Home Christian von Ferber (hrsg. von Alexander Brandenburg), Menschenbild und Gesellschaft. Studien zur Philosophischen Anthropologie, Soziologie und Medizinsoziologie. Baden-Baden: Verlag Karl Alber 2022, 412 S., kt., 89,00 €
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Christian von Ferber (hrsg. von Alexander Brandenburg), Menschenbild und Gesellschaft. Studien zur Philosophischen Anthropologie, Soziologie und Medizinsoziologie. Baden-Baden: Verlag Karl Alber 2022, 412 S., kt., 89,00 €

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Published/Copyright: August 29, 2024
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Christian von Ferber (hrsg. von Brandenburg, Alexander), Menschenbild und Gesellschaft. Studien zur Philosophischen Anthropologie, Soziologie und Medizinsoziologie. Baden-Baden: Verlag Karl Alber, 2022, 412 S., kt., 89,00 €


Man muss sich schon ein bisschen Mühe geben, um herauszufinden, wie die in diesem Buch versammelten Texte einzuordnen sind. Sie stammen von einem Soziologen, der direkt nach dem 2. Weltkrieg sein Studium begann und mit der Emeritierung 1991 eine Epoche überblickt, in der sich in der Soziologie viel verändert hat. In biographischen Texten zu Beginn dieses Buches stellt sich Christian von Ferber selbst als – zeitlebens – Schüler Helmuth Plessners dar und kämpft mit dem Bruch, der ihn von späteren Soziologen unterscheidet, die nicht mehr in der Philosophie begonnen haben. Ein noch drastischerer Bruch im Leben seines Lehrers geht dem voraus, entstanden durch die von den Nationalsozialisten entzogene Lehrbefugnis (1933) – Plessners Vater war getaufter Jude. Viel geht es in den Texten darum, dass nun in der Emigration und im Untergrund in den Niederlanden das Plessnersche Argument einer Vergesellschaftung des Menschen als Korrelat zur „Exzentrischen Positionalität“ nicht mehr systematisch entwickelt werden konnte.

Die Einleitung des Buches bereitet auf diese Brüche und die Perspektive eines älteren Wissenschaftlers, der sich einen Reim auf die Zeitläufte macht, leider nicht vor. Man braucht etwas Abstand, die der Herausgeber wohl als Schüler, dem sein Lehrer reingeredet hat, nicht haben konnte. Mit Abstand, Interesse an theoretischen Denkfiguren und verständnisvollem Blick findet sich jedoch einiges an Material, das die Nachkriegszeit und ihre Prägung durch den Nationalsozialismus beleuchtet.

Der erste Teil des Bandes versammelt drei Texte über Leben und Werk Helmuth Plessners. Dies sind ein Nekrolog aus dem Jahr 1985 und zwei Texte aus der Perspektive eines emeritierten Wissenschaftlers, der auf das Leben seines Lehrers zurückblickt und dessen zentrale Ideen zusammenfasst. Wenn man die nächsten beiden Texte hierzu ergänzt – einen Rückblick von von Ferber auf sein eigenes Wirken (Interdisziplinarität und Praxisorientierung – nur eine Utopie? Ein Plädoyer für die Phänomenologie, 1998) und einen Ausschnitt von fünf Seiten, mit denen von Ferber zu einer DFG-Studie von Plessner über den „Emigrationsverlust 1931 auf 1938“ beitrug (1956), verstärkt sich der Eindruck, dass man einem Zeitzeugen zuhört. Während unter der Leitung von Helmut Schelsky die Sozialforschungsstelle in Münster und Dortmund entstand, mit einem sehr großen Personalbestand und Wirkungskreis, hat man in Göttingen die Situation der Hochschulen nach der Emigration untersucht und damit ein Thema bearbeitet, das den Zeitgenossen in Amt und Würden gar nicht so angenehm war. Wie sehr eine Nachkriegssoziologie von der Frage danach geprägt war, wer emigrieren musste und wer von den freigewordenen Stellen profitierte, zeigt sich in den Details der Emigrations-Studie. Die zusammengetragenen Daten verdeutlichen, dass in so einer Studie all diejenigen nicht erfasst werden konnten, deren Karriere bereits zu Beginn abgebrochen wurde. Insofern ist der Verlust in der deutschen Hochschullandschaft viel größer, als die Zahlen zeigen, die sich nur für Ordinarien interessieren. Schon die Anzahl an Nichtordinarien ist höher als die der Ordinarien. Diese fünf Seiten mit Tabellen rückt von Ferber noch einmal explizit in den Vordergrund, für zeithistorische Studien sind sie unersetzlich.

Die Bindestrichsoziologie

Selbst hat sich von Ferber als Außenseiter eingeschätzt, obwohl er in sehr vielen Kommissionen beratend tätig war. Sein veröffentlichtes Werk empfindet er als verspätet und wenig rezipiert. Dies liegt auch daran, dass die Medizinsoziologie heute sehr genau zwischen einer Medizinsoziologie als Teil sozialwissenschaftlicher Fakultäten und einer medizinischen Soziologie als Teil der medizinischen Fakultäten unterscheidet. Von Ferbers Texte zur Medizinsoziologie sind vor dieser Spaltung entstanden. Nachdem die allgemeinen theoretischen Sätze aus der Anthropologie stammen, sind von Ferbers soziologische Sätze nur als Bindestrichsoziologie möglich. Er bekennt sich zum Praxisbezug seiner Forschung, der „einem an den Universitäten übermächtigen Trend zu Spezialisierung und Praxisferne, der der universitären Karriere der Forscher dienlicher sei“ (S. 92), zuwiderlaufe. Die Soziologie müsste stattdessen jeweils den sachlichen Zuschnitten der Gesellschaft folgen und vor Ort mit Blick auf jeweils „divergente Bezugssysteme“ (S. 88) zeigen, wer da was unter welchen Bedingungen und in welchen Rollen tut und wie sich das, was da empirisch abgebildet werden kann, im Sinne derjenigen, die mit weniger Macht ausgestattet sind, optimieren lässt. Mitsprachemöglichkeiten und Laienpartizipation sind da die entsprechenden Stichworte. Die Soziologie wäre da am besten, wo sie den Fachwissenschaften einen gesellschaftstheoretischen Untergrund und empirische Daten anbietet. Ansprüche der Soziologie auf die Position einer eigenständigen Wissenschaft, als Hauptfachsoziologie, hält von Ferber für falsch und für ein Zeichen, dass die Universität, nach ihrem Verlust durch die Emigration, „vermodert“ (S. 98). Als Politikberatung, als Gremienarbeit ist sie aber – so von Ferber – sehr erfolgreich. (S. 99).

Gesellschaftliche Tatsachen

Der zweite Teil des Bandes enthält Texte aus den 50er Jahren, den beginnenden 70er (seine Antrittsvorlesung zum Thema Tod) und Texte aus den 90er Jahren. Der Leser muss wiederum eigenständig einordnen, was hier nun das gemeinsame Thema ist. Der Titel des Buches, „Menschenbild und Gesellschaft“, ist hierfür hilfreich. In diesen Texten geht es einerseits um ein anthropologisch gefasstes Menschenbild und andererseits um gesellschaftliche Bezüge. Themen – die Kunst, der Tod, die Freiheit, die Sozialpsychiatrie, die Sozialforschung – werden auf ihre gesellschaftlichen Grundlagen befragt. Darunter versteht er:

Gesellschaftliche Tatsachen zeichnen sich dadurch aus, daß sie durch eine Vielzahl von Einflüssen bestimmt sind, unter denen der i.e. Sinne gesellschaftliche Einfluß einer unter anderen ist. So sind z. B. die großen Kulturbereiche wie Recht, Religion, Kunst stets auch gesellschaftlich bedingt – das rechtfertigt eine historisch-gesellschaftliche Analyse, wie z. B. empirische Untersuchungen der Rechtspraxis, der Religionsausübung und des Kunstbetriebes. Diese Kulturbereiche sind aber ganz wesentlich auch aus sich selbst bestimmt und damit Gegenstand von Theologie, Rechtswissenschaft oder Theorie und Geschichte der Kunst. (S. 227)

Von Ferbers Ausführungen zum Tod ergeben eine sehr ungewöhnliche eigenständige Einschätzung der Problematik. Er rechnet mit unterschiedlichen Bezugssystemen, damit, dass die Kultur der Ärzte und Pflegeberufe eine andere ist als die der Patienten (S. 171–172). Während Ärzte und Pflegekräfte einen zweckorientierten Zugang zum Patienten haben, und der Patient wiederum auch eine Rolle einnimmt, gelingt es nicht, die private Situation des Sterbens in eine Form zu bringen. Dies liegt – so von Ferber – nicht daran, dass der Mensch sich von sich selbst entfremdet hat – das wäre vielleicht die eher kulturkritische Einordnung aus der Gehlen-Schelsky-Tradition –, sondern daran, dass es für diese Art der Adressierung schlicht keine gesellschaftliche Form gibt. Die Anerkennung für den privaten Menschen sei eben keine soziale Rolle, der Tod bleibe in der modernen Kultur „aus(gespart)“ (S. 190). Auch die eigene Reflexion über das Sterben – so von Ferber – folgt einem Prinzip von Zeitreihen, die je nach Thema unterschiedlich aussehen: berufliche Stationen, private Stationen, Krankheitsverläufe (S. 202). Es lässt sich das, was man thematisieren möchte, schlicht deshalb nicht auf einen Punkt bringen, weil es dafür keinen Ort gibt, an dem solche Kommunikationsstrukturen vorhanden sind. Dass sich auch authentisches Reden als gesellschaftliche Semantik etablieren lässt, hält von Ferber vermutlich nicht für möglich. So ist es aber gekommen.

Die Medizin und die Gesellschaft

Eine sehr eigenständige Argumentation findet sich auch in den mit Daten unterfütterten medizinsoziologischen Ausführungen (Teil 3), die einerseits sehr konventionell das Inventar der dann sehr erfolgreichen Versozialwissenschaftlichung (Rolle, Interaktion, Definitionsprozesse) abrufen, die aber andererseits vorführen, wie es aussieht, wenn man konsequent alles als Gesellschaft versteht. Dass Patienten krank werden, liegt demzufolge dann nicht nur daran, dass sie biologisch krank sind, sondern auch daran, dass Probleme medizinisch „verstanden“ werden. Dass der Arzt eine Erkältung diagnostiziert, die Versicherung aber im gleichen Fall einen Versicherungsfall und der Betrieb einen Arbeitsausfall, ist eigentlich Differenzierungstheorie. Und ja, daraus ergibt sich, dass die Soziologie da anfängt, wo man versteht, „daß die Menschen [...] in ihren Entscheidungen unfrei sind, gebunden an die Verhaltensangebote, an die präformierten Verhaltensalternativen, die gesellschaftliche Einrichtungen (Institutionen) entworfen haben, und daß diese Verhaltensangebote auch und nicht zuletzt im Interesse der Institutionen gemacht werden“ (S. 289). Es reicht nicht, an Motive zu appellieren und die Arzt-Patienten-Beziehung zu verbessern. Man muss sich vorstellen können, dass die Medizin in einer Gesellschaft existiert, in der Zivilisationskrankheiten erwartbar entstehen, weil – so von Ferber – die Automatisierung der Arbeit, die Verkürzung der Arbeitszeit und die Zunahme an Freizeit und Nahrungsmitteln dies plausibel werden lassen.

Intelligentere Lösungen

Thema von von Ferbers Arbeit in Kommissionen und Gremien war die Idee, „intelligentere Lösungen“ (S. 397) zu finden, indem man z. B. mit vielfältigen gesellschaftlichen Bezügen rechnet und Zuständigkeitsbereiche ändert. Personale Hilfe, individuelle Beratung, gezielte Information, politische Teilhabe, planvolle Steuerung, neue Organisationsformen (S. 332), das waren seine Stichworte und gesehen hat er, dass eigentlich allen Beteiligten gar nicht bewusst wird, dass man all dies erst einmal erfinden musste.

Aus heutiger Sicht klingt die Soziologie Christian von Ferbers nahezu fremd, weil sie tatsächlich weniger am eigenen Fach, weniger an theoretischer Eigensinnigkeit oder methodischer Detailtreue interessiert ist, aber an der Sache selbst, an ihrem Gegenstand. Von Ferbers Impetus besteht darin, sich vom Eigensinn seines Gegenstandes überraschen zu lassen und dadurch praxisfähig zu werden. Das ist anders, weil sie anders als vielfach heute nicht an der Authentizität ihres Gegenstandes oder ihrer selbst, nicht an der Subjektivität von Handelnden, noch weniger an politischen Motiven und Interessen interessiert war, sondern an Konstellationen, in denen sich Handlungstypen begegnet sind. Besonders zu schätzen an dieser Soziologie ist wohl, dass sie zwar einerseits nah an ihren Gegenständen ist und ihr eigenes Wirken auch in den unmittelbaren Reflexionsräumen dieser Gegenstände sah, sich aber andererseits nicht mit diesen gemein gemacht hat oder gar eine eigene Agenda erzeugte.

Die wichtigste Zeit des Wirkens von von Ferber war die der Versozialwissenschaftlichung öffentlicher Diskurse, die nur gelingen konnte, weil der Export soziologischer Begriffe dort, wo sie nun auftauchten, einen Unterschied machen können. Es war keine Soziologie, die zur Reflexionstheorie eines, womöglich des eigenen Milieus wurde, auch keine, deren Verfremdungseffekte zum Exotischen neigten, wie es derzeit zumindest dort der Fall ist, wo sich der soziologische Blick zwar auf alle möglichen Gegenstände richtet, aber nicht deren Perspektive einzunehmen in der Lage ist. Die Versozialwissenschaftlichung diente nicht dazu, dem Gegenstand ein eigenes Programm entgegenzustellen, sondern eher Sparringspartner für Praktiken zu sein, denen eine Abweichung von ihren üblichen Selbstbeschreibungen angeboten werden konnte. Dazu musste sie schon sprachlich näher an ihrem Gegenstand sein. In diesem Sinne würde sich von Ferber womöglich heute noch stärker als ein Außenseiter seiner Zunft ansehen. Intelligentere Lösungen zu finden hieß für ihn, die Intelligenz seiner Forschungsfelder zur Geltung zu bringen und die Soziologie in die Lage zu versetzen, deren Eigensinn in einer Art role-taking zu verstehen.

Online erschienen: 2024-08-29
Erschienen im Druck: 2024-08-28

© 2024 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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