Home Soziologie (in) der postdigitalen Gesellschaft
Article Open Access

Soziologie (in) der postdigitalen Gesellschaft

Jean Burgess / Nancy K. Baym, Twitter: A Biography. New York: New York University Press 2022, 140 S., kt., 13,59 € Gabriele Klein / Katharina Liebsch, Ferne Körper: Berührung im digitalen Alltag. Dietzingen: Reclam 2022, 180 S., br., 16,00 € Robyn Longhurst, Skype: Bodies, Screens, Space. London/New York: Routledge 2017, 162 S., ebook, 55,89 € Chris Piallat (Hrsg.), Der Wert der Digitalisierung: Gemeinwohl in der digitalen Welt. Bielefeld: transcript 2021, 440 S., kt., 29,50 € Sven Quadflieg / Klaus Neuburg / Simon Nestler (Hrsg.), (Dis)Obedience in Digital Societies: Perspectives on the Power of Algorithms and Data. Bielefeld: transcript 2022, 380 S., kt., 29,00 € Robert Seyfert / Jonathan Roberge (Hrsg.), Algorithmuskulturen. Über die rechnerische Konstruktion der Wirklichkeit. Bielefeld: transcript 2017, 234 S., kt., 29,99 €
  • Stefan Laube EMAIL logo and Tilo Grenz
Published/Copyright: August 29, 2024
Become an author with De Gruyter Brill

Rezensierte Publikationen:

Jean Burgess / Nancy K. Baym, Twitter: A Biography. New York: New York University Press 2022, 140 S., kt., 13,59 €

Gabriele Klein / Katharina Liebsch, Ferne Körper: Berührung im digitalen Alltag. Dietzingen: Reclam 2022, 180 S., br., 16,00 €

Robyn Longhurst, Skype: Bodies, Screens, Space. London/New York: Routledge 2017, 162 S., ebook, 55,89 €

Chris Piallat (Hrsg.), Der Wert der Digitalisierung: Gemeinwohl in der digitalen Welt. Bielefeld: transcript Verlag 2021, 440 S., kt., 29,50 €

Sven Quadflieg / Klaus Neuburg / Simon Nestler (Hrsg.), (Dis)Obedience in Digital Societies: Perspectives on the Power of Algorithms and Data. Bielefeld: transcript 2022, 380 S., kt., 29,00 €

Robert Seyfert / Jonathan Roberge (Hrsg.), Algorithmuskulturen. Über die rechnerische Konstruktion der Wirklichkeit. Bielefeld: Transcript 2017, 234 S., kt., 29,99 €


Einleitung

Digitalisierung hat Hochkonjunktur, auch innerhalb der Soziologie. Allein in der Soziologischen Revue sind zuletzt eine Gebietskartierung (Göttlich, 2022) und eine Sammelbesprechung (Schrape, 2022) erschienen, zuvor ein umfassender Themenessay (Jarke, 2018). Dass uns die Redaktion nun zu einer weiteren Sammelbesprechung einlädt, um Problemlagen sowie Entwicklungen des entsprechenden Forschungsfeldes zu sondieren, zeigt, dass hier offenbar weiterer Orientierungs- und Sortierungsbedarf besteht.

Lässt man Feinheiten und Differenzierungen weg, lassen sich bestehende Orientierungsversuche zwei Positionen zuordnen. Die erste Position zeichnet sich durch die Argumentation aus, dass ein soziologisches Verständnis von Digitalisierung etwas ganz Neues brauche: eine eigenständige „Digitale Soziologie“, mitsamt eigenen theoretischen und methodischen Werkzeugen und einem expliziten Third Mission-Anspruch der Mitgestaltung von Digitalisierung (Jarke, 2018). Die zweite Position hingegen steht dem Bedarf einer neuen Soziologie angesichts der digitalen Transformation vorsichtig bis skeptisch gegenüber. Sie bemüht sich daher Kontinuitäten und Querverbindungen aktueller Digitalisierungsforschung zu etablierten Feldern und theoretischen Perspektiven zu zeichnen, z. B. zur These der Mediatisierung von Gesellschaft (Göttlich, 2022) oder zur Techniksoziologie (Schrape, 2022).

Der von uns unternommene Orientierungsversuch nähert sich der Sache aus einer Zwischenposition. Diese erkennt an, dass Gesellschaften schon längere Zeit digitale Gesellschaften sind. Die Soziologie ist daher, sofern sie den Anspruch stellt, Gesellschaften und sozialen Wandel in ihrer Gesamtheit zu beleuchten, heute per se notum eine Soziologie der Digitalisierung, ohne dass dies extra zu betonen ist. Selbstetikettierungen wie „Digitale Soziologie“ oder „Soziologie des Digitalen“ scheinen uns eher wissenschaftspolitische Instrumente zu sein, um ein neues Forschungsfeld zu plausibilisieren oder in das Terrain des Bestehenden einzuhegen. Die Soziologie hat es heute vielfach bereits mit postdigitalen Gesellschaften zu tun – eine keineswegs neue, aber jüngst wieder in Erinnerung gerufene Einschätzung (Schäfer, 2021, S. 5). Postdigital meint dabei zunächst, dass die Präsenz digitaler Technologie heute keine Besonderheit mehr darstellt. Sie ist gesellschaftliche Normalität (Negroponte, 1998), denn Digitaltechnik und Alltagshandeln sind weitestgehend ‘amalgamiert’ (Schulz, 2004). Für die Soziologie ist daher zweierlei maßgeblich: Erstens konzipiert sie Digitalisierung nicht mehr von der Annahme eines Hypes oder fundamentaler Kritik her. Sie befindet sich in Distanz zum Topos des Neuen (52 group, 2009), um stattdessen Wandel im Soziokulturellen in den Blick zu nehmen, wie dies etwa die Mediatisierungsforschung betont (vgl. Göttlich, 2023). Zweitens drängt sich damit für die Soziologie zugleich die Frage der Gestaltung(en) von Digitalisierung auf, womit auch Fragen der Verantwortung einhergehen (vgl. Jarke, 2018). Indem Digitalisierung als Gegenstand gesellschaftlicher Gestaltung in den Blick gerückt wird, lohnt es es sich jedenfalls, soziologische Forschungsdesiderata zu identifizieren, die jenseits von Hypes und Fundamentalkritik stehen und die sich empirisch nicht in aktuellen Schlaglichtern erschöpfen.

Wir glauben, dass solche Desiderata auf zwei grundsätzlichen Ebenen angesiedelt sind und dass die Stärke und das Potential der Soziologie darin liegen, gerade diese Desiderata zu erschließen. Zum einen denken wir dabei an die Ebene der gesellschaftlichen Voraussetzungen der Digitalisierung, die in den meisten politischen und wissenschaftlichen Digitalisierungsdiskursen stillschweigend vorausgesetzt oder gänzlich ausgeblendet werden. Hierunter fallen gesellschaftliche Werte und Ideale, die sich in der Gestaltung und Nutzung digitaler Technologie verwirklichen (sollen), genauso wie die Arten, Weisen und Dynamiken, in denen digitale Technologien verkörpert und materialisiert werden. Zum anderen denken wir aber auch an Widersprüche und Brüche, die die (post)digitale Gesellschaft kennzeichnen, und die emblematisch in gesellschaftlichen Rück- oder Gegenbewegungen zum Ausdruck kommen.

Die Lektüre der hier besprochenen Schriften erfolgte hinsichtlich der Frage, in welcher Weise sie die erwähnten Desiderata aufgreifen und welche Erkenntnisse sie dazu beitragen.

Werte und Ideale

(Digitale) Technologien sind nicht einfach das Ergebnis erfinderischer oder kommerzieller Prozesse. Vielmehr ist ihr Erfolg oder Nicht-Erfolg auch das Ergebnis der von ihnen (vermeintlich) verwirklichten gesellschaftlichen Werte und Ideale, Interessen und Politiken (bereits Winner, 1980). Eine Übertragung dieses techniksoziologischen Leitgedankens auf Algorithmen bietet der von Seyfert und Roberge herausgegebene Sammelband. Dieser ist im Nachgang einer internationalen Tagung zum Thema „Algorithmic Cultures“ entstanden und bietet Annäherungen an die Idee von „Algorithmuskulturen“, die die einzelnen Beiträge an unterschiedlichsten empirischen Fallstudien veranschaulichen, u. a. zu sozialen Medien (Cardon; Leistert), Werbungs- und Bewertungsplattformen (Gillespie; Beuscart/Mellet), Finanzmärkten (Miyazaki), immersiver Audiotechnologie (Klett) und militärischen Drohnen (Rauer). In theoretischer Hinsicht skizzieren die Herausgeber in der Einleitung im Anschluss an Autoren wie De Certeau und Reckwitz ein praxistheoretisches Verständnis der kulturellen Einbettung von Algorithmen. Dieses zeichnet sich besonders dadurch aus, dass Algorithmen auf zweifache Weise zu Elementen gesellschaftlicher Kulturen werden, die miteinander aber in einer „konstitutive[n] Spannung“ (S. 31) stehen: auf der Ebene von „ideellen Vorstellungen“ (S. 31) und auf der der Ebene „konkreter Praktiken“ (S. 31). Ganz im Sinne praxistheoretischer Konzeptionen von Kultur geht es den Herausgebern also darum, mit ihrem Band die Spannungen herauszuarbeiten zwischen einerseits gesellschaftlichen Werten und Idealen, Hoffnungen und Ängsten, die mit algorithmischen Infrastrukturen und Technologien verbunden werden und andererseits mit den performativen Wirkungen, die algorithmische Systeme auf der Ebene praktischen Handelns zeitigen, wobei letztere bestimmten Idealen oder Hoffnungen mitunter zuwiderlaufen können, z. B. dann, wenn algorithmische Verfahren „im ‚echten Leben‘ versagen“ (S. 25).

Vor diesem Hintergrund ist eine Stärke des Bandes, dass er verdeutlicht, dass Algorithmen keine neutralen technischen Verfahren sind (ein Argument, das sich auch durch verschiedene Beiträge im Band von Quadflieg et al zieht), sondern dass sie stillschweigend mit Werten, Hoffnungen und Idealen verknüpft werden, aus denen sie ihre gesellschaftliche Überzeugungskraft und Legitimität beziehen. Dass etwa algorithmische Verfahren als frei von Subjektivität, Fehlern und Verzerrungen gelten, charakterisieren die Herausgeber zurecht als die Inskription gesellschaftlicher Ideale und als „Legende algorithmischer Objektivität“ (S. 24). In empirischer Hinsicht aufschlussreich sind dann auch besonders jene Beiträge des Bandes, die zum einen aufzeigen, welche gesellschaftliche Werte die spezifische Überzeugungskraft von algorithmischen Systemen jeweils fundieren, und die zum anderen verdeutlichen, dass diese Werte auch zum Gegenstand von gesellschaftlichen „Deutungs- und Interpretationskonflikten“ (S. 18) werden können. So argumentiert etwa Gillespie in einem Beitrag über die algorithmische Vermessung von Trends im Bereich der Populärmusik sowie auf sozialen Medien, dass die dieser Vermessung zugrundeliegenden Algorithmen die Nutzer:innen durchaus dazu bringen können, sich „Gedanken über die Politik der Algorithmen“ (S. 101) zu machen. Zögern, Empörung, Streit und Kontroverse sind einige der Reaktionen, die Nutzer:innen laut Gillespie mobilisieren, um die vermeintliche Objektivität und Unvoreingenommenheit der algorithmischen Produktion von Trend-Ranglisten in Frage zu stellen und damit gleichzeitig die Aufmerksamkeit darauf lenken, dass die dahinterstehenden rechnerischen Operationen „möglicherweise diskriminieren oder Fehler begehen“ (S. 100). Mit Fallbeispielen wie diesem erweist sich der sieben Jahre alte Sammelband insofern als hellsichtig, da er eine, wie es die Herausgeber formulieren, „Dynamik zwischen Versprechung und Enttäuschung“ (S. 30) konstatiert, die auch den momentanen gesellschaftlichen Umgang mit Algorithmen kennzeichnet: Algorithmische Technologien sind in besonderem Maße chaotisch und instabil – sie liefern auch immer wieder Ergebnisse, die in bestimmten Anwendungsbereichen als fehlerhaft, verzerrend oder enttäuschend eingestuft werden. Wenn man sich vergegenwärtigt, dass algorithmische KI-Chatbots wie Chat GPT beim Verfassen von Texten ‚halluzinieren‘, also (wissenschaftliche) Quellen oder Fakten erfinden, so kann man davon ausgehen, dass die Dynamik von Versprechung und Enttäuschung auch postdigitale Gesellschaften in besonderem Maße prägen wird.

Nicht um die der Digitalisierung stillschweigend zugrunde liegenden, sondern gerade um die gezielt anzulegenden Werte geht es im Band von Piallat (Hg.). Gerade wegen ihrer Indifferenz (‚weder gut, noch schlecht’) dürfe Digitalisierung gesellschaftlich nicht einfach hingenommen werden, sondern bedürfe einer „progressiven Gestaltung” und einer gewollten, gesamtgesellschaftlichen Transformation statt bislang dominierender „Reparatur-Ethiken” (S. 33). Die 18 durchweg lesenswerten Beiträge des Bandes werden dabei geschickt durch einen gemeinsamen Rahmen zusammengehalten, der die Gestaltung der Digitalisierung mit dem Ziel des „Gemeinwohls” und der „Gemeinwohlbildung” entlang bestimmter Werte verfolgt (den pointierten Rahmen dazu entfaltet Piallat im ersten Beitrag des Bandes). Insofern ist es wichtig zu wissen, dass der Band und die (bzw. das Gros der) Beiträge kein soziologischer, sondern ein „nicht-judikativer, dafür normativ-präskriptiverAnsatz” (S. 36, Herv. im Orig.) zugrunde liegt, der ferner bereits bei der Gestaltung digitaler Dienste und Produkte profilgebend sein soll. Und so überrascht es auch nicht, dass sich mit dem Beitrag von Staab und Piétron nur ein explizit soziologischer Beitrag im Kanon der Texte findet, die ansonsten aus Rechts- und Politikwissenschaften, Rechtsphilosophie, Demokratieforschung, Ethik, Medien- und Kommunikationswissenschaften, von Akteur:innen der Digital- und Netzpolitik sowie aus beratungs- und gestaltungsorientierten NGOs stammen. Im genannten Beitrag fragen die beiden Autoren im Anschluss an Axel Honneths Theorie der Rechte (S. 194) nach den Bedingungen der Möglichkeit „sozialer Freiheit” von Plattformarbeit und gehen dabei von einschlägigen soziologischen Befunden aus, die ebendiese Arbeit als erheblich prekäre Solo-Selbstständigkeit weitgehend ohne Rechte und mit hoher Abhängigkeit von der verantwortungslosen Plattform ausweisen (S. 188, siehe auch den Beitrag von Hecht im Band von Quadflieg et al.). Auf Grundlage dieses Rahmens rekonstruieren sie Konturen eines „Modell[s] einer gemeinwohlorientierten Plattformorganisation” (S. 189, S. 199–205).

Mit Blick auf die einleitend bemerkte Ausweitung des soziologischen Interesses auf Fragen der Gestaltung geht im Gleichschritt eine Positionierungsaufforderung einher. Ist es noch oder (nun) schon soziologisches Interesse, wenn Werte – und damit Kulturen – der Digitalisierung nicht empirisch rekonstruiert, sondern wissenschaftlich-normativ inskribiert werden sollen? Und wenn ja, was, wer und auf Basis wovon begründet (sich) die Auswahl eben jener Werte? Im Band von Piallat (Hg.) finden wir jedenfalls ein beachtliches, geschickt strukturiertes und über die reine Addition von Beiträgen hinausgehendes Werte-Kompendium, das durchaus die Rolle eines starken Bezugsrahmens für ebenjene Gestaltungsorientierung einer Soziologie in der Postdigitalität darstellen kann. Auf einen ersten Teil (Piallat; Grimm aus Medien- und Kommunikationswissenschaftlicher Sicht), der sich mit einer grundlegenden Bestimmung einer gemeinwohlorientierten Digitalisierung befasst, versammelt der zweite Teil Beiträge zu verschiedenen Werten, die leser:innenorientiert in drei Teilblöcke zu „divergierenden” (S. 12) Werten untergliedert sind: Freiheit und Autonomie (darin: Freiheit, Selbstbestimmung, Autonomie, Privatheit, Würde); Gerechtigkeit und Gleichheit (darin: Gerechtigkeit, Menschenrechte, Geschlechtergerechtigkeit, Nachhaltigkeit) sowie Demokratie, Zugang und Souveränität (darin: Zugang, digitale Souveränität).

Und schließlich sollte die Leser:in auch wissen, dass bei all dem freilich eine zentrale soziologische Frage unbeantwortet bleibt, die auch aktuelle Programme wie das des Digitalen Humanismus oder eben des Human-Centered Design systematisch ausblenden: In welchem Verhältnis stehen eigentlich der in diesem Band vertretene „Werteuniversalismus” und der nicht zuletzt angesichts Eurozentrismus-Kritik vielfach vertretene „Wertepluralismus”? (eine deutliche Antwort liefert Grimm in Bezug auf Gabriel 2020). In der Entscheidung für bestimmte Werte und eine in der Praxis verankerte Ethik manifestiert sich eine aktiv-gestaltende Position.

Materialität und Körperlichkeit

Zwar fragen die Beiträge des eingans besprochenen Bandes von Seyfert/Roberge im Sinne einer praxistheoretischen Zuspitzung von Kultur nicht nur nach den den algorithmischen Technologien zu- und eingeschriebenen symbolischen Bedeutungen, sondern auch nach deren performativen Effekten. Letzte können, wie bereits erwähnt, diesen Bedeutungen durchaus zuwiderlaufen, indem etwa chaotische, verzerrende oder fehlerhafte Effekte erzeugt werden. Dennoch erfahren Leser:innen vergleichsweise wenig über einen zentralen Aspekt der praxistheoretischen Konzeption des Sozialen, nämlich dessen Materialisierung und Verkörperung. Immerhin enthalten einige Beiträge Hinweise und verstreute Beschreibungen der Materialisierung algorithmischer Technologie, z. B. der lesenswerte Beitrag von Rauer, der anhand selbststeuernder Militärdrohnen aufzeigt, welche Probleme der Zuschreibung von Handlungsträgerschaft und Verantwortung für staatliche Verwaltungen und Gerichte entstehen, wenn eine zuvor „rein menschliche Tätigkeit, [...] morgen schon Aufgabe einer Maschine“ (S. 201) geworden ist. Wie der menschliche Körper an algorithmischen Praktiken mitwirkt, thematisiert hingegen nur der Beitrag von Klett, der sich mit der Entwicklung einer algorithmischen Kopfhörertechnologie beschäftigt, die immersive Audioerfahrungen ermöglicht. Wenn die Soziologie Digitalisierung gerade auch als Prozess der Herausbildung neuer Formen des Zusammenspiels und der Verflechtung von Analogem und Digitalem zum Gegenstand der Analyse machen will, benötigt sie dazu materialitäts- und körpersensible Theorieperspektiven und empirische Analysen.

Schon alleine aufgrund ihrer Titel versprechen die Monographien von Klein/Liebsch sowie von Longhurst entsprechende Beiträge. Die Grundthese, die Klein/Liebsch auf knapp 160 Seiten ausrollen und anhand sechs verschiedener Alltagsbereiche (Essen, Sex, Arbeit, Bewegung, Altenpflege, Kulturkonsum) illustrieren, lautet: Von digitalen Medien vermittelte Sozialitäten kommen zwar ohne die körperliche Präsenz der Nutzer:innen in unmittelbarer räumlicher Nähe aus, aber nicht ohne die sinnliche Präsenz der beteiligten Körper. Erst diese mache „virtuelle Welten real erfahrbar“ (S. 151). Mit dieser These adressieren die Autorinnen zurecht ein Desiderat, das – abgesehen von offensichtlich körperlastigen Phänomenen wie digitaler Selbstvermessung beim Sport oder der Selbstpräsentation auf Sozialen Medien – in soziologischen Analysen der Digitalisierung bislang zu wenig Aufmerksamkeit erfährt. Wer also davon ausgeht, dass es in digitalen Kontexten von Gesellschaft zu einer ‚Entkörperlichung‘ und einem ‚Verlust des Leibs‘ kommt, wird durch die Lektüre eines Besseren belehrt. Dem Leib, den die Autorinnen in Anlehnung an leibphänomenologische Perspektiven begrifflich vom Körper unterscheiden, um die innere Ebene sinnlich-affektiver Empfindung und Erfahrung zu akzentuieren, kommt im Zuge der Verflechtung von Analogem und Digitalen eine zentrale Bedeutung zu. Da in digital vermittelter Ko-Anwesenheit, etwa beim Chatten oder in Videomeetings, nur medial vermittelte Sinneseindrücke der Beteiligten zirkulieren, wird von den Beteiligten verstärkt das leibliche Einbringen der „eigenen Vorstellungskraft“ (S. 138) verlangt, um die Handlungen des räumlich unzugänglichen Gegenübers verstehen und deuten zu können. Gleichzeitig steigt damit auch die Gefahr, die mit Hilfe dieser Wahrnehmungs- und Deutungsform des „fiktionalen Empfindens“ (S. 137) generierten Anschauungen unhinterfragt als Realität anzunehmen.

Mit dieser These betonen Klein/Liebsch in der Tat eine wichtige Erkenntnis, die sich aber auch schon in früheren soziologischen Untersuchungen zu medial vermittelter Ko-Präsenz in Echtzeit findet. So ist etwa das Gelingen der Interaktion zwischen Klient:innen und Betreuer:innen im Call Center vom Errichten emphatischer Brücken auf räumliche Distanz abhängig (Egger de Campo & Laube, 2008). Während manche Call-Center Mitarbeiter:innen es als Teil ihrer Professionalität verstehen, sich einfühlend imaginierte Bilder der Anrufer:innen zu erstellen, um deren Situation besser einschätzen zu können, begünstigt der Wegfall körperlicher Ko-Präsenz, dass manchen Beschäftigten das Bewusstsein dafür verloren geht, dass am anderen Ende des Interfaces letztlich ein Mensch sitzt. Zwar sprechen Klein/Liebsch, wie erwähnt, diese Gefahr an, beschäftigen sich aber wenig mit möglichen Folgen oder konkreten Erscheinungsformen.

Während das Buch durch sein Erscheinen noch im Zuge der Pandemie zurecht die Aufmerksamkeit auf die körperliche und leibliche Dimension digitaler Sozialitäten lenkt, kommen zwei andere Aspekte zu kurz. Die Autorinnen unternehmen ihren Streifzug durch die verschiedenen Bereiche digitalen Alltags ohne eigene empirische Untersuchungen, sondern zitieren zur Illustration ihrer Thesen empirisches Material anderer. Das alleine wäre noch kein Grund zur Kritik, allerdings bieten die zitierten Ausschnitte bisweilen nur oberflächliche Einblicke in die beschriebenen Alltagsbereiche. Gravierender ist, dass sich im Buch Abschnitte finden, die überhaupt keine Verweise auf empirische Untersuchungen bieten. Darüber hinaus bleiben Aspekte der Körperlichkeit und Materialität digitaler Sozialität im Dunkeln, die nicht im Fokus der verwendeten leibphänomenologischen Theorieperspektive liegen. Ein Beispiel bietet der Abschnitt über Videomeetings (S. 61–65). Während diese Seiten durchaus Spannung aufbauen, wenn die Autorinnen konstatieren, dass Videomeetings ein „neuartiges Verhältnis zwischen Ich und Anderen“ (S. 64) etablieren, z. B. durch die Theatralisierung von körperlichem Ausdruck und Bildhintergrund oder durch die „Selbstbespiegelung“ (S. 65) in Form des eigenen Videobilds am Screen, erschöpft sich die Analyse darin, festzuhalten, dass dies alles einen „Einfluss auf die Selbst- und Affektkontrolle“ (S. 65) der Beteiligten habe. Auf welche Weisen diese Theatralisierung vollzogen wird, welche normativen, performativen oder disziplinierenden Effekte mit ihr einhergehen, lassen die Autorinnen offen. Um etwa die Frage zu beleuchten, wie sich analoge Körper und digitale Medien auf der Ebene von Theatralisierung verflechten (sollen), um soziale Anwesenheit in Videokonferenzen performativ zu erzeugen, wäre es vielversprechend, die Performance-Theorie Goffmans im Lichte der Diskussion zu Praxistheorien aufzugreifen und weiterzuentwickeln (Laube, 2016).

Umso erstaunlicher, dass auch Longhurst, die dem Thema der körperlichen Performanz in videotelefonisch vermittelten Interaktionen ein ganzes Buch widmet, gänzlich auf Bezüge zur Performance-Theorie Goffmans verzichtet. Der Grund besteht darin, dass es ihr nicht um eine Analyse von Normen und Praktiken der Darstellung des Körpers in der Videotelefonie geht, sondern darum, wie Nutzer:innen neue Weisen der visuellen Beteiligung von Körpern und Räumen im Zuge videotelefonischer Interaktionen erleben und erfahren. Longhurst, die als Sozialgeographin und damit in einem der Soziologie verwandten Bereich tätig ist, bearbeitet dieses Forschungsinteresse mit Hilfe der phänomenologischen Theorieperspektive auf die Re-Orientierung von Körpern der Philosophin Sara Ahmed. Vor diesem Hintergrund konzentriert sie ihre Untersuchung darauf, mit welchen Formen des sich Wohlfühlens, des sich Aufgehoben-Fühlens, des sich zu Hause-Fühlens auf der einen Seite, und des sich Unwohlfühlens, des sich Unsicher- oder Verwundbar-Fühlens die Re- bzw. Desorientierung von Körpern in der Nutzung von Videotelefonie einhergeht (S. 23).

Den Vorwurf, keine detaillierten Einblicke in empirisches Material zu bieten, muss sich Longhurst dabei nicht gefallen lassen. Auf der Basis von 39 qualitativen Einzel- bzw. Mehrpersonen-Interviews mit Alltagsnutzer:innen von Videokonferenzsoftware – in den meisten Fällen jene Software, die der Monographie den werbewirksamen Titel verleiht – geht die Autorin von folgender Annahme aus: Videokonferenzsoftware ist immer noch eine vergleichsweise neue Kommunikationstechnologie, deren Gebrauch im Alltag mit vielen Verhaltensunsicherheiten verknüpft ist. Neben Fallstricken der technischen Bedienung und mangelnden Übertragungskapazität nennt Longhurst hier v. a. die durch Webcam und Videobild ermöglichte Echtzeit-Visualität des Mediums: „[H]ow to show our bodies on screen, which bits to conceal and which bits to highlight, whether we need to sit and stay still or move around the room, or go outside, whether there are certain spaces where it is not acceptable to [videophone] from and what these spaces might be” (S. 6). All dies seien Fragen, die Nutzer:innen nicht nur verunsicherten, sondern die auch mit Gefühlen der „Desorientierung von Körpern“ im Sinne Sara Ahmeds verbunden seien.

Empirisch kontrastiert Longhurst zwei Bereiche: Videotelefonie, um Familie und Freunde zu treffen, und Videotelefonie bei der Arbeit, um Kolleg:innen, Vorgesetzte, oder Kooperationspartner zu treffen. Dabei zeichnet sie ein gemischtes Bild: Während die Re-Orientierung der Körper in der Videotelefonie bei der Pflege familiärer und freundschaftlicher Interaktionsbeziehungen von den meisten der Interviewten mit Erfahrungen des sich Wohlfühlens und des sich Aufgehoben-Fühlens verbunden werden – ein Beispiel sind etwa Großeltern, die nach einiger Zeit gelernt haben, das Sehen und Hören ihrer räumlich weit entfernten Enkelkinder am Bildschirm zu genießen – berichten Nutzer:innen von Videotelefonie bei der Arbeit tendenziell von Erfahrungen des Unwohlseins, der Unsicherheit oder der Verwundbarkeit. So hätten Arbeitgeber:innen ein generelles Interesse, dass Arbeitnehmende auch in digitalen Interaktionen greifbar bleiben, via Textmessenger, aber bei Bedarf auch via Videoanruf, was dazu beitrage, dass sich Individuen gerade bei der Home- oder Remote-Arbeit nicht nur mehr überwacht und kontrolliert fühlten als im Büro, sondern, dass sie sich auch vermehrt darüber Gedanken machten, ob und wie sie die Materialität ihrer Körper und Wohnräume visuell zeigen sollten und zeigen möchten.

Auch wenn Longhurst, wie oben erwähnt, die ungeschriebenen Regeln und Praktiken der Darstellung des Körpers in der Videotelefonie nicht als normativ geprägte Performance im Sinne Goffmans untersucht, entwickelt sie im Fazit eine These, die genau nach einer solcher Perspektive verlangt. Mit dem Begriff „mandate of visibility“ (S. 123) stellt sie eine neue gesellschaftliche Normativität in Form eines Anspruchs auf „bodily materiality to be revealed on screen” (S. 122) in den Raum. Mit der Ausbreitung dieses Anspruchs, so Longhurst, kann eine ausgeschaltete Webcam zunehmend als ‚Sünde‘ gebrandmarkt oder zumindest höchst erklärungsbedürftig werden. Zwar hat sich in dieser Hinsicht einiges seit dem Erscheinen von Longhursts Studie getan: Mittlerweile scheint es in Videokonferenzen Situationen zu geben, in denen es legitim erscheint, die Kamera zu deaktivieren, etwa wenn man einem Vortrag beiwohnt und keine eigenen Redebeiträge erwartet werden. Dennoch ist der Verweis auf die Herausbildung einer neuen Verpflichtung zur videovermittelten Präsentation des Körpers eine soziologisch spannende These. Sie verweist nicht nur auf die Möglichkeit, dass derartige Normen in Machtbeziehungen durchgesetzt werden könnten (etwa von Arbeitgebern), sondern auch auf mit Prozessen der Digitalisierung verbundene Werte und Ideale digitaler Körperlichkeit: wie wichtig ist es uns als Gesellschaft, die Körper unserer Interaktionspartner:innen in Echtzeit betrachten zu können und in Echtzeit den eigenen Körper den medial vermittelten Blicken anderer auszusetzen? Fragen wie diese müssen zukünftige Studien zur Darstellung von Materialität und Körperlichkeit in videotelefonischer Interaktion in Angriff nehmen.

Burgess/Baym beschäftigen sich mit der Voraussetzungshaftigkeit digitaler Plattformen und ihren Materialitäten, und zwar am Beispiel der Plattform Twitter, noch genauer: anhand der Kern-Features des „@”, „#” (Hashtag) und RT (Retweets), womit sie einen Beitrag zum Feld der „sociotechnical aspects of platforms” (S. 18) in Aussicht stellen. Anders als etwa bei Klein/Liebsch oder Longhurst steht mit Plattformen eine andere Analyseebene im Fokus, nämlich die nicht selten als existent und stabil angenommenen Hintergrundarrangements digital-medialen Handelns, die sich in ihren affordanten Techniken, Ökonomien und Nutzungskulturen als jedoch hochdynamisch erweisen und sich über die Zeit verändern – und damit auch die Konventionen medienbezogenen Handelns, wie die Autor:innen en detail an den spannungsbeladenen Geschichten der genannten Features nachzeichnen.

Dabei gehen die Autor:innen zunächst davon aus, dass im Grunde alle Plattformen über idiosynkratische „features” verfügen, die zwar von den jeweiligen Herstellerunternehmen technisch integriert werden, oftmals aber in „emergent practices and shared conventions” der „early user” wurzeln (S. 32). Indem Plattformunternehmen (nur) bestimmte Features aufgreifen und kapitalisieren, erhandeln sie sich jeweils kennzeichnende Kontroversen um die richtige Lesart, die richtigen Nutzungsweisen und jeweils zerstrittenen Konventionen ebenjener. Mehr noch: Die Kernspannung, die Twitter (bzw. seit der Übernahme 2023 „X”) bis heute kennzeichnet, rekonstruieren die Autor:innen als Spannung zwischen Sociality and Everyday Life („social network”) einerseits und Plattform für öffentliche Kommunikation („information network”) andererseits.

Features werden von den Autor:innen im Anschluss an die Platform Studies, die sich wiederum auf die kulturanthropologisch orientierten STS beziehen, als „sociomaterial objects” theoretisiert, die in komplexe Beziehungen eingebunden sind, die sich u. a. aus der Frontstage und der Backstage des Technikdesigns, dem Netzwerk („ecosystems”) der Nutzer:innen und dem sich wandelnden Geschäftsmodell der Platform Company zusammensetzen. Features beeinflussen die Nutzung maßgeblich (S. 34), insofern sie „enactive power” (S. 35) entfalten, gleichzeitig zeigt sich an ihrem Wandel über die Zeit, wie Nutzer:innen ihnen widerstehen, sie unterwandern und in kreativer Weise erneuern. Als dergestalt „rich sites of controversy” (S. 35) stellen Plattformen damit eine ideale Betrachtungsebene dar, um den „evolving struggles” (S. 36) auf die Spur zu kommen, die Plattformen als aktuelle digital-mediale Handlungsarrangements zugrunde liegen.

Diese Sichtweise findet sich auch in programmatischen Arbeiten zu „platform vernacular” (S. 30) und drückt zugleich eine, wenn man so will, normative Position aus, die in den theoretisch-methodischen Rahmen der Studie eingeschrieben ist. Sie wendet sich gegen Sichtweisen, die die unbedingte Definitionsmacht der Plattformbetreiber und damit eine ökonomisch-kapitalistische Determinierung der digitalen Gegenwart betonen. Die Würde der alltäglichen (Technik-)Aneignung wird gegen eine politische Ökonomie in Stellung gebracht, die in selbstlegitimierender Absicht bestimmte Themen und Felder als legitim und berichtenswert (politischer Aktivismus, Wissenschaft und Nachrichten) und andere (Alltag) als „banal or even unhealthy” (S. 22) begreife. Für Twitter müssen die Autor:innen schließlich dennoch eine Zentralisierung und durchgesetzte „culture of global news” verbuchen, weshalb es umso wichtiger sei, „to maintain creative power users have to reshape the culture of digital platforms (...)” (S. 115).

Burgess und Baym legen einen leistungsfähigen Ansatz zur prozessorientierten Plattformforschung vor, der zu rekonstruieren vermag, wie Plattformunternehmen, ihre Technologien und die Nutzungskulturen „co-evolve over time” (S. 15) – ein Ansatz, der gerade angesichts der systematischen Unzugänglichkeit eben jener Plattformen und ihrer Daten produktiv erscheint. An der Bedeutung eines solchen Zugangs (neben zunehmend erstarkenden standardisierten Methoden der Computational Social Science und etwaigen Scraping-Instrumenten) ändern auch internationale Rechtsnovellen (etwa der Digital Services Act für Europa), die Plattformbetreiber zu einer dosierten Öffnung und Preisgabe von Daten und Schnittstellen bewegen (sollen), wenig.

Widersprüche und Gegenbewegungen

Während die bis dato genannten Arbeiten die alltagsweltliche Einbettung digitaler Technologie mitsamt ihren Spannungen betrachten, fokussieren Quadflieg, Neuburg und Nestler (Hg.) ganz ausdrücklich die alltäglichen Widerstände, die Digitalisierung gleichsam heraufbeschwört. Als übergreifenden Rahmen, der die vielfältigen Beiträge zusammenhält, greifen sie Thoreaus (1849) titelgebende Spannungsfigur des zivilen Un/Gehorsams auf. Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass mit der umfassenden Informatisierung eine vielfältig normierende, oft diskriminierende und Machtverhältnisse stabilisierende „Algorithm Power” am Werk ist, die wiederum im alltäglichen Gehorsam der Nutzer:innen – etwa wenn diese die Nutzungsbedingungen digitaler Dienste weniger reflektiert akzeptieren und damit Überwachungsstrukturen hinnehmen – gleichsam willfährig zugelassen wird. Damit schlägt jedenfalls die Rahmung des Bandes eine moralische Gangart ein. Denn in der Situation global durchgesetzter algorithmischer Macht seien Momente des Widerstands und des Ungehorsams angezeigt und gefordert, die sich allerdings nicht als dualistisch, sondern vielmehr als Spannung aus Gehorsam und zivilem Ungehorsam zeigten. Nicht allerdings dürfe der Band als Aufruf zum zivilen Ungehorsam oder als Ausdruck einer algorithmenkritischen Position missverstanden werden. Vielmehr gehe es den Herausgebern um überfällige technikethische Fragen und einen entsprechenden Diskurs, der nicht die Technik in den Mittelpunkt stellt, sondern die vielfältigen Problematisierungen ihrer Auswirkungen und die individuellen Strategien, mit denen Menschen sich diesen aktiv zuwenden oder widersetzen.

So vielfältig die alltäglichen Spannungsverhältnisse, so heterogen sind auch die 14 Beiträge des Bandes, die die Herausgeber leider nur bedingt nachvollziehbar einer dreiteiligen Struktur (S. 21) zuordnen. Der erste Block an Beiträgen wendet sich laut den Herausgebern epistemologischen Fragen zu, was sich vermutlich auf die Beiträge von Quadflieg et al. selbst, Arnold (zu Dialektiken der Dis-Obedience) und Mellentin/Schmidt (zu diskriminierenden Assemblagen von Überwachung, Macht und KI) bezieht. Darauf folgen empirisch-analytische Perspektiven, womit vermutlich Weiss (zum Einbau von Surveillance in Körper), Höfler zu Entkopplungseffekten in urbanen Sicherheitsarchitekturen, Ahlert zur aktiven Sozialraumprägung von Kartensystemen wie Google Maps, Trapp/Thum zu ver-räumlichten Formen der Surveillance und deren Bindung an Devices, Hecht zu Formen des algorithmischen Managements im Feld der Solo-Selbstständigkeit und Plattformarbeit, Santos zur komplexen Gemengelage von Europäischen und nationalen Rechtsfragen sowie staatlichen Rechtfertigungen von datenbasierten, algorithmischen Entscheidungssystemen und Dill zu Biases von Suchmaschinen gemeint sind. Lütz unterstreicht die Wirkstärke oft verborgener und indirekter Mechanismen in den Datensätzen, auf denen Entscheidungs-Algorithmen letztlich basieren, was er als „discrimination by correlation” (S. 258) bezeichnet, um darüber dann techno-soziale Korrekturpotentiale anzuzeigen. Dieser Beitrag dürfte den Übergang zum dritten Block markieren, in dem Leser:innen Beiträge finden sollen, die sich mit konkreten normativen Richtschnüren und Beschreibungen von Formen des Ungehorsams befassen (die sich allerdings bereits schon in vielen der vorherigen Textbeiträge finden). Pfeffer widmet sich dem Strukturwandel der digitalen Öffentlichkeit, Houwing befasst sich mit sich der Notwendigkeit, biometrische Überwachung in öffentlichen Räumen zu verbieten, und schließlich Schon mit identitätsprägenden Effekten von Algorithmen und populärmedialen Quellen für ungehorsame Identitätstypen. In dieser Vielgestaltigkeit der Beiträge sehen Quadflieg et al. eine notwendige „multi-perspectivity”, die allesamt der vorherrschenden Computer Science Sichtweise entsagen und der Frage nachspüren „Why do we obey Algorithms and Computers at all?” (S. 16).

Während Arnold sehr grundlegend nach der Grenze der technischen Rationalisierbarkeit von Gesellschaft und dem Umschwung hin zu Ungehorsam am Beispiel der ersten Weltausstellung in London (1851) fragt, widmen sich alle weiteren der oben genannten Autor:innen spezifischen Problembereichen von Digitalität an sehr heterogenen Beispielfeldern. Gemäß der Einladung der Herausgeber nehmen sie dabei etwaige Praktiken des Widerstands, der gezielten Irritierung, der unsichtbaren Sortierung und der Verrechnung von Algorithmen in den Blick. Dill z. B. zeigt auf, dass User:innen diskriminierenden Effekten und insbesonere Gender Biases in Suchmaschinen dadurch entgegnen, dass sie eigene Daten verbergen, indem sie bei Informationseingaben gezielt die eigenen, demographischen Angaben variieren. Mellentin/Schmidt fordern eine feministische, intersektionale Sicht auf (mass) surveillance, wonach Überwachung nicht alle gleich betrifft (S. 53) und auch der selbstbestimmte Umgang mit privaten Daten, und damit der Schutz der Privatsphäre, stark von Bildung, technischem Wissen und ökonomischen Faktoren abhängt. Die Autor:innen problematisieren, dass es keinen Gesamtansatz zur proaktiven Eindämmung von Surveillance-Effekten gibt, was letztlich am fehlenden technischen Wissen liege. In der seit Jahrzehnten etablierten Technikfolgenabschätzung, die in Deutschland zunehmend auch in die Ausarbeitung digital-politischer Rahmenwerke eingebunden wird, sehen sie einen wichtigen Schritt. Über verschiedene Fälle hinweg bietet die Lektüre konkrete Einblicke, wie sich in der black box algorithmischer Surveillance-Prozeduren Machtstrukturen, Ungleichheiten und Verzerrungen verstärken. Weiss setzt am Beispiel der technologischen Körperoptimierung an, wie sie sich seit Jahren in Gestalt körpernaher Gadgets Bahn brechen, und konstatiert einerseits, dass in größere technische Verwertungssysteme eingekoppelte Menschen zu „mechanical body turk[s]” werden (S. 85). Andererseits sind ebenjene Systeme maßgeblich westeuropäische Produkte, maßgeschneidert im normativen Korsett etwaiger Gender- und Hautfarbe-Stereotype, die sich auch in Verzerrungseffekten etwa der „voice recognition“ ausdrücken (S. 84).

Sortierende Strukturen, die in (Sicherheits-)Architekturen eingeschrieben sind, oftmals unbemerkt ‚operieren’ und gerade damit nachhaltig diskriminierende Effekte und Folgewirkungen erzeugen (etwa zur Gesichtserkennung, S. 84), finden sich in einer Reihe weiterer Beiträge. Darunter sind einige einsichtsreiche Konzepte, wozu die gegenstandsdichte Reflexion des algorithmischen Managements in der Plattformarbeit ebenso zählt (Hecht), wie die bereits genannte „discrimination by correlation” (Lütz, insbes. S. 258–266), die beschreibt, dass algorithmische Entscheidungssysteme oftmals keine explizit diskriminierenden Schritte beinhalten, sondern Diskriminierung vielmehr aus den Korrelationen in den zugrunde liegenden Daten(sätzen) entsteht. Zu den Bereicherungen zählt auch die gewissenhafte Darstellung Europäischer Rechtsrahmen und staatlicher Rechtsordnungen, die es für ein „fundamental human rights framework” (S. 197) zu berücksichtigen gelte.

Insgesamt stellt sich der Band als eine reichhaltige Sammlung empirischer, konzeptioneller, theoretischer, judikativer und mithin künstlerischer sowie – qua Zielstellung – auch normativ-ethischer – Überlegungen dar, der nicht zuletzt auch die Debatte zu „De-Mediatisierung” (Pfadenhauer & Grenz, 2017) erweitert. Die Leitfigur des Ungehorsams wird nicht in allen Beiträgen klar herausgearbeitet, manchmal wirkt sie eher nur als schmückendes Beiwerk. Leser:innen sollte ferner klar sein, dass wir es auch hier (siehe auch den Band von Piallat, Hg.) mit einer von den Herausgebern selbstkritisch (S. 10) thematisierten Perspektive aus der Mitte Europas zu tun haben, was angesichts der Globalität von Risiken, aber gerade auch der durch spätestens mit den globalisierungskritischen Bewegungen erweiterten Bezugsfelder bemerkenswert ist. Aus Leser:innen-Sicht erschwert die absichtlich gepflegte (?) Unordnung der Beitragszuordnung, aber auch die Heterogenität der Beiträge selbst, die Orientierung.

Fazit

Gesellschaftliche Technisierung ist seit Jahrzehnten soziologisch taktgebend, wie auch (digital-)technische Möglichkeiten immer schon das prägen (oder gar erst hervorbringen), was die Soziologie als ihren Gegenstand ausmacht. So betrachtet macht es weder Sinn, von einer „Soziologie der Digitalisierung” zu sprechen (es sei denn, es geht etwa um die Analyse von Digitalisierungsprogrammen und -strategien), noch von einer „Digitalen Soziologie”. Wenngleich man mit der Losung des „Postdigitalen” womöglich einer anderen Epochenmarke das Wort redet, so kennzeichnet diese Sichtweise doch ein de-centering digitalization, womit die Erscheinungsformen und Folgewirkungen, mithin die ambivalenten Effekte der Digitalisierung, ins Rampenlicht treten. Die hier besprochenen Werke führen vor diesem Hintergrund zwei Leerstellen vor Augen, zu denen sie aussichtsreiche Beiträge liefern: zum einen in Hinblick auf die oft stillschweigenden Voraussetzungen der Digitalisierung, zum anderen in Bezug auf Widersprüche und Gegenbewegungen, die aus den Selbstverständlichkeiten einer postdigitalen Gesellschaft resultieren. Besonders spannungsgeladen erscheint uns dabei die Frage, ob, und wenn ja, wie die Soziologie als eine Art Mitgestalterin in postdigitalen Kontexten auftreten könnte. Diese Idee zieht sich durch viele der hier besprochenen Texte. Für ihre Umsetzung braucht es allerdings vermutlich weniger gänzlich neue (digitale) Methoden und Theorien als vielmehr eine gewisse Öffnung, etwa zu Technik- und Ingenieurswissenschaften, mithin Allianzen mit diesen, um zu erschließen, wie Digitalisierung in vielfältigen gesellschaftlichen Kontexten hervorgebracht wird.

Literatur

Egger de Campo, M., & Laube, S. (2008). Barrieren, Brücken und Balancen. Gefühlsarbeit in der Altenpflege und im Call-Center. Österreichische Zeitschrift für Soziologie, 2(33), 19–42.10.1007/s11614-008-0016-xSearch in Google Scholar

52group (2009, 17. Juni). Preparing for the postdigital era. https://docs.google.com/document/d/1TkCUCisefPgrcG317_hZa4PwZoQ8m7rL5AJF6PazHHQ/previewSearch in Google Scholar

Gabriel, M. (2020). Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten. Universale Werte für das 21. Jahrhundert. Ullstein.Search in Google Scholar

Göttlich, U. (2022). Zur Vermessung des „Digitalen“: Soziologie und die Herausforderungen der digitalen Transformation. Soziologische Revue, 45(4), 421–445. 10.1515/srsr-2022-2032Search in Google Scholar

Jarke, J. (2018). Themenessay: Digitalisierung und Gesellschaft. Soziologische Revue, 41(1), 3–20. 10.1515/srsr-2018-0002Search in Google Scholar

Laube, S. (2016). Goffman mediatisieren. Zum Zusammenspiel von Vorder- und Hinterbühne in digitalisierten Praktiken. In H. Schäfer (Hrsg.), Praxistheorie. Ein soziologisches Forschungsprogramm (S. 285–300). Transcript.10.1515/9783839424049-014Search in Google Scholar

Negroponte, N. (1998). Beyond Digital. Wired, 6(12). https://www.wired.com/1998/12/negroponte-55/ Search in Google Scholar

Pfadenhauer, M., & Grenz, T. (2017). De-Mediatisierung: Diskontinuitäten, Non-Linearitäten und Ambivalenzen im Mediatisierungsprozess. Springer VS.10.1007/978-3-658-14666-5Search in Google Scholar

Schäfer, H. (2021). Der Gebrauch des Digitalen. Zur praxeologischen Analyse digitaler Kultur. Mittelweg 36 (Schwerpunktheft: Digitale Praktiken), 30(1), 3–14.Search in Google Scholar

Schrape, J. F. (2022). Sammelbesprechung: Algorithmische Strukturen in der alltäglichen Lebenswelt. Soziologische Revue, 45(4), 468–480.10.1515/srsr-2022-2016Search in Google Scholar

Schulz, W. (2004). Reconstructing Mediatization as an Analytical Concept. European Journal of Communication, 19, 87–101.10.1177/0267323104040696Search in Google Scholar

Winner, L. (1980). Do Artifacts have Politics? Daedalus, 109(1), 121–136.Search in Google Scholar

Online erschienen: 2024-08-29
Erschienen im Druck: 2024-08-28

© 2024 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

Articles in the same Issue

  1. Frontmatter
  2. Frontmatter
  3. Editorial
  4. Symposium
  5. Sahra Wagenknecht gefällt das
  6. Kampf um gesellschaftlichen Zusammenhalt: Münchs Verschiebung der Fronten
  7. „Viel Lärm um nichts“
  8. Essay
  9. Wie unbestimmbar ist Lebensqualität?
  10. Bildungsungleichheit wie in kaum einem anderen Land? Hartmut Essers Frontalangriff auf die Standardposition und das Integrationsmodell in der Bildungsforschung
  11. Themenessay
  12. Soziologische Forschung für nachhaltige Entwicklung
  13. Sammelbesprechung
  14. Soziologie (in) der postdigitalen Gesellschaft
  15. Qualitative Forschung im Lichte neuerer Publikationen
  16. Doppelbesprechung
  17. Zur praktischen Relevanz der Gabentheorie. Analyse des Zusammenwirkens in Organisationen und in der Digitalwirtschaft aus der Perspektive der Gabe
  18. Methodologie der Intersektionalität
  19. Einzelbesprechung Angewandte Soziologie
  20. Christian von Ferber (hrsg. von Alexander Brandenburg), Menschenbild und Gesellschaft. Studien zur Philosophischen Anthropologie, Soziologie und Medizinsoziologie. Baden-Baden: Verlag Karl Alber 2022, 412 S., kt., 89,00 €
  21. Einzelbesprechung Bildungssoziologie
  22. Achim Brosziewski, Lebenslauf, Medien, Lernen: Skizzen einer systemtheoretischen Bildungssoziologie. Weinheim Basel: Beltz Juventa 2023, 243 S., kt., 28,00 €
  23. Einzelbesprechung Digitalisierung
  24. Andreas Wagener / Carsten Stark (Hrsg.), Die Digitalisierung des Politischen: Theoretische und praktische Herausforderungen für die Demokratie. Wiesbaden: Springer VS 2023, 338 S., kt., 64,99 €
  25. Einzelbesprechung Grenzsoziologie
  26. Ulla Connor, Territoriale Grenzen als Praxis. Zur Erfindung der Grenzregion in grenzüberschreitender Kartografie. Baden-Baden: Nomos 2023, 347 S., br., 79,00 €
  27. Einzelbesprechung Hochschulforschung
  28. Frerk Blome, Universitätskarrieren und soziale Klasse: Soziale Aufstiegs- und Reproduktionsmechanismen in der Rechts- und Erziehungswissenschaft. Weinheim/Basel: Beltz Juventa 2023, 546 S., br., 78,00 €
  29. Einzelbesprechung Kultur und soziale Praxis
  30. Barbara Sieferle, Nach dem Gefängnis. Alltag und unsichtbare Bestrafungen. Bielefeld: transcript Verlag 2023, 234 S., kt., 45,00 €
  31. Einzelbesprechung Organisationssoziologie
  32. Tobias Röhl, Verteilte Zurechenbarkeit: Die Bearbeitung von Störungen im Öffentlichen Verkehr. Frankfurt/New York: Campus 2022, 256 S., br., 39,00 €
  33. Einzelbesprechung Professionssoziologie
  34. Barbara Fillenberg, Akademisierung des Hebammenwesens: Eine empirische Studie am Beispiel Bayerns. Opladen / Berlin / Toronto: Barbara Budrich 2023, 300 S., kt., 68,00 €
  35. Korrigendum
  36. Korrigendum zu: Talcott Parsons, Zur Theorie der sozialen Interaktionsmedien, herausgegeben von Helmut Staubacher und Paul Reichacher. Wiesbaden: Springer 2023, S. 193, kt., 29,99 €
  37. Rezensentinnen und Rezensenten des 3. Heftes 2024
  38. Eingegangene Bücher (Ausführliche Besprechung vorbehalten)
Downloaded on 11.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/srsr-2024-2030/html
Scroll to top button