überhaupt – nun befürwortet oder ablehnt, wäre man dennoch gut beraten, angesichts der derzeitigen internationalen Herausforderungen die entsprechenden Debatten in den europäischen Nachbarländern zu verfolgen. Das Thema ist für die deutsche Sicherheits- und Verteidigungspolitik relevant und wird auf der Tagesordnung bleiben, auch in Frankreich – Vandiers Buch bildet dort wahrscheinlich nur den prominentesten aber vorläufigen Auftakt.
© 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
Artikel in diesem Heft
- Titelseiten
- Editorial
- Editorial
- Aufsätze
- Chinas schleichende Annexion im Südchinesischen Meer – die strategischen Hintergründe
- Neue Perspektiven in Nahost – Wie Chinas Initiativen politische Verhältnisse in der Region grundlegend verändern
- Der Islamische Staat und die Strategie des führerlosen Widerstands
- Domänenübergreifende Abschreckung – eine neue Herausforderung westlicher Sicherheitspolitik
- Analysen und Berichte
- Die Zwischenwahlen in den USA vom November 2018 – eine Trendwende in der amerikanischen Politik?
- Wer wird das kriegsgeschundene Syrien wiederaufbauen? China könnte ein Kandidat sein
- Strategische Kommentare
- Herausforderungen und Chancen für Europa in Ostasien
- USA und China: Die Wahl zwischen Konflikt und Kooperation
- Ergebnisse strategischer Studien
- Rüstungsdynamik in Asien
- Anthony H. Cordesman: China and the New Strategic Nuclear Arms Race: The Forces Driving the Creation of New Chinese Nuclear Delivery Systems, Nuclear Weapons, and Strategy. Washington, D.C.: Center for Strategic and International Studies, November 2018.
- Scott W. Harold: Defeat, Not Merely Compete. China’s View of Its Military Aerospace Goals and Requirements in Relation to the United States. Santa Monica, Cal.: Rand Corp., November 2018.
- Gaurav Sharma/Marc Finaud: The South Asian Nuclear Posture: A Vicious Nuclear Arms Race. Genf: Geneva Centre for Security Policy, 2018.
- Westliche Sicherheits- und Verteidigungspolitik
- Douglas Barrie/Ben Barry/Henry Boyd/Marie-Louise Chagnaud/Nick Childs/Bastian Giegerich/Christian Mölling/Torben Schütz: Protecting Europe: Meeting the EU’s military level of ambition in the context of Brexit. Berlin/London: DGAP/IISS November 2018.
- Franklin D. Kramer/Hans Binnendijk/Lauren M. Speranza: NATO Priorities after the Brussels Summit. Washington, D.C.: Atlantic Council, Dezember 2018.
- Michael J. Mazarr/Arthur Chan/Alyssa Demus/Bryan Frederick/Alireza Nader/Stephanie Pezard/Julia A. Thompson/Elina Treyger: What Deters and Why. Exploring Requirements for Effective Deterrence of Interstate Aggression. Santa Monica: Rand Corp. November 2018.
- Nathalie Tocci: The Demise of the International Liberal Order and the Future of the European Project. Rom: Istituto affari internazionale (IAI), Oktober 2018.
- Russland
- Philip N. Howard/Bharath Ganesh/Dimitra Liotsiou/John Kelly/Camille François: The IRA, Social Media and Political Polarization in the United States, 2012–2018. Oxford: Oxford University Project on Computational Propaganda, Working Paper, 2018.
- Flemming Splidsboel Hansen/Robert van der Noordaa/Øystein Bogen/Henrik Sundbom: The Kremlin’s Trojan Horses. Russian Influence in Denmark, The Netherlands, Norway, and Sweden. Washington, D.C.: Atlantic Council, Dezember 2018.
- Anton Lavrov: Russian Military Reforms from Georgia to Syria. Washington, D.C.: Center for Strategic and International Studies, November 2018.
- Terrorismus und Extremismus
- Seth G. Jones/Charles Vallee/Danika Newlee/Nicholas Harrington/Clayton Sharb/Hannah Byrne: The Evolution of the Salafi-Jihadist Threat. Current and Future Challenges from the Islamic State, Al-Qaeda, and Other Groups. Washington, D.C.: Center for Strategic and International Studies, November 2018.
- Maxwell B. Markusen: The Islamic State and the Persistent Threat of Extremism in Iraq. Washington, D.C.: Center for Strategic and International Studies, November 2018.
- Iran and Shi’ite Terrorism Desk: The Revolutionary Guards, Past, Present and Directions for Future Development. Herzliya: International Institute for Counter-Terrorism, November 2018.
- Buchbesprechungen
- Beyza Unal/Patricia Lewis: Cybersecurity of Nuclear Weapons Systems: Threats, Vulnerabilities and Consequences, London: The Royal Institute of International Affairs, Januar 2018.
- Marie Baezner/Patrice Robin: Cyber sovereignty, Cyberdefense Trend Analysis. Zürich: Center for Security Studies (CSS), ETH Zürich, 2018.
- Buchbesprechungen
- Wolfgang Ischinger: Welt in Gefahr. Deutschland und Europa in unsicheren Zeiten, Berlin: ECON-Verlag 2018, 304 Seiten, 24,00€
- International Institute for Strategic Studies (IISS): Strategic Survey 2018. The Annual Assessment of Geopolitics. London: Taylor & Francis 2018, 432 S. 75.00 £
- Michael Lüders: Armageddon im Orient. Wie die Saudi-Connection den Iran ins Visier nimmt, München: C.H. Beck Verlag 2018, 265. Seiten, €14,95.
- Pierre Vandier: La dissuasion au troisième âge nucléaire. Paris: Éditions du Rocher, 2018, 106 Seiten, 10,90 €
- Paul Scharre: Army of None: Autonomous Weapons and the Future of War, London: W.W. Norton 2018. 448 Seiten, €24,99
- Bildnachweise
Artikel in diesem Heft
- Titelseiten
- Editorial
- Editorial
- Aufsätze
- Chinas schleichende Annexion im Südchinesischen Meer – die strategischen Hintergründe
- Neue Perspektiven in Nahost – Wie Chinas Initiativen politische Verhältnisse in der Region grundlegend verändern
- Der Islamische Staat und die Strategie des führerlosen Widerstands
- Domänenübergreifende Abschreckung – eine neue Herausforderung westlicher Sicherheitspolitik
- Analysen und Berichte
- Die Zwischenwahlen in den USA vom November 2018 – eine Trendwende in der amerikanischen Politik?
- Wer wird das kriegsgeschundene Syrien wiederaufbauen? China könnte ein Kandidat sein
- Strategische Kommentare
- Herausforderungen und Chancen für Europa in Ostasien
- USA und China: Die Wahl zwischen Konflikt und Kooperation
- Ergebnisse strategischer Studien
- Rüstungsdynamik in Asien
- Anthony H. Cordesman: China and the New Strategic Nuclear Arms Race: The Forces Driving the Creation of New Chinese Nuclear Delivery Systems, Nuclear Weapons, and Strategy. Washington, D.C.: Center for Strategic and International Studies, November 2018.
- Scott W. Harold: Defeat, Not Merely Compete. China’s View of Its Military Aerospace Goals and Requirements in Relation to the United States. Santa Monica, Cal.: Rand Corp., November 2018.
- Gaurav Sharma/Marc Finaud: The South Asian Nuclear Posture: A Vicious Nuclear Arms Race. Genf: Geneva Centre for Security Policy, 2018.
- Westliche Sicherheits- und Verteidigungspolitik
- Douglas Barrie/Ben Barry/Henry Boyd/Marie-Louise Chagnaud/Nick Childs/Bastian Giegerich/Christian Mölling/Torben Schütz: Protecting Europe: Meeting the EU’s military level of ambition in the context of Brexit. Berlin/London: DGAP/IISS November 2018.
- Franklin D. Kramer/Hans Binnendijk/Lauren M. Speranza: NATO Priorities after the Brussels Summit. Washington, D.C.: Atlantic Council, Dezember 2018.
- Michael J. Mazarr/Arthur Chan/Alyssa Demus/Bryan Frederick/Alireza Nader/Stephanie Pezard/Julia A. Thompson/Elina Treyger: What Deters and Why. Exploring Requirements for Effective Deterrence of Interstate Aggression. Santa Monica: Rand Corp. November 2018.
- Nathalie Tocci: The Demise of the International Liberal Order and the Future of the European Project. Rom: Istituto affari internazionale (IAI), Oktober 2018.
- Russland
- Philip N. Howard/Bharath Ganesh/Dimitra Liotsiou/John Kelly/Camille François: The IRA, Social Media and Political Polarization in the United States, 2012–2018. Oxford: Oxford University Project on Computational Propaganda, Working Paper, 2018.
- Flemming Splidsboel Hansen/Robert van der Noordaa/Øystein Bogen/Henrik Sundbom: The Kremlin’s Trojan Horses. Russian Influence in Denmark, The Netherlands, Norway, and Sweden. Washington, D.C.: Atlantic Council, Dezember 2018.
- Anton Lavrov: Russian Military Reforms from Georgia to Syria. Washington, D.C.: Center for Strategic and International Studies, November 2018.
- Terrorismus und Extremismus
- Seth G. Jones/Charles Vallee/Danika Newlee/Nicholas Harrington/Clayton Sharb/Hannah Byrne: The Evolution of the Salafi-Jihadist Threat. Current and Future Challenges from the Islamic State, Al-Qaeda, and Other Groups. Washington, D.C.: Center for Strategic and International Studies, November 2018.
- Maxwell B. Markusen: The Islamic State and the Persistent Threat of Extremism in Iraq. Washington, D.C.: Center for Strategic and International Studies, November 2018.
- Iran and Shi’ite Terrorism Desk: The Revolutionary Guards, Past, Present and Directions for Future Development. Herzliya: International Institute for Counter-Terrorism, November 2018.
- Buchbesprechungen
- Beyza Unal/Patricia Lewis: Cybersecurity of Nuclear Weapons Systems: Threats, Vulnerabilities and Consequences, London: The Royal Institute of International Affairs, Januar 2018.
- Marie Baezner/Patrice Robin: Cyber sovereignty, Cyberdefense Trend Analysis. Zürich: Center for Security Studies (CSS), ETH Zürich, 2018.
- Buchbesprechungen
- Wolfgang Ischinger: Welt in Gefahr. Deutschland und Europa in unsicheren Zeiten, Berlin: ECON-Verlag 2018, 304 Seiten, 24,00€
- International Institute for Strategic Studies (IISS): Strategic Survey 2018. The Annual Assessment of Geopolitics. London: Taylor & Francis 2018, 432 S. 75.00 £
- Michael Lüders: Armageddon im Orient. Wie die Saudi-Connection den Iran ins Visier nimmt, München: C.H. Beck Verlag 2018, 265. Seiten, €14,95.
- Pierre Vandier: La dissuasion au troisième âge nucléaire. Paris: Éditions du Rocher, 2018, 106 Seiten, 10,90 €
- Paul Scharre: Army of None: Autonomous Weapons and the Future of War, London: W.W. Norton 2018. 448 Seiten, €24,99
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