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Andreas Wagener / Carsten Stark (Hrsg.), Die Digitalisierung des Politischen: Theoretische und praktische Herausforderungen für die Demokratie. Wiesbaden: Springer VS 2023, 338 S., kt., 64,99 €

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Published/Copyright: August 29, 2024
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Andreas Wagener / Carsten Stark (Hrsg.), Die Digitalisierung des Politischen: Theoretische und praktische Herausforderungen für die Demokratie. Wiesbaden: Springer VS 2023, 338 S., kt., 64,99 €


Der Sammelband von Andreas Wagener und Carsten Stark behandelt den Einfluss der Digitalisierung auf politische Prozesse in 14 Beiträgen aus der Soziologie, den Politikwissenschaften, der politischen Bildung und der Wirtschaft. Folgende Forschungsperspektiven bilden den Rahmen: Legitimation digitaler Politik & Partizipation, Digitaler Staat und Verwaltung, Digitale Meinungsbildung und Öffentlichkeit und Neue Akteure. Die ausgewählten Bereiche erscheinen als sinnvolle Unterteilungen und lassen auf spannende Einsichten hoffen.

Beim Einstieg in das Thema zu Legitimationsproblemen analoger Staatlichkeit von Carsten Starks Beitrag fehlen der rote Faden und eine klare Zielsetzung für die Leser:innen. Um seine Grundthese der Verursachung demokratischer Probleme durch die Verschränkung politischer Diskurse mit sozialen Medien zu beweisen, beginnt Stark bei Emmanuel Kant. Er beschreibt dessen Idee der idealen demokratischen Gesellschaft und orientiert sich an Kants Vernunftbegriff, um daran aufzuzeigen in welcher Diskrepanz die aktuelle demokratische Beschaffenheit dazu steht. Stark führt aus, dass „soziale Medien [...] die Funktionsweise der Aufklärungsdemokratie infrage“ (S. 9) stellen würden. Die Zusammenhänge bleiben teils unklar.

Oberflächlich bleibt es auch bei Susanne Rentsch, die in ihrem Artikel mögliche Formen von Diskriminierungen durch KI und entsprechende Lösungsansätze dagegen untersuchen möchte. Rentsch benutzt dafür einen sehr weiten KI-Begriff, wozu sie Gesichtserkennung, personalisierte Anzeigen von Netflix, Spotify und Co. oder den Newsfeed bei Instagram aufzählt (vgl. S. 25). Die von ihr vorgestellten Diskriminierungslogiken sind in den Sozialwissenschaften altbekannt und lassen neue Einblicke missen.

Ausgangspunkt von Gabriel Bartls Beitrag ist die Beobachtung, dass die Politik in Krisenzeiten zunehmend auf wissenschaftliches Wissen zurückgreift, um handlungsfähig zu bleiben. Dieser Rückgriff erfolge jedoch immer nur selektiv und würde nur genutzt, um einer gewünschten Position Gehör zu verschaffen. Politikversuche laut Bartl die den Technologien zugeschriebene Eigenschaften der Objektivität als Legitimation für Entscheidungen zu benutzen. Die Aufgabe der Politik sei es jedoch darüber hinaus Interessen abzuwägen und die Bürger miteinzubeziehen (S. 45–46). Bartl sieht aufgrund dieser Entwicklungen in der Digitalisierung des Politischen eine Gefahr für demokratische Prozesse. Sein Anspruch, den er zu Beginn des Beitrags stellt, ethische Fragen vor den genannten technischen Bedingungen kritisch zu reflektieren, wird er nur bedingt gerecht.

Johannes Varwick und Oscar Prust konzentrieren sich in ihrem Beitrag auf Sicherheitspolitik, mit Fokus auf die Entwicklung militärischer Robotik und Drohnentechnologie. Der Beitrag setzt sich mit der Bedeutung der KI für die Sicherheitspolitik auseinander, bisherigen Legitimationsmechanismen, die auch für eine Kontrolle KI-basierter Systeme geeignet sind und damit, wie die Rahmenbedingungen parlamentarischer Kontrolle in Deutschland in ihrem Einsatz geregelt sind und Kontrolldefizite kompensiert werden können. Der Artikel setzt sich tiefgreifend mit einem Nischenthema und dessen Risiken und Auswirkungen auseinander.

Der Beitrag von Florian Hartleb liest sich wie ein Werbetext für die Digitalisierungsleistung Estlands. So werden in dem Beitrag sämtliche Digitalisierungsneuheiten von Estland aufgezählt und ein positives Beispiel an das Nächste gereiht. In der Abhandlung der Risiken fehlt die kritische Diskussion der vorangegangenen Aspekte, dagegen werden die genannten Beispiele nur genutzt, um sie als überwindbar und lösbar darzustellen. Eine kritische Auseinandersetzung, z. B. von möglichem Datenmissbrauch, wird nicht angesprochen. Selbst die Cyberangriffe 2007, bei denen Estlands Regierungsseiten und Online-Banking-Dienste angegriffen wurden, finden keine Erwähnung. Im Fazit wird noch ein Gespräch mit dem Gründer von Nortal, des größten estländischen Anbieters von E-Lösungen zitiert, der dort kundtut: „[...] dass Deutschland sich das Leben im Grunde selbst schwer mache“ (S. 113). Diese Ausführungen werden weder Wissenschaftlichkeit noch Objektivität gerecht.

Im Gegensatz dazu leistet Janine Schmoldt mit ihrem Artikel einen interessanten Mehrwert bei ihrer Analyse von Hackeraktivitäten in der möglichen Dualität von Aktivismus oder politischer Unterstützung. Sie zeigt eine spannende Perspektive auf, wie sich die Rollen vermischen können, indem sie beide Seiten mit Beispielen belegt und beide Profile differenziert und detailliert erörtert.

Einen ähnlich aufschlussreichen Einblick liefert Andreas Langenohl mit seinem Beitrag zu transaktionaler Politik. Er untersucht politische Vorhersagemärkte, auf denen Szenarien zukünftiger politischer Entwicklungen gehandelt werden: Teilnehmer:innen spekulieren über das mögliche Eintreten von Ereignissen, wobei politischen Szenarien ökonomische Werte zugeordnet werden und die Eintrittswahrscheinlichkeit abbilden. Langenohl gibt mit seinem Beitrag interessante Einblicke und Beispiele in eine eher unbeachtete Nische und somit einen spannenden Mehrwert, um die Dimensionen digitalisierter Politik zu begreifen.

Der Artikel von Pauline Boos, Celine Geckil und Judith Muster diskutiert die Digitalisierung der Verwaltung aus organisationssoziologischer Sicht. Gegenstand der Untersuchung ist dabei, das Ziel der Politik, alle Verwaltungsleistungen digital bereitzustellen. Laut Autorinnen liegt das Problem bei den Digitalisierungsschritten auf der Darstellungsebene: Das sind die Unsichtbarkeit digitaler Verfahren, die fehlende Transparenz und Nachvollziehbarkeit der einzelnen Schritte. Diese Problemkomplexe beeinträchtigen laut Autorinnen die Legitimation digitaler Verwaltungshandlungen, da üblicherweise Legitimation in der Verwaltung über die Darstellungsebene hergestellt würde.

Nicole Raddatz widmet sich der Untersuchung von Partizipation in Online-Verkehrsplanungsprozessen. Anhand verschiedener Beispiele vermag der Artikel gut aufzuzeigen, an welchen Prozessen es bei der Kommunikation zwischen Politik und Zivilgesellschaft scheitert. Anhand treffender Belege stellt sie dar, dass die Onlinepartizipation unter anderem häufig daran versagt, dass eine Mitgestaltung durch Bürger:innen von Seiten der Politik nicht vorgesehen bzw. gewünscht ist.

Der Artikel des Sammelbandherausgebers Andreas Wagener „Algorithmic Regulation“ lässt dagegen an wissenschaftlicher Neutralität und Genauigkeit missen. Der Autor nutzt den Begriff der Plattformen für allerlei Beschreibungen ohne Eingrenzungen zu treffen. Darüber hinaus gibt er bereits bekannte Interpretationsrichtungen davon wieder, was Fake News und Filter Bubbles bedeuten, ohne kritisch zu beleuchten, wofür diese Worthülsen im heutigen Kontext tatsächlich stehen. Seine Schlussfolgerung, es müsse ein neues Eigentumsrecht an Daten geben, welches bei den Nutzer:innen liege, verwirft er letztendlich wieder, da es unklar sei, ob den bestehenden Problemen überhaupt mit regulierenden Eingriffen begegnet werden könne.

Frederic Heyen und Sabine Manzel argumentieren ähnlich wie ihr Vorredner, indem sie Filterblasen und Echokammern lang und breit zum Problemfeld erklären, nur um dann in einem Absatz mit anderen Studien zu belegen, dass diese Phänomene nicht ausreichend nachzuweisen sind. Das von den Autor:innen entworfene gesellschaftliche Bedrohungsszenario, wird von ihnen selbst ohne neue Erkenntnisse entkräftet. Es mangelt nicht nur an einer Fragestellung, die den Artikel begleitet, sondern auch an einer stringenten Fokussierung: Mal geht es um die Gefahr der Meinungsfreiheit in Russland, welche durch den Krieg in der Ukraine noch gesteigert sei, dann um die politische Mündigkeit von Kindern, um daraufhin wieder die Gefahr der Algorithmen auf Tiktok zu beschreiben. Gespickt mit persönlichen Wertungen und Wiederholungen aus bereits bekannten Untersuchungen liest sich dieser Artikel wie eine Echokammer seiner selbst.

Der darauffolgende Beitrag zielt in die gleiche Richtung und noch darüber hinaus, indem er untersucht, welche Auswirkungen die massenmediale Kommunikation auf die Funktionsweise der Öffentlichkeit hat. Kevin Settles geht dabei deutlich strukturierter als seine Vorgänger:innen vor und nimmt die Leser:innen mit auf die Reise der Entstehung und der Geschichte des Öffentlichkeitbegriffs in Orientierung an Habermas. Bei der Beschreibung der Veränderung, die unser Verständnis von Öffentlichkeit und Privatsphäre kennzeichnen, kommt auch dieser Beitrag nicht ohne die Diagnose von algorithmischen Black-Boxes und bedrohlichen Zerfallsperspektiven aus. Settles verwendet, um die sich ausdifferenzierende Teilöffentlichkeit zu beschreiben, den Begriff der Fragmentierung und untersucht, welche Folgen sich daraus ergeben. Da liegt es nahe, sich an den Begriffen der „Echokammer“ und „Filterblasen“ abermals zu bedienen und Prognosen der Polarisierung zu stellen. Das Überangebot der konsumierbaren Medien, das Tracking und die persönlichen Werbeanzeigen führen Settles zu der Frage, ob die Funktionsweise unserer Öffentlichkeit in Gefahr sei – seine Antworten bleiben ohne neue Erkenntnisse.

Grundlage des nächsten Beitrags ist die Dissertation von Carolin Thiem. Vielleicht liegt es an der Schwierigkeit, ein großes Projekt auf die Größe eines Beitrages zu kürzen, so erscheinen einige Verbindungen zwischen den Teilen zu fehlen. Um ihrer Frage, wie digitale Technologien im Rahmen von Partizipationsprozessen arrangiert werden, nachzugehen, wählt sie den Begriff der Öffentlichkeit als theoretische Rahmung. Warum nicht tiefer auf den Aspekt der Partizipation eingegangen wird, bleibt ebenso unklar wie die Frage, welche digitalen Arrangements bei Thiem gemeint sind. In der Bezugnahme auf die drei zentralen Begriffe der Öffentlichkeit von Thiem, nämlich Inszenierung, Infrastruktur und Spaß, wird nicht klar, von welcher Perspektive aus auf diese Begriffe geschaut wird. Es werden Interviewpassagen interpretiert, ohne klar darzulegen, wie die Schlüsse abgeleitet werden.

Einen spannenden Abschluss bildet Viktoria Röschs Arbeit zu politischen Influencer:innen, die laut Autorin mit und an Gefühlen arbeiten, indem sie politisierende Gefühle etablieren, mobilisieren und modifizieren. Rösch arbeitet das Profil der politischen Influencer:innen heraus, die den Aufbau der eigenen Marke und die Ebene des Politischen mit der des Privaten verknüpft, sodass sie „[...] zu Werbekörpern spezifischer politischer Ideen“ (S. 314) werden. Durch die strategische Herstellung der Nähe zum Publikum, die Verknüpfung verschiedener Alltagserzählungen mit politischen Botschaften gewinnen politische Influencer:innen an Reichweite. Die Emotionsarbeit liegt, wie bei Arlie Russell Hochschild (1983) ebenfalls, einerseits sowohl im Bereich der Authentizität als auch in der Herstellung der emotionalen Gedankennähe zum Publikum.

In der Gesamtbetrachtung des Sammelbands wird die übliche Problemstellung der Digitalisierung in Bezug auf Politik behandelt, dabei fehlt den meisten dieser Arbeiten jedoch eine differenzierte soziologische Analyse der vielseitigen Herausforderungen, die eine eingehendere Tiefe und Facettenreichtum brauchen. Gerade für den Politikbetrieb wäre aber gerade das interessant und unerlässlich. Dabei bedürfte es auch des Muts, gängige Sichtweisen zu verlassen.

Literatur

Hochschild, A. R. (2019). The Managed Heart: Commercialization of Human Feeling. University of California Press.Search in Google Scholar

Online erschienen: 2024-08-29
Erschienen im Druck: 2024-08-28

© 2024 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

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  1. Frontmatter
  2. Frontmatter
  3. Editorial
  4. Symposium
  5. Sahra Wagenknecht gefällt das
  6. Kampf um gesellschaftlichen Zusammenhalt: Münchs Verschiebung der Fronten
  7. „Viel Lärm um nichts“
  8. Essay
  9. Wie unbestimmbar ist Lebensqualität?
  10. Bildungsungleichheit wie in kaum einem anderen Land? Hartmut Essers Frontalangriff auf die Standardposition und das Integrationsmodell in der Bildungsforschung
  11. Themenessay
  12. Soziologische Forschung für nachhaltige Entwicklung
  13. Sammelbesprechung
  14. Soziologie (in) der postdigitalen Gesellschaft
  15. Qualitative Forschung im Lichte neuerer Publikationen
  16. Doppelbesprechung
  17. Zur praktischen Relevanz der Gabentheorie. Analyse des Zusammenwirkens in Organisationen und in der Digitalwirtschaft aus der Perspektive der Gabe
  18. Methodologie der Intersektionalität
  19. Einzelbesprechung Angewandte Soziologie
  20. Christian von Ferber (hrsg. von Alexander Brandenburg), Menschenbild und Gesellschaft. Studien zur Philosophischen Anthropologie, Soziologie und Medizinsoziologie. Baden-Baden: Verlag Karl Alber 2022, 412 S., kt., 89,00 €
  21. Einzelbesprechung Bildungssoziologie
  22. Achim Brosziewski, Lebenslauf, Medien, Lernen: Skizzen einer systemtheoretischen Bildungssoziologie. Weinheim Basel: Beltz Juventa 2023, 243 S., kt., 28,00 €
  23. Einzelbesprechung Digitalisierung
  24. Andreas Wagener / Carsten Stark (Hrsg.), Die Digitalisierung des Politischen: Theoretische und praktische Herausforderungen für die Demokratie. Wiesbaden: Springer VS 2023, 338 S., kt., 64,99 €
  25. Einzelbesprechung Grenzsoziologie
  26. Ulla Connor, Territoriale Grenzen als Praxis. Zur Erfindung der Grenzregion in grenzüberschreitender Kartografie. Baden-Baden: Nomos 2023, 347 S., br., 79,00 €
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  28. Frerk Blome, Universitätskarrieren und soziale Klasse: Soziale Aufstiegs- und Reproduktionsmechanismen in der Rechts- und Erziehungswissenschaft. Weinheim/Basel: Beltz Juventa 2023, 546 S., br., 78,00 €
  29. Einzelbesprechung Kultur und soziale Praxis
  30. Barbara Sieferle, Nach dem Gefängnis. Alltag und unsichtbare Bestrafungen. Bielefeld: transcript Verlag 2023, 234 S., kt., 45,00 €
  31. Einzelbesprechung Organisationssoziologie
  32. Tobias Röhl, Verteilte Zurechenbarkeit: Die Bearbeitung von Störungen im Öffentlichen Verkehr. Frankfurt/New York: Campus 2022, 256 S., br., 39,00 €
  33. Einzelbesprechung Professionssoziologie
  34. Barbara Fillenberg, Akademisierung des Hebammenwesens: Eine empirische Studie am Beispiel Bayerns. Opladen / Berlin / Toronto: Barbara Budrich 2023, 300 S., kt., 68,00 €
  35. Korrigendum
  36. Korrigendum zu: Talcott Parsons, Zur Theorie der sozialen Interaktionsmedien, herausgegeben von Helmut Staubacher und Paul Reichacher. Wiesbaden: Springer 2023, S. 193, kt., 29,99 €
  37. Rezensentinnen und Rezensenten des 3. Heftes 2024
  38. Eingegangene Bücher (Ausführliche Besprechung vorbehalten)
Downloaded on 10.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/srsr-2024-2039/html
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