Rezensierte Publikation:
Richard Münch, Polarisierte Gesellschaft: Die postmodernen Kämpfe um Identität und Teilhabe. Frankfurt/New York: campus 2023, 449 S., br., 49,00 €
Richard Münch erhebt seine Stimme in der seit Jahren immer heftiger tobenden gesellschaftspolitischen und soziologischen Debatte über gesellschaftliche Polarisierung und den Aufstieg vor allem rechts-, teilweise auch linkspopulistischer politischer Parteien. Münch will sozialwissenschaftliche Vernunft in diese politisch angeheizten Streitigkeiten bringen und kommt in der Einleitung schnell zum Thema. Er sieht in unserer Gesellschaft – trotz immer wieder vergleichenden Blicken auf andere westeuropäische Länder und die USA gilt sein Interesse vorrangig Deutschland – „Spaltungen und Polaritäten [...], die es in dieser Tiefe und Schärfe in Jahrzehnten der Expansion der Massenwohlstandsgesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg nicht gegeben hat“ (S. 13).
Dabei geht es um zwei Arten von Ungleichheiten: Ungleichheiten der Verteilung vor allem von Einkommen und Vermögen, aber auch von Bildungschancen, sowie Ungleichheiten der Anerkennung von Lebensweisen, die sich in mangelndem Respekt und Diskriminierung äußern. Münchs theoretischer Ausgangspunkt hierzu ist, dass Verteilungsungleichheiten und die daraus hervorgehenden Konflikte und Polarisierungen die eindeutig gewichtigeren Ursachen von Populismus sind als Konflikte über Lebensweisen. Sehr pointiert heißt es: „Die Kulturkämpfe und Identitätskonflikte sind im Vergleich zu den Verteilungskonflikten Kleinigkeiten, die umso weniger Probleme bereiten, je besser die Verteilungskonflikte gelöst und die materiellen Grundlagen einer gut funktionierenden Gesellschaft gesichert sind“ (S. 363). Münch setzt sich damit entschieden immer wieder von Andreas Reckwitz (2019) ab, dem er eine kulturalistische Fehldeutung von Polarisierung und Populismus vorhält. Kurz und knapp zusammengefasst lautet Münchs Kontraposition: „Alle symbolischen Kämpfe um Anerkennung wurzeln in materiellen Kämpfen um die Verteilung knapper Güter, ohne deren eigenständige Untersuchung wir auch die symbolischen Kämpfe nicht zureichend verstehen und erklären können [...]“ (S. 20). Das kommt ziemlich nahe an klassische marxistische „Basis“-„Überbau“-Vorstellungen heran.
Im Weiteren konzentriere ich mich aus Platzgründen auf Kapitel 2 des Buches, das den Kern von Münchs Gesellschaftsdiagnose enthält. Das Kapitel 4 greift die zweifellos auch interessante Frage auf, ob „‘bessere Bildung für Alle‘ wirklich der Schlüssel zur Überwindung der Spaltungen“ (S. 307) sein kann, was Münch mit bedenkenswerten Gründen verneint; und im Kapitel 5 werden andere Möglichkeiten, die Polarisierung und den Populismus zu bekämpfen, diskutiert, wozu Münch keine wirklich neuen Überlegungen beisteuert. Kapitel 3, das sich dem Populismus zuwendet, sprechen ich am Schluss noch kurz an; hier gerät Münch auf Abwege und verschenkt den eigentlichen Ertrag seiner Diagnose.
Kapital 2, das umfangmäßig gut die Hälfte des Buches ausmacht, behandelt nacheinander sechs gesellschaftliche Spaltungslinien, die alle derzeit viel Beachtung finden, freilich oftmals auch teilweise miteinander vermengt oder gar verwechselt werden. Münch versucht sie zunächst einmal auseinanderzuhalten, ohne zu übersehen, dass es deutliche Überschneidungen und Wirkungszusammenhänge zwischen ihnen gibt.
Die erste Spaltungslinie ist die von „Kosmopolitismus versus Kommunitarismus“. Anders als Reckwitz, der hier primär zwei Weisen der Lebensführung aufeinanderprallen sieht, geht es für Münch bei dieser Spaltung zunächst einmal um die Frage, wie angesichts einer globalisierten Wirtschaft noch nationale und lokale demokratische Politik möglich ist. Hier geraten in ökonomischen Verteilungsfragen Nutznießer der wirtschaftlichen Globalisierung – also bestimmte Berufsgruppen und Branchen der ‚neuen Mittelklassen‘ – mit denjenigen aus dem ‚alten Mittelstand‘ und der Arbeiterschaft aneinander, die wirtschaftliche Globalisierungsverlierer sind. Den Kosmopoliten ist mit ihrer globalen Orientierung die nationale und erst recht die lokale Politik generell weniger wichtig – und speziell dann, wenn diese wirtschaftlicher oder kultureller Globalisierung Schranken setzen will, sind sie strikt dagegen. Das erregt den Zorn der Kommunitaristen, die ihre eigene wirtschaftliche Basis in Gefahr sehen oder sogar schon verloren haben.
Die zweite Spaltungslinie „Idealismus versus Materialismus“ ist ein „alter Konflikt in neuer Auflage“ – nämlich „gebildetes versus gewerbliches Bürgertum“ (S. 77): Beruht der soziale Status der Mitglieder oberer sozialer Schichten primär auf Einkommen und Vermögen oder auf Gebildetheit? „Weltzugewandte Macher“ auf der einen, „weltabgewandte Sinnsucher“ (S. 84) auf der anderen Seite – wobei mit der allgemeinen Bildungsexpansion auch immer mehr „Macher“ längst akademisch ausgebildet sind, aber eben in anderen Fächern als die kultur- und teilweise auch sozialwissenschaftlich gebildeten „Sinnsucher“. Es geht also nicht um Akademiker versus Nicht-Akademiker, sondern ist längst eine Konfrontation unter Akademikern; und nach Münchs Einschätzung haben die „Sinnsucher“ insbesondere im Staatsapparat und in großen Teilen der Medien die kulturelle Hegemonie errungen und kümmern sich entsprechend zu wenig um Belange der Wirtschaft und der ‚kleinen Leute‘. Dies verbündet sich oftmals mit kulturellen Anerkennungskonflikten aus der ersten Spaltungslinie, die Münch auf die Formel „weltoffene Urbanität versus kleinstädtisch-ländliche Verwurzelung“ (S. 55) bringt – wobei er deutlich darauf hinweist, dass das keine Gegensätze sein und bleiben müssen.
Die dritte Spaltungslinie „Rechts versus Links“ spaltet sich auf beiden Seiten analog in „postbürgerliche versus altbürgerliche Rechte, postmoderne versus altmoderne Linke“; und „post-„ gegen „alt-„ korreliert jeweils in starkem Maße mit Kosmopolitismus und Kommunitarismus. Das bedeutet ein Verschwimmen der vormals klaren Spaltung, weil es auf einmal in bestimmten Fragen Koalitionen von kommunitaristischen „alten“ Rechten und Linken – siehe z. B. Sahra Wagenknechts neue Partei – gegen kosmopolitische „neue“ Rechte und Linke vor allem bei den Grünen gibt, und umgekehrt. Münch sieht eine Dominanz der „neuen“ Koalition, aber innerhalb dieser einen Primat des Ökonomischen dergestalt, „dass die Entwicklung der Welt mehr durch den rechten Globalismus bestimmt wird, während der linke Globalismus seine Ziele, wenn überhaupt, nur sehr begrenzt erreichen kann“ (S. 96). Der Wohlfahrtsstaat der „altmodernen Linken“ kommt unter die Räder, weil sich die „postmodernen Linken“ nicht um ihn kümmern, und auch die Identitätspolitik Letzterer feiert nur begrenzte Erfolge, weil die „altmodernen Linken“ andere Sorgen haben – eine für die Durchsetzung linker Vorstellungen der Gesellschaftsgestaltung fatale Kräftezersplitterung.
Die vierte Spaltungslinie – „Ökonomie versus Ökologie“ – verläuft entlang zweier gleichermaßen essentieller Erfordernisse gesellschaftlicher Integration: Wirtschaftswachstum und ein daraus finanzierter Wohlfahrtsstaat auf der einen, ökologische Nachhaltigkeit auf der anderen Seite. Letztere erfordert erstens viel Geld, das dann für wohlfahrtsstaatliche Leistungen nicht mehr zur Verfügung steht; zugleich erlegen Nachhaltigkeitsgebote der Wirtschaft Auflagen auf, die Wachstumsverlangsamungen oder gar -schwächungen bewirken, was wiederum die steuerfinanzierten Staatsfinanzen reduziert: nicht nur ein Null-, sondern ein Negativsummenspiel. Münch sieht nur in einer nicht durch staatliche Auflagen drangsalierten Wirtschaft, die profitable technologische Innovationen – auch in Richtung ökologischer Belange – vermarkten kann, einen Ausweg. Doch in dieser Frage stehen dogmatische Klimaaktivist:innen konfrontativ dem ‚Großkapital‘, dem sie nur das Schlechteste zutrauen, sowie dem Gros der Bevölkerung, das die ökologisch problematischen Seiten seines Lebensstils nicht aufgeben will, gegenüber.
Die fünfte Spaltungslinie heißt „Etablierte versus Außenseiter“. Mit Erving Goffmans (1963) Konzept der „spoiled identity“ gesprochen: Es geht um all jene Gruppen, denen irgendeine Art von zugeschriebenem Stigma (Geschlecht, ‚race‘, sexuelle Orientierung, nationale Herkunft, Religionszugehörigkeit etc.) anhaftet, was zunächst einmal eine kulturelle Anerkennungsungleichheit darstellt, aber oft auch darauf hinausläuft, dass Angehörige dieser Gruppen in ökonomischen Verteilungsungleichheiten den Kürzeren ziehen – also etwa bei der Job- oder Wohnungssuche benachteiligt werden. Hier stößt Münchs Argument, dass die ökonomischen Ungleichheiten zuerst kommen und sich daran orientiert erst kulturelle ausbilden, an seine Grenze, wenn z. B. Arbeitgeber einen weißen Arbeitnehmer selbst dann bevorzugen, wenn er schlechter qualifiziert ist, weil er eben weiß ist.
Münchs weitere Überlegungen zu dieser Spaltungslinie gehören zu den reflektiertesten, die es von soziologischer Seite bislang gibt. Ohne im mindesten die Berechtigung von Entstigmatisierung zu bestreiten, zeigt Münch auf, wohin Politiken der ‚Gleichstellung‘ geführt haben, sobald sie im moralischen Furor vergangenes Unrecht nicht bloß beim Namen genannt wissen und beseitigt haben wollen, sondern eine umgekehrt ungerechte neue Verteilungs- und Anerkennungsordnung anstreben, um bisher bevorzugte gesellschaftliche Gruppen wie vor allem die ‚alten weißen Männer‘ ihre Schuld büßen zu lassen und nebenbei die eigenen Schäfchen ins Trockene zu bringen. Messerscharf werden diese Implikationen der postcolonial studies und der critical race theory, aber auch radikaler Zweige des Feminismus herausgearbeitet. Wer diesen Sichtweisen anhängt, gibt schnell Leitwerte der Moderne auf – was viele zweifellos aufgrund politischer Überzeugungen mutwillig tun, sich aber dennoch dann auf moderne Errungenschaften wie die Universalität der Menschenrechte berufen, wenn es ihnen politisch opportun erscheint.
Man muss zwar einerseits sehen: Dieses Denken in nicht ablegbaren Gruppenidentitäten haben die ‚alten weißen Männer‘ mit ihren Stereotypen über Frauen, ‚Wilde‘, Juden, Muslime etc. vorgemacht. Wobei sie auf der anderen Seite für ‚Ihresgleichen‘ durchaus, wie Münch zu Recht betont, den „modernen Statuserwerb durch ‚Achievement‘“ gegenüber der „traditionalen Statuszuweisung durch ‚Ascription‘“ (S. 156) proklamiert haben. Wenn auch ‚vom Tellerwäscher zum Millionär‘ immer beschwichtigendes Gerede war: Beharrlicher sozialer Aufstieg durch je individuelle eigene Anstrengung war und ist unter den Etablierten durchaus nicht nur Schein, sondern mal mehr, mal weniger Realität – und Politiken, die das erleichtern oder den Angehörigen bestimmter Gruppen überhaupt erst ermöglichen wollen, sind zumindest noch nicht von der Bildfläche verschwunden. Anders gesagt: Gruppenzugehörigkeit sollte keine diskriminierende Rolle mehr spielen – und dafür muss gesorgt werden; das impliziert aber, dass umgekehrt auch keine Bevorzugung aus bloßer Gruppenzugehörigkeit erwachsen darf, sondern Leistung zählen muss. Dass hingegen die „Etablierten“ in der Konkurrenz mit „Außenseitern“ weiter ohne Ansehen der Leistung ihren Status halten und die „Außenseiter“ ebenfalls ohne Ansehen der Leistung etabliert werden wollen: Das ist der Konflikt, der sich auch um die Inklusion von Migranten dreht – wobei hier wiederum neben die ökonomische Konkurrenz um Arbeitsplätze und Sozialleistungen die Abwehr bestimmter Migranten wie vor allem Muslime aufgrund empfundener kultureller Fremdheit tritt.
„Herrschende versus beherrschte Klassen und Gruppen“ ist die sechste Spaltungslinie. Hier geht es um die Klassenstruktur, die in Kombination mit den bisher angesprochenen fünf Spaltungslinien dann ein „Gesamtbild“ (S. 186 – siehe auch das Schaubild: S. 202) ergibt, bei dem sich Münch an Pierre Bourdieus Konzeptualisierung des sozialen Raums – Größe des Kapitals zum einen, Kapitalzusammensetzung zum anderen – orientiert. Vertikal lassen sich nach Einkommen und formaler Bildung Ober-, Mittel- und Unterklasse unterscheiden, wobei oben Globalität, auch einhergehend mit Offenheit für Migration, unten Lokalität der „Weltsicht und Lebensführung“ (S. 186) inclusive Ablehnung von ‚zu viel‘ Migration sowie oben „postbürgerliche“ bzw. „postmoderne“, unten „altbürgerliche“ bzw. „altmoderne“ politische Orientierungen und Lebensweisen vorherrschen. Horizontal stehen auf der politisch linken Seite Beschäftigung im Staatsdienst und „Staatsgläubigkeit“ (S. 186) sowie „Idealismus“; in der Kapitalzusammensetzung überwiegt das kulturelle Kapital. Auf der rechten Seite finden sich in der Wirtschaft Beschäftigte, bei denen, je höher sie vertikal positioniert sind, „Marktgläubigkeit“ (S. 186) und das ökonomische Kapital überwiegen.
Die meisten derer, die der gegenwärtigen deutschen Gesellschaft Polarisierungs- und Spaltungstendenzen attestieren, stellen oft nur eine oder zwei dieser Spaltungslinien in den Vordergrund; die anderen werden von ihnen entweder ganz vernachlässigt oder so eingefangen, dass von einer hohen Korrelation mit den hervorgehobenen Spaltungen ausgegangen wird. Münch behauptet demgegenüber, dass die westlichen Gegenwartsgesellschaften nicht bloß in einer einzigen zentralen Hinsicht, sondern in mehreren polarisiert sind, die sich aber nicht einfach auf gleicher Linie aufsummieren, sondern das Bild durch hinreichend große partielle Inkongruenzen noch weiter verkomplizieren. Sein Beharren auf der Vielschichtigkeit des Bildes lässt dann aber natürlich die Frage aufkommen, wie Vielschichtigkeit von Ungleichheiten und dadurch erzeugten Konfliktlagen überhaupt mit Polarisierung und Spaltung zusammengedacht werden kann. Hier war ja Seymour Martin Lipsets (1959) Diagnose, dass sich die Polarität des Klassenkampfs von Kapital und Arbeit spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg jenseits der eingefahrenen Rhetorik von Links und Rechts längst in einem Geflecht mannigfacher „cross-pressures“ verflüchtigt habe. Jemand ist demzufolge eben nicht mehr vorrangig Arbeiter, sondern – in unterschiedlichster Gewichtung – auch noch Katholik, Migrant, weiblich, bildungshungrig, schwul, ökologiebewusst etc. Und diese einander vielfältig überlagernden „cross-pressures“ depolarisieren, weil genügend Gesellschaftsmitglieder in einem Konflikt entlang einer dieser Linien auf der Gegenseite genügend viele andere sehen, mit denen man in anderen Hinsichten Gemeinsamkeiten hat.
Wieso diagnostiziert Münch dennoch Polarisierung? Dazu, wie man sich das genauer vorzustellen hat, äußert er sich nur wenig und vor allem vage bleibend. Er scheint davon auszugehen, dass Lipsets Überlegung nicht mehr gilt. Lipset ging davon aus, dass ein im Vordergrund stehender Konflikt durch – oft nur unterstellte – Hintergrund-Übereinstimmungen neutralisiert wird. Heute – so kann man Münch verstehen – kann aber bereits eine Konfliktlinie dafür ausreichen, dass auch vielfache Übereinstimmungen in anderen Hinsichten nicht mehr zählen, sondern man sich etwa allein aufgrund der Differenz in der ökologischen Frage in eine dann alle sonstige Einigkeit ausblendende Freund/Feind-Gegnerschaft zueinander positioniert. Während in der Marxschen Fehlprognose einer sich perfekt polarisierenden Zwei-Klassengesellschaft zugespitzt alle Gründe, jemand anderen als ‚Klassenfeind‘ zu rubrizieren, zusammenfallen, gibt es gemäß Münchs Polarisierungsdiagnose heute eine Vielzahl solcher Gründe – und jemand hat die freie Wahl, worüber er oder sie sich aufregen will. Der prekär beschäftigte Auslieferungsfahrer beispielsweise sieht sich in einer Mehrfronten-Polarisierung u. a. mit den Superreichen und Neoliberalen, mit Der Letzten Generation und mit grünen ‚Öko-Spinnern‘ und ‚Multikulti‘-Hardlinern. Dabei reichte schon einer dieser Gegner aus, um ihm das Leben schwer zu machen; und mit keinem der anderen kann er sich verbünden, weil diese aus anderen Gründen ebensolche Gegner sind, mit denen man sich nicht einlassen darf. Dieselbe ‚multiple Polarisitis‘, nur in vielen anderen spezifischen Ausprägungen, lässt sich in allen anderen gesellschaftlichen Lagen zumindest als Potential ebenfalls vorfinden.
Diese hoch interessante Antithese zu Lipset – wenn es das ist, was Münch meint – müsste nun näher begründet werden: Wie kann es sein, dass „cross-pressures“ damals depolarisierend waren und heute polarisierend wirken? Ein Erklärungsfaktor, den Münch anspricht und der gut in seine Vorstellung des Vorrangs ökonomischer vor kulturellen Faktoren passt, ist das verlässliche Wirtschaftswachstum und das damit einhergehende Wachstum des Lebensstandards bis in die 1970er Jahre – im Unterschied zu danach folgenden turbulenteren Zeiten mit entsprechenden ökonomischen Unsicherheiten und zunehmenden Ungleichheiten, die eine um sich greifende Gereiztheit hervorbringen. Ob das alles ist, oder ob auch eine ökonomisch gesicherte Existenzgrundlage nicht verhindert, dass jemand zunehmend irritiert auf kulturell Fremdes im eigenen Umfeld reagiert, wäre wieder eine Rückfrage an Münchs ökonomistische Sicht der Dinge. Vielleicht hat ihn der erkennbare Ärger über Reckwitz‘ Kulturalismus zu sehr ins andere Extrem getrieben. Bei genauerem Hinsehen richten sich alle Menschen gerne im Gewohnten-Geliebten ein – nur dass dies bei einigen „Kosmopoliten“ der regelmäßig benötigte ‚Tapetenwechsel‘ ist.
Die tiefer greifende kritische Rückfrage ist allerdings: Macht es Sinn, das, was Münch beobachtet, als gesellschaftsweite Polarisierung und Spaltung zu begreifen? Man sollte, um einen inflationären Gebrauch des Begriffs zu vermeiden, Polarisierung als eine Konfliktdynamik begreifen, die eine multipolare Konstellation in eine bipolare transformiert, also eine komplizierte Gemengelage von Differenzen, die vielleicht auch bereits konflikthaft sind, in ein einfaches Ordnungsmuster überführt, das fortan die Gesellschaft als Ganze strukturiert: Die Konfliktbeteiligten sortieren sich selbst und einander wechselseitig in zwei und nur zwei Lager, die einander konfrontativ gegenüberstehen; und diese beiden Lager müssen zusammen das Gros derer inkludieren, die gesellschaftlich ‚etwas zu sagen‘ haben. So besehen wendet Münch den Polarisierungsbegriff falsch auf die geschilderte Figuration seiner sechs Spannungslinien an, zeigt er doch selbst immer wieder auf, dass aus diesen Spannungen mehr als zwei Lager hervorgehen.
Man könnte es sich nun leicht machen und ihm unterstellen, dass ihm dieser analytische Fehlgriff deshalb unterläuft, weil er publikumswirksam dramatisieren will, was ihm an unserer derzeitigen gesellschaftlichen Lage missfällt und seiner Ansicht nach dringend verändert werden muss. Doch seine Diagnose auf solch eine politische Mission – die ihr zweifellos auch innewohnt – zu reduzieren, übersähe den Erkenntnisgewinn, der darin besteht, dass Münch mit dem, was er fälschlich als Polarisierung charakterisiert, etwas Drittes zwischen Polarisierung auf der einen und Depolarisierung durch „cross-pressures“ auf der anderen Seite entdeckt. Er diagnostiziert Polarisierungen, die zwar je für sich gesellschaftsweit harmlos sind, aber sehr lärmig daherkommen und in der Summe „viel Lärm um nichts“ erzeugen.
Harmlos sind sie, weil mindestens auf einer der beiden Seiten, oft aber auch auf beiden nur kleine oder wenig machtvolle oder in der Sache gar nicht so interessierte Gruppen stehen. Die mögen sich noch so sehr angiften oder sogar die Köpfe einschlagen: Die Gesellschaft als Ganze polarisiert das zumeist nicht. Die Autofahrer vergessen die Letzte Generation nach dem Ärger über den Verkehrsstau schnell wieder und wählen deshalb nicht gleich die FDP oder gar die AfD; und die Empörung der Schwulen über die ihre sexuelle Orientierung als krankhaft einstufenden Katholiken hält sich in Grenzen, solange Letztere gesellschaftlich nicht den Ton angeben. Dennoch gibt es heutzutage eben dennoch einen lautstarken und vergifteten – da spielen die Kommunikationsstrukturen der sozialen Medien mit hinein – Tonfall solcher Konfrontationen. Das lässt sie stets weit bedeutsamer erscheinen, als sie tatsächlich sind, wenn man die jeweils geringe Zahl ernsthaft Involvierter und deren entsprechend begrenzte Wirkmöglichkeiten in Rechnung stellt. Mit dieser Art von schriller Begleitmusik sorgt eine multipolare Konstellation, anders als beim von Lipset betrachteten Typus, nicht für Befriedung, sondern erzeugt ein Wirrwarr zorniger Minderheiten, die kreuz und quer durcheinander auf ihre jeweiligen Gegner losgehen. Dass alle dabei immer lauter werden, ist leicht erklärbar: Sie wollen ja in der Kakophonie der jeweils anderen Gegnerschaften von ihrem je eigenen Gegner noch gehört werden. Und Lipsets Zuversicht, dass jeweils nicht zu einer bestimmten Gegnerschaft Gehörende mäßigend auf deren Protagonisten einwirken, kann man angesichts dessen nicht mehr haben. Wenn alle einander wechselseitig ins immer lautere Brüllen hineintreiben, entstehen daraus im Gegenteil Sekundär-Gegnerschaften zusätzlich zu derjenigen, in die man eigentlich involviert ist: Man nimmt es allen anderen übel, dass sie einem immer mehr Anstrengung abfordern, um zu dem, den man als eigentlichen Gegner sieht, überhaupt noch durchdringen zu können. „Viel Lärm um nichts“ kann sich auf diese Weise in eine gesellschaftsweite Konfliktintensität hineinsteigern, die derjenigen von gesellschaftlicher Polarisierung in nichts nachsteht, aber eben ganz anders beschaffen ist.
So etwa muss man sich Münchs Typus von Multipolarität vorstellen. Darauf, wie er diese in der Tat interessante, vieles der heutigen gesellschaftlichen Situation einfangende und so gründlich bislang noch nicht präsentierte Diagnose in der von mir skizzierten Richtung weiter ausarbeitet, hätte man gespannt sein können. Stattdessen schließt Münch im Kapitel 3 wie angekündigt mit einer Analyse des Populismus an. Das bleibt zum einen, gemessen am Forschungsstand, wenig ergiebig, zum anderen mit Blick auf die vorgestellte eigene Diagnose sehr verengt. Beides kann ich hier nur noch sehr kurz andeuten.
Münch geht davon aus, dass sich in den gegenwärtigen populistischen Bewegungen alle sechs Spaltungslinien, die er aufzeigt, widerspiegeln. Er wendet sich damit gegen verengte Deutungen, die nur auf eine oder höchstens zwei dieser Spaltungen hinweisen. In der Einleitung des Kapitels deutet er dies sehr plakativ an (S. 215–216). Im Weiteren geht er aber dann nicht diesen Spaltungslinien nach, sondern gliedert seine Darlegungen, eingetretene Pfade nehmend, in kulturelle, politische und ökonomische Ursachen, wobei für ihn letztere weiterhin am bedeutsamsten sind. Unter diesen Überschriften referiert und kommentiert er die einschlägige Literatur und spricht immer wieder auch seine sechs Spaltungslinien an, ohne aber Punkt für Punkt aus diesen bestimmte Ausprägungen des Populismus herzuleiten. Damit tut sich eine Argumentationslücke zwischen den Kapiteln 2 und 3 auf. Für die Erklärung des Erstarkens des Populismus wird nicht systematisch auf die Konfiguration der sechs Spaltungslinien rekurriert.
Hätte Münch diesen Weg eingeschlagen, wäre er auf ein weiteres Problem gestoßen. Es stimmt zwar, dass alle sechs Spaltungslinien Stoff für populistische Empörungen liefern – doch nicht alle in gleichem Maße und zur gleichen Zeit und vor allem nicht bei denselben Personen. Einiges spricht dafür, dass der Populismus an Issues nimmt, was er kriegen kann, um sein eigentliches Thema zu befeuern: die Spaltungslinie von ‚Establishment‘ versus ‚Volk‘. Münch selbst spricht dies zwar auch an, es müsste aber in seiner Diagnose eine siebte Spaltungslinie sein, die nicht mit „Herrschende versus Beherrschte“ identisch ist. Letztere ist als eine objektiv gegebene gemeint, während ‚Establishment‘ versus ‚Volk‘ ein intersubjektiv geteiltes Zerrbild auf Seiten derer ist, die sich ‚Volk‘ nennen.
Durch seine Fixierung auf den Populismus übersieht Münch weiterhin, was die noch gravierendere Blickverengung ist: dass alle sechs Spaltungslinien, wie er selbst zeigt, keineswegs nur Populisten auf den Plan rufen. Auch FDP und Grüne z. B. stehen einander in einem erbitterten Dauerstreit über „Ökonomie versus Ökologie“ gegenüber. Die anderen politischen Kräfte, die sich entsprechend ihrer Programmatik und Trägergruppen mit diesen Spaltungslinien befassen und untereinander auseinandersetzen, kommen im Kapitel 3 jedoch vor allem in ihrer Gegnerschaft zu den Populisten in den Blick. Das ist ein relevanter Aspekt, aber weder der einzige noch auch der wichtigste, der betrachtet werden muss, wenn man die politischen Dynamiken erklären will, die sich einerseits aus den Spaltungslinien ergeben und diese andererseits zu gestalten versuchen.
In der Summe handelt es sich trotz der angesprochenen Fehleinschätzungen bestimmter Aspekte der Thematik um ein äußerst lesenswertes Buch, will man begreifen, was unsere Gesellschaft derzeit umtreibt – und wohin es sie treiben könnte. In der Auseinandersetzung über diese Fragen ist Münchs Beitrag eine unentbehrliche Stimme.
Literatur
Goffman, E. (1963). Stigma. Penguin.Search in Google Scholar
Lipset, S. M. (1959). Political Man. Heinemann.Search in Google Scholar
Reckwitz, A. (2019). Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne. Suhrkamp.Search in Google Scholar
© 2024 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.
Articles in the same Issue
- Frontmatter
- Frontmatter
- Editorial
- Symposium
- Sahra Wagenknecht gefällt das
- Kampf um gesellschaftlichen Zusammenhalt: Münchs Verschiebung der Fronten
- „Viel Lärm um nichts“
- Essay
- Wie unbestimmbar ist Lebensqualität?
- Bildungsungleichheit wie in kaum einem anderen Land? Hartmut Essers Frontalangriff auf die Standardposition und das Integrationsmodell in der Bildungsforschung
- Themenessay
- Soziologische Forschung für nachhaltige Entwicklung
- Sammelbesprechung
- Soziologie (in) der postdigitalen Gesellschaft
- Qualitative Forschung im Lichte neuerer Publikationen
- Doppelbesprechung
- Zur praktischen Relevanz der Gabentheorie. Analyse des Zusammenwirkens in Organisationen und in der Digitalwirtschaft aus der Perspektive der Gabe
- Methodologie der Intersektionalität
- Einzelbesprechung Angewandte Soziologie
- Christian von Ferber (hrsg. von Alexander Brandenburg), Menschenbild und Gesellschaft. Studien zur Philosophischen Anthropologie, Soziologie und Medizinsoziologie. Baden-Baden: Verlag Karl Alber 2022, 412 S., kt., 89,00 €
- Einzelbesprechung Bildungssoziologie
- Achim Brosziewski, Lebenslauf, Medien, Lernen: Skizzen einer systemtheoretischen Bildungssoziologie. Weinheim Basel: Beltz Juventa 2023, 243 S., kt., 28,00 €
- Einzelbesprechung Digitalisierung
- Andreas Wagener / Carsten Stark (Hrsg.), Die Digitalisierung des Politischen: Theoretische und praktische Herausforderungen für die Demokratie. Wiesbaden: Springer VS 2023, 338 S., kt., 64,99 €
- Einzelbesprechung Grenzsoziologie
- Ulla Connor, Territoriale Grenzen als Praxis. Zur Erfindung der Grenzregion in grenzüberschreitender Kartografie. Baden-Baden: Nomos 2023, 347 S., br., 79,00 €
- Einzelbesprechung Hochschulforschung
- Frerk Blome, Universitätskarrieren und soziale Klasse: Soziale Aufstiegs- und Reproduktionsmechanismen in der Rechts- und Erziehungswissenschaft. Weinheim/Basel: Beltz Juventa 2023, 546 S., br., 78,00 €
- Einzelbesprechung Kultur und soziale Praxis
- Barbara Sieferle, Nach dem Gefängnis. Alltag und unsichtbare Bestrafungen. Bielefeld: transcript Verlag 2023, 234 S., kt., 45,00 €
- Einzelbesprechung Organisationssoziologie
- Tobias Röhl, Verteilte Zurechenbarkeit: Die Bearbeitung von Störungen im Öffentlichen Verkehr. Frankfurt/New York: Campus 2022, 256 S., br., 39,00 €
- Einzelbesprechung Professionssoziologie
- Barbara Fillenberg, Akademisierung des Hebammenwesens: Eine empirische Studie am Beispiel Bayerns. Opladen / Berlin / Toronto: Barbara Budrich 2023, 300 S., kt., 68,00 €
- Korrigendum
- Korrigendum zu: Talcott Parsons, Zur Theorie der sozialen Interaktionsmedien, herausgegeben von Helmut Staubacher und Paul Reichacher. Wiesbaden: Springer 2023, S. 193, kt., 29,99 €
- Rezensentinnen und Rezensenten des 3. Heftes 2024
- Eingegangene Bücher (Ausführliche Besprechung vorbehalten)
Articles in the same Issue
- Frontmatter
- Frontmatter
- Editorial
- Symposium
- Sahra Wagenknecht gefällt das
- Kampf um gesellschaftlichen Zusammenhalt: Münchs Verschiebung der Fronten
- „Viel Lärm um nichts“
- Essay
- Wie unbestimmbar ist Lebensqualität?
- Bildungsungleichheit wie in kaum einem anderen Land? Hartmut Essers Frontalangriff auf die Standardposition und das Integrationsmodell in der Bildungsforschung
- Themenessay
- Soziologische Forschung für nachhaltige Entwicklung
- Sammelbesprechung
- Soziologie (in) der postdigitalen Gesellschaft
- Qualitative Forschung im Lichte neuerer Publikationen
- Doppelbesprechung
- Zur praktischen Relevanz der Gabentheorie. Analyse des Zusammenwirkens in Organisationen und in der Digitalwirtschaft aus der Perspektive der Gabe
- Methodologie der Intersektionalität
- Einzelbesprechung Angewandte Soziologie
- Christian von Ferber (hrsg. von Alexander Brandenburg), Menschenbild und Gesellschaft. Studien zur Philosophischen Anthropologie, Soziologie und Medizinsoziologie. Baden-Baden: Verlag Karl Alber 2022, 412 S., kt., 89,00 €
- Einzelbesprechung Bildungssoziologie
- Achim Brosziewski, Lebenslauf, Medien, Lernen: Skizzen einer systemtheoretischen Bildungssoziologie. Weinheim Basel: Beltz Juventa 2023, 243 S., kt., 28,00 €
- Einzelbesprechung Digitalisierung
- Andreas Wagener / Carsten Stark (Hrsg.), Die Digitalisierung des Politischen: Theoretische und praktische Herausforderungen für die Demokratie. Wiesbaden: Springer VS 2023, 338 S., kt., 64,99 €
- Einzelbesprechung Grenzsoziologie
- Ulla Connor, Territoriale Grenzen als Praxis. Zur Erfindung der Grenzregion in grenzüberschreitender Kartografie. Baden-Baden: Nomos 2023, 347 S., br., 79,00 €
- Einzelbesprechung Hochschulforschung
- Frerk Blome, Universitätskarrieren und soziale Klasse: Soziale Aufstiegs- und Reproduktionsmechanismen in der Rechts- und Erziehungswissenschaft. Weinheim/Basel: Beltz Juventa 2023, 546 S., br., 78,00 €
- Einzelbesprechung Kultur und soziale Praxis
- Barbara Sieferle, Nach dem Gefängnis. Alltag und unsichtbare Bestrafungen. Bielefeld: transcript Verlag 2023, 234 S., kt., 45,00 €
- Einzelbesprechung Organisationssoziologie
- Tobias Röhl, Verteilte Zurechenbarkeit: Die Bearbeitung von Störungen im Öffentlichen Verkehr. Frankfurt/New York: Campus 2022, 256 S., br., 39,00 €
- Einzelbesprechung Professionssoziologie
- Barbara Fillenberg, Akademisierung des Hebammenwesens: Eine empirische Studie am Beispiel Bayerns. Opladen / Berlin / Toronto: Barbara Budrich 2023, 300 S., kt., 68,00 €
- Korrigendum
- Korrigendum zu: Talcott Parsons, Zur Theorie der sozialen Interaktionsmedien, herausgegeben von Helmut Staubacher und Paul Reichacher. Wiesbaden: Springer 2023, S. 193, kt., 29,99 €
- Rezensentinnen und Rezensenten des 3. Heftes 2024
- Eingegangene Bücher (Ausführliche Besprechung vorbehalten)