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Achim Brosziewski, Lebenslauf, Medien, Lernen: Skizzen einer systemtheoretischen Bildungssoziologie. Weinheim Basel: Beltz Juventa 2023, 243 S., kt., 28,00 €

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Published/Copyright: August 29, 2024
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Achim Brosziewski, Lebenslauf, Medien, Lernen: Skizzen einer systemtheoretischen Bildungssoziologie. Weinheim Basel: Beltz Juventa 2023, 243 S., kt., 28,00 €


Der Autor des zu besprechenden Buches nennt am Ende seines Werkes drei Ziele, die er einzulösen hoffte: eine alternative Bildungssoziologie; eine theoretische Rahmung, die Bildungssoziologie wieder in den Austausch mit einer allgemeinen Gesellschaftstheorie bringt; und eine Konzeption von Bildung, die Prozesse informellen Lernens aus ihrem Schattendasein befreit (S. 215–216). Man kann nachvollziehen, dass eine alternative Bildungssoziologie, die mehr als nur Macht und Ungleichheit sieht, nützlich für Gesellschaftsanalysen ist, da das Funktionssystem Erziehung viel zu wichtig in der Gesellschaft geworden ist, um nur in Hinblick auf ihren Beitrag zur Reproduktion der Ungleichheitsstruktur analysiert zu werden. Brosziewski ist für die Entwicklung einer Verknüpfung der speziellen Soziologie mit einer allgemeinen Gesellschaftstheorie gut geeignet, da er als Professor für Soziologie an der PH Thurgau über eine lange Forschungs- und Publikationserfahrung systemtheoretischer Bildungssoziologie verfügt. Da konkurrierende bildungssoziologische Theorien etwa von Pierre Bourdieu, James Coleman oder John Meyer durchaus zentrale Beiträge zu einer allgemeinen Gesellschaftstheorie geleistet haben, kann man hier den Anspruch des Autors insofern bescheidener und zutreffender formulieren, dass er anstrebt, eine systemtheoretische Bildungssoziologie Luhmannscher Prägung zu entwickeln, die über Luhmann hinausweist. Das dritte Ziel des Werkes erscheint mir das wissenschaftlich spannendste, insofern Brosziewski den empirisch reichen, aber relativ theoriearmen Feldern der soziologischen Lebenslaufforschung und Biografieforschung einen Theorierahmen anbietet, der Lebenslauf als Medium des Erziehungssystems begreift, bei dessen Prozedierung biografische Erzählungen erwachsen.

Das Buch beginnt leserfreundlich mit einer Merkformel und einer Leitthese. „Der Lebenslauf zählt das Leben, die Biographie erzählt das Leben, und die Karriere bewertet das Leben“ (S. 9). Die Leitthese, dass der Lebenslauf als ein symbolisch generalisiertes Medium der Kommunikation des Erziehungs- und Bildungssystems begriffen werden kann, wird über acht Kapitel entfaltet und macht den Kern der systemtheoretischen Argumentation aus.

Im Anschluss an die systemtheoretische Rahmung, dass jede Sozialisation nur Selbstsozialisation sein kann, greift Brosziewski im zweiten Kapitel einen im letzten Lebensjahr von Luhmann erschienenen kleinen Aufsatz auf, der die Vermutung äußert, dass es auch im Erziehungssystem ein Kommunikationsmedium geben könne, nämlich den Lebenslauf. Diese eher kursorische Behauptung wird vom Autor zu einer systematischen Theorie entfaltet, die nun weitergehend mit der Charakterisierung des Lebenslaufs als eines Erfolgsmediums formuliert wird, also eines Mediums, das nicht nur kommuniziert, sondern auch die motivationale Funktion erfüllt, sich an der Kommunikation zu beteiligen mit eigenen und insbesondere gewagten Sinnvorschlägen. Der Lebenslauf mit seinen zwei Seiten Karriere und Biografie kann dabei als Medium der Vermittlung verstanden werden. Da Wissen nur mehr in der Zeitdimension bestimmt werden könne, induziere das Erziehungssystem in jedem Lebenslauf die Unterscheidung Wissen/Nichtwissen (bzw. Können/Nichtkönnen) und markiere über Prüfungen deren Fehlen. Das Erziehungssystem prüft dabei Personen, während das Wissenschaftssystem Wissen testet. Da das Lebenslaufregister keinen Einzelautor kennt, ist Biografie eine Form im Medium des Lebenslaufs, die alles Wissen auf Erzähler zentriert und damit Zeit individualisiert. Die Paradoxie des Lebenslaufs ist, dass alles Wissen individualisiert und sozialisiert wird.

Auch die beiden folgenden makrosoziologischen Kapitel beginnen zuerst mit einem Kapitel zu formalen Organisationen im Erziehungssystem, das virtuos bekanntes systemtheoretisches Territorium abschreitet. Demgegenüber versucht das vierte Kapitel zu Netzwerken mit der systemtheoretischen Rezeption der Handlungstheorien von White und Latour neue Synthesen zu entwickeln. In den Kanten und Knoten von Netzwerken kursieren dabei White folgend Geschichten, die zu Typen-von-Beziehungen führen. Im Zwischenraum von Kanten und Knoten, den Brosziewski als Maschen bezeichnet, befinden sich von Latour inspiriert Dinge, also Elemente, die man nicht befragen, sondern nur prüfen kann. Sozialisation muss sich deshalb „immerauch an den Gefügigkeiten und Widerständen jener Dinge bewähren [...], die die Netzwerke in sich einschließen“ (S. 133). Bei den meisten Netzwerken gibt es lose Kopplungen, also eher spielerische Sozialisationsgelegenheiten und permissive Erziehung.

Das fünfte und sechste Kapitel analysieren mit Schule und Universität formale Institutionen des Erziehungs- und Bildungssystems. Das Schulkapitel beschreibt im Anschluss an Vincent und Lahire die form scolaire als die Etablierung einer schulförmigen Weltbeziehung, die über Jahrhunderte weitgehend konstant geblieben ist: als Ort der schriftförmigen Objektivierung von Wissen; der Kodifizierung des gelehrten Wissens; der Korrelation mit anderen gesellschaftlichen Kodifizierungen und als Ort, an dem man Sprache lernt. Im Unterricht beobachten Schüler:innen nicht nur das Zeigen und Erklären der Lehrenden, sondern sie vergleichen sich auch untereinander, ebenso wie die Lehrenden die Schüler:innen beobachten. In der Redundanz des Unterrichts wird nur der Umgang mit Wissen vermittelt, Selbstdisziplin ist Voraussetzung und Resultat dieser Einübung in Objektivation. Spezifisch an der Interkomplexion in Schulen im Unterschied z. B. zu Gelegenheitsunterricht sei Klarheit, die sowohl dem Ungewöhnlichen dient als auch das Maß einer Einordnung in das Gewohnte erlaubt. Schule ist dabei nur ein Inklusionsmuster neben anderen, die Individualisierung erzwingen, ebenso wie es nur ein Format der Selbsterfahrung darstellt. Deshalb kann die „Zuschreibung, allein als ‚Ich‘ zu lernen [...] als Zumutung erfahren“ (S. 159) werden, aus dem das Bewusstsein in der Schule auch Gleichgültigkeit bezieht. Im Universitätskapitel betont Brosziewski die Verankerung von wissenschaftlichem, technischem und theoretischem Nichtwissen im Lebenslauf, sowie die spezifisch postadoleszenten Unbestimmtheiten der Biografie der Studierendenphase.

Das theoretisch sehr dichte siebte Kapitel prüft, im Vergleich mit den Erfolgsmedien anderer Funktionssysteme der Gesellschaft, die Allgemeinheit und Spezifität des Erfolgsmediums Lebenslauf des Erziehungs- und Bildungssystem. Prüfkriterien sind dabei der Präferenzcode, Selbstplatzierung, Reflexivität, Beobachtung zweiter Ordnung, Programme, symbiotische Symbole, Medienvertrauen, Nullsymbol und Katalyse von Systembildung. Lernen als Codierung des Lebenslaufs in Wissen/Nichtwissen fügt mit dem Präferenzcode Wissen nur scheinbar eindeutig ein deutliches Gefälle in den Code ein, da man Nichtwissen ursprünglich nicht weiß. Deshalb erfordert es eine hohe Aufmerksamkeit für das Kreuzen der Grenze vom Nichtwissen zum Wissen. Dabei steht die Codierung des Erziehungssystems zwischen dem hohen Technisierungsgrad der Erfolgsmedien Geld, Macht und Wahrheit und der kaum vorhandenen Technisierung der Erfolgsmedien Liebe und Kunst. Lernfähigkeit als Reflexivität des Lebenslaufs; die Körperlichkeit der Kompetenz als symbiotisches Symbol des Lebenslaufs; sowie die Bedeutung einer Beobachtung zweiter Ordnung durch die Form Unterricht zur Definition und Spezifikation für den Code des Lebenslaufs bringen bekannte Konzepte in das Licht systemtheoretischer Reformulierung. Eher ungewöhnlich ist es, biologisches Altern als Nullsymbol des Lebenslaufs zu betrachten, da in der Universalisierung der Zuständigkeit des Mediums Lebenslauf nun Alter als Entwicklungs- und Lernaufgabe betrachtet wird, das „bloßes“ Altern als Nicht-Entwicklung ausschließt. In einer Coda wird im achten Kapitel die Beziehung zwischen Lernen und Handeln erörtert. Motive sind ein Produkt struktureller Kopplung und gehen in Kommunikation und Bewusstsein ein. Handeln ist die präferierte Seite der Motivation, aber es wird immer auch ein Erleben motiviert. Das Lebenslaufmedium kann dabei immer nur zu Wissen motivieren und zu nichts anderem. Akrasie, die Unfähigkeit wissensgemäß zu handeln, wird deshalb im Erziehungssystem, neben der Abwehr von Trivialzumutungen, immer mitgeführt in den Operationen des Lebens.

Die Stärke der Skizze einer systemtheoretischen Bildungssoziologie, die Brosziewski vorgelegt hat, liegt in der Klarheit, der Systematik und dem Anregungspotential dieses Werkes. Wie der Autor bei der Spezifik der Form Unterricht herausarbeitet, besteht die Kunst der Klarheit darin, Unwichtiges und Selbstverständliches wegzulassen, um mit Ungewöhnlichem Interesse zu wecken, es aber auch an Bekanntes anzuschließen, sodass man ihm folgen kann. Das gelingt diesem Buch über weite Strecken, in vielen Details wird man über Beobachtungen, Formulierungen und Verfremdungen dazu gebracht, über die Unwahrscheinlichkeit des Funktionssystems Erziehung nachzudenken. Bemerkenswert ist insbesondere im Kapitel 7 wie transparent er die Konstruktionsprinzipien der systemtheoretischen Theorietechnik darlegt und konkret fallvergleichend zur prüfenden Anwendung bringt. Hervorhebenswert ist auch der hohe Grad an Systematisierung der Entfaltung der Leitthese des Erziehungssystems als prozediert über das generalisierte Kommunikationsmedium Lebenslauf.

Dem nicht systemtheoretisch geschulten Lesenden wird bei diesem Buch der Jargon im Wege stehen, das den begrifflichen Unterscheidungen immer Vorrang vor der Auseinandersetzung mit dem Gegenstand gibt: Das Buch ist streng deduktiv, dem Fall kommt meist (vielleicht mit der Ausnahme des Exkurses über die Autodidaktik der Jazzimprovisation) nur eine nachrangige Bedeutung zu. Wie bei jedem Buch, das ein weites Feld umreißt, weist es natürlich Lücken auf, die hier neben der markierten Lücke einer angeblich orthodoxen Bildungssoziologie z. B. die breiten Felder vorschulischer Bildung oder lebenslangen Lernens umfassen. Auch über die spezifischen Formate universitärer Lehre erfährt man wenig. Hier kann man hoffnungsfroh auf weitere Bände in der neuen Buchreihe systemtheoretische Bildungsforschung warten, dessen Band 1 der besprochene Band ist.

Inhaltlich erscheint mir die implizite These, dass der Lebenslauf von Erziehung primär codiert wird, noch wenig überzeugend im Vergleich zur Annahme von Kohli (1985), dass der moderne Lebenslauf um das arbeitsmarktförmige Erwerbssystem gruppiert ist. Aus Sicht der Biografieforschung (Sackmann, 2024) fällt auf, dass biografisches Handeln der Erzählung untergeordnet wird, was Praxisformen der Agency im Hintergrund verschwinden lässt.

In der Summe kann man dem Buch von Brosziewski eine kritische Leserschaft wünschen, die sich in Bildungssoziologie, Lebenslaufforschung und Biografieforschung produktiv irritieren lassen möchte.

Literatur

Kohli, M. (1986). Die Institutionalisierung des Lebenslaufs. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 37, 1–29Search in Google Scholar

Sackmann, R. (2024). Biographie und Sozialstruktur. In P. Böhnke & D. Konietzka (Hrsg.), Handbuch Sozialstrukturanalyse. Springer VS. https://doi.org/10.1007/978-3-658-39759-3_16-1.10.1007/978-3-658-39759-3_16-1Search in Google Scholar

Online erschienen: 2024-08-29
Erschienen im Druck: 2024-08-28

© 2024 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

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