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Tobias Röhl, Verteilte Zurechenbarkeit: Die Bearbeitung von Störungen im Öffentlichen Verkehr. Frankfurt/New York: Campus 2022, 256 S., br., 39,00 €

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Published/Copyright: August 29, 2024
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Tobias Röhl, Verteilte Zurechenbarkeit: Die Bearbeitung von Störungen im Öffentlichen Verkehr. Frankfurt am Main: Campus, 2022, 256 S., br., 39,00 €


Die Frage nach der Zurechenbarkeit von Handlungen und Ereignissen betrifft elementare Bedingungen der Möglichkeit sozialer Ordnung. Dennoch ist Zurechenbarkeit für sich genommen ein Forschungsthema von vergleichsweise geringer fachwissenschaftlicher Prominenz geblieben. Im Englischen rollt „Accountability“ leichter von der Zunge, ist ein gängiger Begriff sozialwissenschaftlicher, alltagsweltlicher und politischer Diskurse und bringt die gleichermaßen handlungspraktische wie normative Prägnanz des Bezugsproblems handgreiflicher zum Ausdruck als im Deutschen: Zurechenbarkeit als Frage des Verstehbarmachens („making accountable“) von Handlungen, Handlungsresultaten und nicht zuletzt Handelnden sowie als Frage der Zuweisbarkeit von Verantwortung, der Befragbarkeit von Verantwortlichen („holding accountable“) und nicht zuletzt deren Fähigkeit oder Bereitschaft, auf Nachfragen zu antworten (mit „accounts“). Die Zurechenbarkeit von Handlungen und Handlungsresultaten unterstützt eine das Alltagshandeln begleitende implizite Buchführung, an die sich etwaige Bemühungen um die Abwicklung von Handlungsfolgen, Überraschungen und Enttäuschungen, Rechtfertigungen, Schuld und Sühne anschließen können. Dieser handlungspraktische und normative Zusammenhang zwischen Handlung, Zurechenbarkeit und, im Fall der Fälle, Rechtfertigung, Verteidigung, Abwehr oder Umleitung von Verantwortung bleibt bestehen, wenn Organisationen Zurechenbarkeit formalisieren und aus der impliziten Buchführung ein explizites Buchführen, ein schriftliches „accounting“ wird. Diese Kontinuität zwischen informellem und formalisiertem, spontanem und organisiertem Handeln übersteht die Verregelung von Handlungs- und Zurechnungzusammenhängen ebenso unbeschadet wie deren fortschreitende Technisierung und Mediatisierung, wie Tobias Röhls Untersuchung der Störungsbearbeitung im Zugverkehr überzeugend darlegt.

Röhl liefert eine lesenswerte empirische Studie, die reich ist an für uns Passagiere wissenswerten Details und Einzelbeobachtungen über das Antizipieren, Bewältigen und Dokumentieren von Störungen. Gleichzeitig vollbringt Röhl im sozialtheoretisch so elementaren und sprachlich doch so sperrigen Gelände der „Zurechenbarkeitskonstellationen“ (S. 58–65) eine beträchtliche sozialtheoretische Vermittlungsleistung zwischen Ethnomethodologie, Konventionensoziologie und Organisationssoziologie. Die sozialtheoretische Reflektiertheit des Zugangs führt Röhls Untersuchung weit hinaus über eine Forensik der Organisationsfehler. Das Bezugsproblem der „fragwürdigen Zurechenbarkeit gestörter Verkehrsinfrastrukturen“ (S. 65) wird nicht gelöst, aber in eine soziologisch instruktive Neufassung gebracht: Am Ende der Arbeit steht nicht eine Liste von Schuldigen oder Reformmaßnahmen, sondern eine „Rehabilitation sozialwissenschaftlicher Kritik“ (S. 233–237) angesichts von Zurechenbarkeitskonstellationen in der Erwartung, Verteilung und Verrechnung von Störungen, die auf Kritik eingerichtet sind und diese in einem Netz von Regeln, Maßnahmen, Dokumenten und Kennzahlen einzufagen verstehen. Die Aufgabe soziologischer Kritik, Organisations- und Bahnkritik eingeschlossen, ist es aus Röhls Sicht nicht, diese Verhältnisse pauschal zu denunzieren, sondern stattdessen zu zeigen, wieviel an „normativer Pluralität“ (S. 236) von der Pauschalkritik an unverantwortlichen Organisationen oder unfähigen Führungspersonen verpasst wird. Die normativen Strukturen des Organisierens von und gegen, mit und an Störungen sind komplexer, als sie dem außenstehenden Kritiker des Bahnverkehrs und seiner Betreiber bewusst sein werden. Röhls „praxisimmanente Kritik“ (S. 235) offeriert ein tieferes Verständnis der komplexen Handlungsverhältnisse, in denen sich diejenigen bewegen, auf deren Kompetenz in der Störungsbewältigung wir uns als Passagiere verlassen (müssen). An die Stelle oberflächlicher Versachlichung und individualisierender Schuldzuweisung tritt eine verstehende, dialogisch orientierte und gleichsam respektvoll diplomatisch auftretende Form sozialwissenschaftlicher Kritik.

Wir Bahnpassagiere werden für die Lektüre, möglicherweise stehend in einem verspäteten Zug, also nicht mit einer enthüllenden Aufklärung über individuelle oder kollektive Schuld belohnt, aber mit einem tieferen Verständnis dessen, was so alles an Störungsbewältigung passieren wird, während wir trotz allem unserem Fahrtziel entgegenfahren (sofern wir dann fahren). Röhl gliedert seine empirische Darstellung in drei Kapitel, respektive für die Zeiten des Davor, Während, und Danach der Störung. Die empirischen Erkenntnise über das Innenleben von Bahnbetrieben im Umgang mit Störungen beruhen überwiegend auf Röhls Feldaufenthalten im Bahnbetrieb der SBB (Schweiz) sowie der VBZ (Zürich). Die Deutsche Bahn erwies sich als unzugänglich für Feldbeobachtungen jenseits der Fahrgastrolle (S. 70–71), war jedoch Thema in Röhls Fokusgruppen und Interviews sowie für mich als Leser eine Art geisterhafte Dauerpräsenz bei der Lektüre, vielleicht ein Resultat der generalisierenden sozialtheoretischen Veranlagung der Studie – oder doch unserer geteilten Erfahrungen von Enttäuschung und Hilflosigkeit angesichts von Störungen des Bahnbetriebs? Röhls empirische Darstellung in diesen drei Kapiteln ist durchweg analytisch distanziert, angemessen neugierig hinsichtlich der Handlungen im Felde, aber praxisimmanent in erster Linie hinsichtlich der Organisationspraxis, nicht so sehr hinsichtlich der Praxis des hier Forschenden. Der normative Charakter des Zurechenbarkeitsproblems scheint auch in der Art und Weise durch, wie Röhl sein Thema einführt: „Von der vergeblichen – oder zumindest schwierigen – Suche nach den Ursachen und Verantwortlichketen rund um Störungen handelt die vorliegende Studie.“ (S. 11) Die Spannung zwischen dieser gedämpften Frustration und der Binnenansicht der Organisation, die in den empirischen Kapitel dominiert, bleibt in den empirischen Feldbeobachtungen weitgehend im Hintergrund (S. 77–196). Passagiere und ihre Frustrationen sind immer wieder Thema, aber Röhl verbindet dies kaum mit seiner eigenen Position als vergeblich oder zumindest schwierig suchender Forscher oder meiner als mitfahrender Leser – vielleicht eine vertane Chance für eine reflexive Öffnung des Forschungsnarrativs.

Das Davor der Störung ist auf Seiten der Bahnbetreiber durch Aktivitäten gekennzeichnet, die Störungen vorab zu klassifizieren und sie mit Organisationssegmenten sowie mit sozio-technischen Systemen und ihren menschlichen Schnitt- und Leiststellen zu verbinden. Röhl zeigt hier eindrücklich, wie Vorsicht und Umsicht technisch vermittelt werden. Körperliche Aufmerksamkeiten und Wachsamkeiten des Personals werden in Infrastrukturen eingespannt, die Verantwortlichkeit soziotechnisch individualisieren: Das „Totmannpedal“ (S. 106) stellt die Dienstfähigkeit des Lokführers fest – oder stoppt den Zug. Im Während der Störungsbewältigung geht es dann in erster Linie um die Sicherstellung von Koordination im Verorten und Bearbeiten von Störungen. Hier tritt die Verschränkung von Überwachung und Dokumentierung mit Kommunikation, vor allem aber mit der räumlichen Verteiltheit des Bahnbetriebs in den Vordergrund: Die abstrakten Räume der Fließpläne, Leitstellen und Bildschirme arbeiten zusammen mit der Verteilung von technischer Apparatur und Personal im physischen Raum des Gleis- und Zugnetzes. Das führt zu einem Fluss von Störungsinformationen für zuständiges Personal, aber auch für Passagiere, von denen Informiertheit und Selbstzuständigkeit in der Reiseplanung erwartet werden (S. 153–155). Sowohl im Davor als auch im Während einer Störung kommt es zu Zurechenbarkeitskonflikten: Wann und wie häufig ist zu prüfen und zu testen (S. 115–118), wie zentral oder dezentral sind Zuständigkeiten für Störungsbewältigung zu verteilen (S. 164–168)? Die prinzipielle Unlösbarkeit solcher Fragen ist betrieblich hilfreich, denn sie erlaubt Elastizität im Umgang mit Störungen und bewahrt die interne Diversität widersprüchlicher Eingriffs- und Bewältigungsoptionen.

Das Danach der Störung ist einerseits vergangenheitsorientiert im Bemühen der Bahner, erfahrene Störungen korrekt zu verbuchen, andererseits ist es zukunftsorientiert in deren Bemühungen, Störungen intern zwischen Organisationssegmenten weiterzugeben und für weiteres Organisieren zugänglich zu halten. Die Übergabe von Störungen als vorbearbeiteten, aber fortdauernden Organisationsproblemen entschärft die „normative Präferenz für behobene Störungen“ (S. 179) und schützt vor der Illusion vollständiger Gelöstheit. Der Bahnbetrieb geht im Bewusstsein seiner Störbarkeit weiter, schließt den Zirkel zwischen dem Danach und Davor der Störung und macht die Beobachtung von Störungen selbst zu einem Dauerproblem. Das Messen, Bewerten und Benchmarken von Störungsreaktionen und Pünktlichkeitsquoten führt zu einer kontinuierlichen Selbstbeoachtung und Selbstbeunruhigung des Bahnbetriebs und zur einer statistischen Normalisierung seiner Dauergestörtheit.

Das Kapitel über das Danach der Störung fungiert in seinem letzten Drittel (S. 196–214) als Bindeglied zwischen der praxisimmanenten Darstellung der Störungsbearbeitung und Röhls Frage nach der bleibenden Möglichkeit von Kritik. Die Zurechenbarkeitskonflikte, die Röhl hier in den Vordergrund stellt, sind die zwischen Messung und Gegenmessung, internem und externen „accounting“ von Verspätungen, Ausfällen und ihrer Bewertung zwischen Bahnbetrieben, Personal und Passagieren. Im Hin und Her der Verantwortungszuweisung werden Störungen zu Resourcen und zu bahnpolitischer Munition (S. 212–214). Dies leitet über in eine Rekonstruktion von Störungsmanagement als normativer Arbeit im siebten Kapitel, und damit kommt Röhl zurück auf die Kontinuität von pragmatischen und normativen Aspekten sozialer Ordnungsbildung, die im Zurechenbarkeitsproblem ihren Ausdruck findet. Vielleicht hätte es sich gelohnt, in diesem abschließenden Kapitel auch noch einmal ausführlicher auf die Soziologie der Rechtfertigung zurückzukommen. Diese wird im langen zweiten Kapitel in einem Abschnitt über die „Repertoires des Accounting“ (S. 47–51) eingeführt, aber tritt dann ebenso in den Hintergrund wie das Accounting selbst. In der Summe interessiert sich Röhl stärker für die normative Arbeit mit und an der Störung und weniger dafür, welche systematische Rolle der Schriftlichkeit der Störungsverbuchung in all ihrem materiellen und digitalen Formaten in der Artikulation von Handlung und Zurechnung zukommt oder wie sich das verhält zu den Rechtfertigungsordnungen der Konventionentheoretiker. Aber Röhls abschließende Überlegungen zu Kritik und Kritikfähigkeit unter den Bedingungen verteilter Zurechenbarkeit (S. 234–237) können weiterführen auch zu jenen Forschungsinteressen, die Konventionentheoretiker mit Accountingforschern vereinen: Wie wird Wert angesichts widerstreitender Bewertungen artikuliert? Wessen Werte und Bewertungen bestimmen, wie wir messen und bewerten? Wessen Störung? Wessen Bahnbetrieb? Wessen öffentlicher Verkehr? Angesichts des immer noch dünn besetzten Feldes der Zurechenbarkeits- und Accountability-Forschung ist zu hoffen, dass Röhl am Ball bleibt.

Online erschienen: 2024-08-29
Erschienen im Druck: 2024-08-28

© 2024 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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