Rezensierte Publikation:
Ulla Connor, Transnationale Grenzen als Praxis. Zur Erfindung der Grenzregion in grenzüberschreitender Kartografie. Baden-Baden: Nomos, 2023, 347., br., 79,00 €
In der bei NOMOS herausgegebenen Reihe „Border Studies, Cultures, Spaces, Orders“ hat Ulla Connor mit ihrer ethnografisch angelegten Dissertation zur „Territoriale Grenze als Praxis“ einen neuen Band vorgelegt, der dem Anspruch der Reihe, interdisziplinäre Grenzforschung mit innovativen Methoden zu verbinden, mehr als gerecht wird.
Connor folgt in ihrer Studie einem praxeologischen Ansatz, der die Grenzpraktiken in der grenzüberschreitenden Kooperation am Beispiel grenzüberschreitender Kartografie an europäischen Binnengrenzen ins Zentrum der Analyse stellt. Ziel der Untersuchung ist es, das „Potential des Praxisbegriffs für die Grenzforschung“ herauszustellen und „die analytische Rolle, die er in Untersuchungen spielt“ (S. 13) zu hinterfragen.
Hierzu entwickelt sie zunächst einen theoretischen Überblick zur Praxisorientierung in der Grenzforschung (Kapitel 2). Ausgehend von der Beobachtung eines cultural turn in der Grenz- und auch Raumforschung, der nicht nur den Grenzbegriff (von der Linie zum Raum) umgestaltet hat, sondern vor allem neue Fragestellungen und Perspektiven von Grenze in den Fokus rückt und eine bedeutungs- und wissensorientierte Sichtweise auf Grenzen als soziale Phänomene schafft, stellt sie mit Rückgriff auf den Begriff der Praxis eine alternative Konzeptionalisierung von Grenze vor.
Dabei entwickelt Connor einen Praxisbegriff, der explizit als Antwort auf – in ihrer Lesart – überholte Vorstellungen von Grenzen eingeführt wird, um alternative Konzeptualisierungen in der Grenzforschung zu etablieren. Damit stellt sich Connor in die Tradition eines Praxisbegriffs in der Grenzforschung, der mit einer allgemeinen Tendenz zur Dynamisierung und Prozessorientierung in der Untersuchung territorialer Grenzen einhergeht. Ebenso wie der Begriff des "bordering" wird der Begriff der Praxis hier verwendet, um Grenzen als dynamische, prozesshafte Phänomene, als fortlaufende Praktiken und Aktivitäten zu betonen und damit kritisch festgelegte Vorstellungen von stabilen oder klar definierten Grenzen herauszufordern. Ähnlich dem Kulturbegriff im cultural turn wird der Praxisbegriff nicht auf spezifische soziale Bereiche begrenzt, sondern auf verschiedene Dimensionen der territorialen Grenzziehungen ausgedehnt. Dies ermöglicht ein mehrdimensionales Verständnis der Grenze über „Raum, Zeit, Materialität, Körper und Wissen“ (S. 49). Die Einführung des Praxisbegriffs, so die Autorin, markiert so eine Verschiebung von statischen und verdinglichten Konzeptionen territorialer Grenzen hin zu einer Fokussierung auf die sozialen Dynamiken, in denen Grenzen entstehen.
Eine solche Konzeptualisierung von Grenzen als Praxis fordert eine spezifische Herangehensweise an die Untersuchung, bei der Grenzen nicht als selbstverständliche Phänomene betrachtet werden. Stattdessen, so Connors Argument, muss in einer solchen Analyse das Entstehen und Sichtbarwerden von Grenzen im Zentrum der (empirischen) Analyse stehen.
Im 3. Kapitel der Arbeit entwickelt die Autorin daher einen umfassenden Forschungszugang für die Untersuchung von Grenzen als soziale Praxis. Beginnend mit Ausführungen zu Begriff und Theorie der „Praxis“ (3.1), Überlegungen zu „Praxis als Prozess“ (3.2) und der „Multidimensionalität von Praxis“ (3.3), widmet sie sich schließlich Fragen einer Verbindung von Theorie und Empirie in der Untersuchung von Grenzpraxis (3.4) und den „forschungspraktischen Besonderheiten praxissoziologischer Grenzforschung“ (3.5). Das 4. Kapitel widmet sich dem Forschungsdesign der Studie, wobei die Autorin hier zunächst in einer sehr gelungenen Synthese die zuvor herausgearbeiteten Erkenntnisse zur bisherigen Praxisorientierung der Grenzforschung mit Überlegungen zur Praxissoziologie verbindet und schließlich einen eigenen praxissoziologischen Forschungsansatz der Untersuchung von territorialen Grenzen entwickelt, den sie auf ihren Untersuchungsgegenstand, die grenzüberschreitende Kartografie, im 5. Kapitel anwendet.
Mit dieser Fokussierung auf „die Bildpraxis der Grenze“ (S. 154) hat sich die Autorin für einen zweifelsohne originellen und zugleich sehr sinnvollen empirischen Forschungszugang entschieden. Indem sie Bildsprache und Bedeutungskonstruktionen thematischer Karten grenzüberschreitender Regionen untersucht, eröffnet sie den Blick auf die visuelle Praktik der Bedeutungserzeugung des Werdens und Bestehens territorialer Grenzen. Dabei geht es ihr nicht nur darum, existierende Karten zu analysieren, sondern vor allem die dahinterliegende grenzüberschreitende Praxis der Wissensproduktion in der Herstellung dieser Karten zu untersuchen. Zugute kommen ihr dabei der gewählte ethnografischer Zugang und eine grundsätzliche Offenheit für die verschiedenen Facetten des Herstellungsprozesses dieser Karten. Im Ergebnis kann sie so sehr detailliert nachzeichnen, wie in der Praxis grenzüberschreitender Kartografie eine neue Gebietseinheit, die KOREGIO, hervorgebracht wird, indem kleine Gebietseinheiten bis hin zu den nationalen Teilgebieten der KOREGIO definiert und erfasst werden. Obwohl die Datenarbeit nationale Raumpraktiken übernimmt, ist sie gleichzeitig damit beschäftigt, eine „alternative Raumordnung“ aufzubauen, in der Informationen nicht an Staatsgrenzen enden, sondern diese transzendieren. Die KOREGIO wird somit als Raum mit eigenen „grenzregionalen Interessen, Relevanzsetzungen und Grenzen“ (S. 244) etabliert.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der hier vorgeschlagene praxissoziologische Blick auf Grenze einerseits und das Beispiel grenzüberschreitender Kartografie zur Untersuchung von territorialen Grenzen andererseits nicht nur einen recht innovativen, sondern auch einen sehr informativen Zugang zur Erforschung territorialer Grenzen darstellt.
Der von der Autorin entwickelte ethnografisch informierte, praxissoziologische Forschungszugang stellt dabei, auch über den hier vorgestellten Nutzen für die soziologischen Grenzforschung, ein sinnvolles methodisches Design dar, das sicherlich im Anschluss auch in anderen soziologischen Studien gewinnbringend zum Einsatz kommen kann.
Dass dem Buch eine Qualifikationsarbeit – mit den ihr eigenen formalen Anforderungen – zugrunde liegt, macht das Lesen mitunter etwas mühsam. Der vorgestellte Ansatz praxissoziologischer Grenzforschung und die im Zentrum der Arbeit stehende ethnografische Studie sind allerdings so spannend dargestellt, dass man gerne die mitunter etwas umständlichen Exkurse zu theoretischen Vorannahmen und deren Operationalisierungen für den vorliegenden Untersuchungsgegenstand in Kauf nimmt – und belohnt wird mit einer facettenreichen, hoch aktuellen und spannenden Forschung zum Entstehen und Werden von Grenzen.
© 2024 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.
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