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Editorial

Published/Copyright: March 5, 2024

Bei Erscheinen dieses Heftes jährt sich die brutale Aggression Russlands gegen die Ukraine zum zweiten Mal. Während der russische Präsident und Diktator Wladimir Putin fest entschlossen ist, die Ukraine militärisch zu unterwerfen und als Nation auszulöschen, wehrt sich die Ukraine mit bewundernswerter Kraft (und westlicher Unterstützung) gegen diesen barbarischen Überfall. Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine ist mehr als ein Kampf um Wiederherstellung der früheren Sowjetunion und Unterwerfung von Menschen unter das Putin-Regime. Er markiert auch den Beginn der Politik Putins mit dem Ziel, die nordatlantische Allianz und die Europäische Union zu zerstören und Europa in eine Ansammlung von Staaten zu verwandeln, die ihre Souveränität den Wünschen und Forderungen eines zutiefst kriminellen und parasitären Regimes opfern sollen. Erst langsam beginnt die Politik in Deutschland zu begreifen, dass dieser Krieg eine Zäsur markiert, die nur vergleichbar ist mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs im September 1939. Die vorliegende SIRIUS-Ausgabe versammelt Beiträge aus der Wissenschaft, die Lehren aus dem Krieg zu ziehen versuchen. Diese Lehren sind sowohl politisch-strategischer wie militärischer Art.

Mit Blick auf die politisch-strategische Dimension fragt der Artikel von Nataliya Bugayova, Kateryna Stepanenko und Frederick W. Kagan nach den Gründen für Putins Angriffskrieg und den Lehren, die man daraus ziehen soll. Wladimir Putin, so die Autoren, die am Institute for the Study of War den Krieg mit größter Aufmerksamkeit verfolgen, sei 2022 nicht in die Ukraine einmarschiert, weil er die NATO fürchtete, sondern weil er diese für schwach hielt. Und weil er nach dem Scheitern seiner Versuche, die Kontrolle über die Ukraine mit anderen Mitteln wiederzuerlangen, die Installation einer prorussischen Regierung in Kyjiw als sicher und einfach einschätzte. Seine Intention sei es nicht gewesen, Russland gegen eine nicht existierende Bedrohung zu verteidigen, sondern Russlands Macht auszuweiten, die Staatlichkeit der Ukraine auszulöschen und die NATO zu zerstören – Ziele, die er immer noch verfolge.

In den Bereich der politisch-strategischen Analyse gehört ebenfalls der Kommentar von Rudolf Adam, der die westliche Schwäche und Unentschlossenheit auch in anderen Teilen der Welt als einen Anlass für uns feindlich gesinnte Kräfte sieht, diese Schwäche auszunutzen und zu militärischen Mitteln zu greifen. Sowohl die Kriege im Nahen Osten wie im Kaukasus würden erkennen lassen, dass die westlichen Nationen sich auf eine internationale Umwelt einstellen müssen, in der Machtpolitik mit harten Bandagen ausgetragen wird.

Der Aufsatz von Paula Alvarez-Couceiro befasst sich mit einem weiteren politisch-strategischen Problem: der Unfähigkeit der Europäer, einen wirklich wesentlichen Teil der militärischen Unterstützung für die Ukraine zu schultern. Die Autorin konstatiert eine Fragmentierung der europäischen Rüstungsindustrie, deren Schwachstellen der russische Angriffskrieg bloßgelegt habe. Zu diesen zählt sie die Erschöpfung der Lagerbestände, die Vielzahl von Plattformen, die übermäßige Abhängigkeit von Importen bei kritischen Rohstoffen und Halbleitern sowie die zögerlichen Erhöhungen der Verteidigungshaushalte. Die EU müsse sich endlich auf eine gemeinsame Vision bei Bedrohungen und langfristigen Zielen einer geschlossenen Verteidigungspolitik einigen. Der Besprechungsteil stellt zwei Studien des CSIS in Washington, D.C. und des CEPA in Brüssel vor, die deutlich die weitreichenden strategischen Implikationen des Krieges vor Augen führen.

Die militärischen Lehren behandelt der Beitrag von Nico Lange, der die Gründe für den weitgehend erfolgreichen Widerstand der Ukrainer analysiert. Man müsse aus dem Krieg zehn Lehren ziehen. Sie alle seien von Bedeutung für die NATO, die sich in den kommenden Jahren auf eine Verteidigung ihrer Ostgrenzen gegen Russland werde einstellen müssen. Der Verfasser betont insbesondere die Mitwirkung der Bevölkerung am bewaffneten Widerstand gegen die russische Invasion sowie die kriegsbedingten Entwicklungen im operativen und taktischen Bereich, die es nahelegen, künftige Kriegsbilder entsprechend anzupassen. Er betont, wie wichtig eine datenbasierte Kampfführung sei, die Daten aus unterschiedlichen Quellen bezieht und die in der Lage ist, Einsatzmittel unterschiedlicher Art in zeitkritischer Weise zu aktivieren. Die ukrainischen Streitkräfte arbeiteten oft als dezentralisierte Netzwerke mit viel Führungsverantwortung auf unteren und mittleren Ebenen. Dies habe sich als enormer Vorteil erwiesen. Zudem habe es sich als sinnvoll herausgestellt, Angriffe auf Logistik, Führung- und Kommunikation des Gegners zu konzentrieren. Der Verfasser weist auch auf die große Rolle von Drohnen hin, die massenweise zum Einsatz kommen. Beachtlich sei auch dass die Ukrainer große Erfolge mit kleinsten Einheiten im Jagdkampf erzielen. Zudem finde eine Renaissance der Artillerie statt, aber in erweiterter, fortgeschrittener Form. Ein weiterer Baustein des Erfolgs der Ukraine sei die komplexe und redundant strukturierte Logistik vor allem auf Schienen, die stabil auch unter Kriegsbedingungen funktioniere. Der Verfasser bescheinigt der Ukraine auch ein hohes Maß an operativer Sicherheit und der Fähigkeit zur strengen Geheimhaltung und zur erfolgreichen Täuschung. Nicht zuletzt biete die Ukraine ein exzellentes Beispiel dafür, wie man mit den richtigen Methoden und Narrativen den strategischen Informationskrieg gewinnen könne. Der Beitrag gelangt zu dem Schluss, dass die NATO-Militärs sehr viel von der Ukraine lernen können und dass die Erfahrungen des Krieges zur Anpassung ihrer Doktrinen und zu politischen Anpassungen führen müssen.

Die Kurzanalyse von Juliana Süß befasst sich mit der Weltraum-Dimension, die im Krieg eine zentrale Rolle eingenommen hat. Zwar sei Russland bei der Weltraumrüstung der Ukraine weit überlegen, doch hätten es die Ukrainer dank der Nutzung weitgehend privater Kapazitäten (insbesondere des Systems Starlink) verstanden, Kämpfe zu ihren Bedingungen erfolgreich zu führen.

Die Kurzanalyse von Sebastian Bruns und Heinz-Dieter Jopp kommt zu einer ähnlichen Einschätzung im maritimen Bereich. Hier habe Russland seine militärische Überlegenheit nicht auszuspielen vermocht. Vielmehr sei es den Ukrainern durch asymmetrische Kriegführung (insbesondere den Einsatz von Drohnen) gelungen, der russischen Marine schwere Verluste zuzufügen und diese in den östlichen Teil des Schwarzen Meers zurückzudrängen. Die Verfasser weisen aber darauf hin, dass die NATO aus dem Krieg die Lehre ziehen müsse, dass Russlands Marine ihre hauptsächliche Aufgabe darin sieht, Operationen der Landstreitkräfte durch tiefe Schläge mit präzisen Marschflugkörpern und ballistischen Raketen zu unterstützen. Da sich weiterhin erhebliche Kapazitäten dieser Art im Nordmeer, im Nordatlantik und auch in der Ostsee befänden, müsse sich die NATO auf die Abwehr und Bekämpfung dieser Bedrohung einstellen.

Die Rolle von Drohnen im Krieg behandelt Markus Reisner ausgiebig in seiner Kurzanalyse. Er legt dar, mit welchem Tempo der militärische Gebrauch von Drohnen zugenommen hat und wie erfolgreich die Ukraine diese in der Anfangsphase des Krieges einsetzen konnte. Mittlerweile habe sich das Bild gewandelt und eine Dynamik entwickelt, deren weiterer Verlauf schwer vorauszusehen sei. Eine wichtige Rolle spielten derzeit Verfahren der elektronischen Kriegführung für die Störung von Drohnen. Auch hätten Beobachtungsdrohnen und die mit ihnen verbundenen Fähigkeiten zum zeitnahen Einsatz von Feuer ein „gläsernes Schlachtfeld“ entstehen lassen, das größere militärische Angriffsoperationen erschwere.

Der Besprechungsteil präsentiert sieben Studien (bzw. einen Artikel) über militärische Lehren aus dem Ukraine-Krieg, die in der internationalen sicherheitspolitischen Debatte derzeit im Fokus stehen. Im Wesentlichen geht es darum, Schlussfolgerungen für künftige regionale Kriege ziehen zu können, in die die USA oder die NATO durch Russland oder China verwickelt werden könnten.

Einen Schwerpunkt des Besprechungsteils bildet die Informationskriegsführung. Zwei Analysen stellen die Vorbereitung des Ukraine-Kriegs im Informationsraum vor bzw. die Manipulation der öffentlichen Meinung in Russland. Man muss heute davon ausgehen, dass die Mehrheit der russischen Bevölkerung den Propagandalügen des Putin-Regimes Glauben schenkt und der Ansicht ist, dass die russischen Streitkräfte in der Ukraine einen Verteidigungskrieg gegen den Westen führen. Dem Thema Informationskriegsführung bzw. der Steuerung von Narrativen widmet sich auch die Kurzanalyse von Joachim Krause. Sie hinterfragt die Rolle der anwendungsorientierten Sozialwissenschaften in Deutschland bei der Formierung einer deutschen Politik, die sich durch strategische Blindheit und krasse Fehleinschätzungen der russischen Politik auszeichnete. Während die Osteuropaforschung und die strategische Wissenschaft vor dieser Politik warnten, hätten Friedensforscher diese Politik der friedenspolitischen Illusionen und der Anerkennung russischer Einflusssphären in Osteuropa intellektuell untermauert.

Ein wichtiger Aspekt des gegenwärtigen Informationskriegs ist auch die Debatte um die Urheberschaft der Sprengung von drei Nord-Stream-Pipelines im September 2022. Besonders das Nachrichtenmagazin der SPIEGEL versucht immer wieder, mit grellen Thesen und Andeutungen angeblicher Erkenntnisse von „Sicherheitskreisen“ die Verantwortung der Ukraine zuzuschreiben. In dieser Ausgabe von SIRIUS befindet sich ein Interview mit einem anerkannten Sachverständigen für Sprengstoffthemen, der sachlich erklärt, was wir wissen und was nicht und welche Thesen über die Urheber plausibel sind und welche nicht.

Darüber hinaus wird ein Buch über die russischen Nachrichtendienste besprochen sowie das neueste Buch von Herfried Münkler.

Den Abschluss bildet ein Nachruf auf Professor Dr. Helga Haftendorn, die im November 2023 im Alter von 90 Jahren gestorben ist. Sie war nicht nur eine exzellente Wissenschaftlerin, sondern hat auch viele Menschen an die wissenschaftliche Beschäftigung mit strategischen Fragen herangeführt.

Wir wünschen allen Leserinnen und Lesern eine angenehme, interessante und aufschlussreiche Lektüre.

Die Herausgeber

Online erschienen: 2024-03-05
Erschienen im Druck: 2024-03-01

© 2024 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von De Gruyter.

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz.

Articles in the same Issue

  1. Titelseiten
  2. Editorial
  3. Editorial
  4. Aufsätze
  5. Schwäche ist tödlich – Warum Putin die Ukraine angegriffen hat und wie der Krieg beendet werden muss
  6. Wie man Russland schlagen kann – Lektionen aus dem Verteidigungskrieg der Ukrainer
  7. Eine fragmentierte Rüstungsindustrie – Europas strategischer Nachteil
  8. Kurzanalysen
  9. Die nasse Flanke des Russland-Ukraine-Kriegs – Lektionen für die moderne Seekriegsführung und die Marine
  10. Weltraumkapazitäten im Ukraine Krieg
  11. Die Kalaschnikows der Lüfte – Drohnenkriegsführung im Ukraine-Krieg
  12. Konnte man den Krieg Russlands gegen die Ukraine vorhersehen?
  13. Kommentar
  14. Kriege verhindern – Kriege führen – Kriege beenden: Zehn Lektionen aus drei aktuellen Kriegen
  15. Interview
  16. Was wissen wir über die Anschläge auf die Nord Stream-Pipelines vom September 2022?
  17. Ergebnisse internationaler strategischer Studien
  18. Politisch-strategische Lehren aus dem Ukraine Krieg
  19. Alina Polyakova/Edward Lucas/Mathieu Boulègue/Catherine Sendak/Scott Kindsvater/Ivanna Kuz/Sasha Stone: A New Vision for the Transatlantic Alliance: The Future of European Security, the United States, and the World Order after Russia’s War in Ukraine. Brüssel: Center for European Policy Analyses, November 2023
  20. Anthony H. Cordesman: The Lasting Strategic Impact of the War in the Ukraine. Washington, D.C.: Center for Strategic and International Studies, Juli 2023
  21. Militärische Lehren aus dem Ukraine-Krieg
  22. Katie Crombe/John A. Nagl: A Call to Action – Lessons from Ukraine for the Future Force, Parameters,53, no. 3 (2023), S. 19–28
  23. Marta Kepe: Logistics and Sustainment in the Russian Armed Forces. Santa Monica: Cal.: The RAND Corporation (Research Report), November 2023
  24. Mason Clark/Karolina Hird: Russian Regular Ground Forces Order of Battle. Washington, D.C.: Institute for the Study of War 2023
  25. William Alberque/Douglas Barrie/Zuzanna Gwadera/Timothy Wright: Russia’s War in Ukraine: Ballistic and Cruise Trajectories. London: International Institute for Strategic Studies, Oktober 2023
  26. Jack Watling/Nick Reynolds: Stormbreak – Fighting Through Russian Defences in Ukraine’s 2023 Offensive. London: Royal United Services Institute, September 2023
  27. J. Matthew McInnis: Russia and China look at the Future of War. Washington, D.C.: Institute for the Study of War, September 2023
  28. Andrew Metrick: Rolling the Iron Dice. The Increasing Chance of Conflict Protraction. Washington, D.C.: Center for a New American Security (CNAS) 2023
  29. Lehren aus dem Ukrainekrieg im Bereich Informationskriegsführung
  30. Nika Aleksejeva: Narrative Warfare. How the Kremlin and Russian News Outlets Justified a War of Aggression against Ukraine. Washington, D.C.: The Atlantic Council (Digital Forensic Research Lab – DFRLab), Februar 2023
  31. Denis Volkov/Andrei Kolesnikov: Alternate Reality: How Russian Society Learned to Stop Worrying About the War. Washington, D.C. Carnegie Endowment, November 2023
  32. Russland und die Auswirkungen von Sanktionen
  33. Alexandra Prokopenko: Permanent Crisis Mode – Why Russia’s Economy has been so resilient against Sanctions. Berlin: Zentrum für Osteuropa und Internationale Studien, November 2023
  34. Buchbesprechungen
  35. Herfried Münkler: Welt in Aufruhr – Die Ordnung der Mächte im 21. Jahrhundert. Berlin: Rowohlt Verlag 2023, 527 Seiten
  36. Kevin P. Riehle: Russian Intelligence. A Case-based Study of Russian Services and Missions Past and Present. Bethesda, MD.: United States Government National Intelligence Press 2022, 368 Seiten
  37. Nachruf
  38. Helga Haftendorn 1933–2023
  39. Bildnachweise
Downloaded on 9.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/sirius-2024-1001/html
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