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Kampf um gesellschaftlichen Zusammenhalt: Münchs Verschiebung der Fronten

Richard Münch, Polarisierte Gesellschaft: Die postmodernen Kämpfe um Identität und Teilhabe. Frankfurt/New York: Campus 2023, 449 S., br., 49,00 €
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Published/Copyright: August 29, 2024
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Richard Münch, Polarisierte Gesellschaft: Die postmodernen Kämpfe um Identität und Teilhabe. Frankfurt/New York: campus 2023, 449 S., br., 49,00 €


Schlüsselwörter: Klassenkonflikte, gesellschaftliche Macht, gesellschaftlicher Zusammenhalt, Demokratie, gewerblicher Mittelstand

Richard Münch, Professor an zwei Universitäten, hat hier ein umfangreiches intellektuelles Werk vorgelegt, das sich durch umfassende Bildung in seinem akademischen Bereich, der Soziologie, auszeichnet – um zu zeigen, dass ein zentraler, wenn nicht gar der entscheidende „Antagonismus“ in der Gesellschaft der Gegenwart zwischen dem „gebildeten Bürgertum“ und dem „gewerblichen Bürgertum“ besteht, die sich im „Klassenkonflikt“ (S. 81) miteinander befinden. Er lässt dabei keinerlei Zweifel daran aufkommen, für wen er in diesem Konflikt Partei ergreift: den „gewerblichen Mittelstand“. Es ist also ein Buch, das sich gegen den Stand seines Verfassers richtet. Daran ändert auch nichts, dass dieser im Vorwort auf seine Herkunft aus einer Unternehmerfamilie hinweist (S. 11). Denn wie jedes akademische Werk ist auch dieses ein Produkt von Bildung. Es macht neugierig, wie der Autor diesen „Antagonismus“, den er geradezu selbst verkörpert, postuliert, darlegt und ausficht. Vor allem aber wird es im Folgenden darum gehen, ob Münchs in nahezu gleichlautenden Formulierungen immer wieder wiederholte Aussage, in der polarisierten Gesellschaft der Gegenwart sei der gewerbliche Mittelstand die entscheidende Kraft zur Bewahrung oder auch Wiederherstellung gesellschaftlichen Zusammenhalts, überzeugt.

Es ist eine Stärke des Buchs, dass es, entgegen allen kulturtheoretischen Deutungen von Spaltungen in der Gegenwartsgesellschaft, die Materialität von Verteilungskämpfen und Klassenkonflikten hervorhebt, die hinter vorgeblichen Kulturkämpfen stecken (S. 14–15). Münch führt dies in seiner Auseinandersetzung mit den Arbeiten von Reckwitz aus. Er arbeitet seinerseits sechs Spaltungslinien heraus, von denen er einige nach der Logik von Einstellungspolaritäten, andere nach der Logik von Polaritäten in der Sache formuliert. Sie sind, so Münch, mit dem Übergang von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft und der Globalisierung aufgebrochen oder haben sich vertieft. Denn die strukturellen und organisatorischen Voraussetzungen für kollektive Kämpfe um Teilhabe an Wohlstand und Macht im Rahmen eines „klassenübergreifenden Produktivitätsbündnisses“ von Kapital und Arbeit, wie sie in der Industriegesellschaft gegeben gewesen seien, seien unwiederbringlich verschwunden. „Mangels gruppenübergreifender Organisationsmöglichkeiten, regrediert die Gesellschaft auf das Niveau vormoderner Stammeskämpfe“ (S. 209). Um die Spaltungen zu überwinden, bedarf es nach Münch einer gesellschaftlichen Kraft, die als Brückenbauer zwischen Globalität und Lokalität wirkt, zwischen lokaler Verbundenheit und weitreichenden globalen Beziehungen. Diese „entscheidende Bedeutung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt im zugleich globalen und lokalen Maßstab“ (S. 345) komme den Unternehmen des gewerblichen Mittelstands zu.

Es ist mir im Rahmen dieses Symposiums nicht möglich, den einzelnen Spaltungslinien nachzugehen. Stattdessen werde ich auf drei für das gesamte Buch wesentliche Argumentationsfiguren eingehen: auf Münchs Sicht des antagonistischen Klassenkonflikts, auf seine Sicht der akademischen Machtelite und auf seine Sicht von gesellschaftlichem Zusammenhalt durch organische Solidarität. In allen drei Hinsichten sehe ich problematische Verschiebungen in der Argumentation am Werk.

Das Problem des antagonistischen Klassenkonflikts

Zunächst also zu den Klassenkonflikten und damit zurück zu dem bereits eingangs angesprochenen „Antagonismus“ zwischen dem „gebildeten“ und dem „gewerblichen Bürgertum“. Es handelt sich dabei um einen Antagonismus innerhalb des „Mittelstands“ (S. 79). Da er in Münchs Abhandlung eine so bedeutende Rolle spielt, ist es angezeigt, ihn etwas ausführlicher darzulegen. Er manifestiert sich, Münch zufolge, in gegensätzlichen Sichtweisen auf Gesellschaft und Welt: als Idealismus versus Materialismus (S. 55), Kultur versus Ökonomie (S. 78).

Wer sind die Träger dieser gegensätzlichen Sichtweisen?

In Reinform, d. h. idealtypisch zugespitzt, sind das auf der einen Seite Professoren, Lehrer und Pastoren mit geisteswissenschaftlicher Bildung, auf der anderen Seite Gewerbetreibende in Industrie, Handel und Dienstleistung sowie Handwerksmeister mit eigenem Handwerksbetrieb. Die eine Seite ist mit Forschung, Lehre und Sinnstiftung, der Befriedigung ideeller Bedürfnisse und der Mehrung von kulturellem Kapital beschäftigt, die andere mit der Befriedigung materieller Bedürfnisse und der Mehrung von ökonomischem Kapital. (S. 79)

Bedienen Lehrer und Forscher nur ideelle, nicht auch handfeste materielle Bedürfnisse in der Gesellschaft? Münch fährt fort:

Zum Gegensatz zwischen theoretischer und praktischer Orientierung kommt noch der Gegensatz zwischen wettbewerbsfreier, sicherer verbeamteter oder angestellter Beschäftigung im öffentlichen oder kirchlichen Dienst auf der einen Seite und selbständiger, dem Wettbewerb ausgesetzter Tätigkeit in der Privatwirtschaft auf der anderen Seite hinzu. (S. 79–80)

Demzufolge wäre der erhebliche Anteil der nicht sicher verbeamteten oder angestellten Beschäftigten im öffentlichen Dienst (die Mehrheit bei der Neueinstellung) von der Entgegensetzung auszunehmen. Münch kommt zu dem Schluss: „Zwischen diesen beiden Exponenten des gebildeten und des gewerblichen Bürgertums besteht der schärfste Gegensatz in Interessen und Lebensführung“ (S. 80).

Den so bezeichneten antagonistischen Positionen ordnet Münch abgestuft weitere Berufsgruppen der Mittelklasse nach ihrer jeweiligen Nähe zu den Polen zu. Dabei fällt auf, dass der Pol des „gebildeten Bürgertums“ sogleich mit Berufsgruppen bestückt wird, die in Verwaltungen tätig sind, sei es öffentlichen oder kirchlichen, weil sie mit dem „reinen gebildeten Bürgertum die wettbewerbsfreie sichere Beschäftigung“ [teilen] (S. 80). Dies ist deshalb von Bedeutung, weil Bürokratie eines der zentralen Merkmale darstellt, an denen Münch an anderer Stelle die Machtausübung festmacht, die vom gebildeten Bürgertum ausgeht. Von Verwaltungsaufgaben und bürokratischer Organisation innerhalb von Unternehmen ist bei ihm hingegen nicht die Rede (Deutschmann erörtert sie mit Verweis auf Weber in: Deutschmann, 2002, S 127–128). Dass akademische Bildung per se nicht trennscharf zwischen den beiden Polen unterscheidet wird daran deutlich, dass Münch „viele Berufstätige mit akademischer Bildung“ der Seite des gewerblichen Bürgertums zuordnet, „Ingenieure, Informatiker, Betriebswirte und Wirtschaftsprüfer, die in ihren Berufen nicht mit Sinnstiftung und Verwaltung beschäftigt sind, sondern mit ökonomischer Effizienz und technischer Problemlösung“ (S. 80). Diese Kriterien verbinden ihm zufolge auch den Techniker, Handwerker und Facharbeiter mit dem gewerblichen Bürgertum (S. 80).

Wie fügt sich die von Münch ins Zentrum seiner Argumentation gerückte Mittelklasse in die Klassenverhältnisse insgesamt ein? Hierzu finden sich einschlägige Ausführungen auf den Seiten 188–190. Sie erweitern den Blick insbesondere dadurch, dass sie sowohl die „ökonomische Oberklasse“ als auch die „kulturelle Oberklasse“ einbeziehen:

Die ökonomische Oberklasse bilden die Wirtschaftselite der Eigentümer und Manager global agierender Konzerne und die technische Intelligenz, die kulturelle Oberklasse die kreative Intelligenz von Eigentümern, Produzenten, Intendanten, Direktoren und Regisseuren des Kultur- und Medienbetriebs, Präsidenten, Rektoren und führende Professoren des Wissenschaftsbetriebs. (S. 188)

Umso erstaunlicher ist es, dass die „ökonomische Oberklasse“, die hier ins Bild gerät, bei der Charakterisierung des „fundamentalen Klassenkonflikt[s]“ in „unserer Zeit“, dem zwischen „dem akademischen Mittelstand im öffentlichen und kirchlichen Dienst und dem gewerblichen Mittelstand sowie der Arbeiterschaft in der Privatwirtschaft“ (S. 387), nicht vorkommt.

Dabei ist es Münch durchaus bewusst, dass von dort „oben“ dem gewerblichen Mittelstand die größte Gefahr droht. Eingestreut in andere Kontexte kommt es zur Sprache:

Die rechte Fraktion der Globalen bilden die transnationalen Konzerne, allen voran die Technologiekonzerne des Silicon Valley in den USA. Sie sehen in der globalisierten Ökonomie die Bedingung für die grenzenlose Ausübung von Marktmacht und zugleich die Möglichkeit, sich in Steueroasen dem Zugriff staatlicher Steuererhebung zu entziehen. Dazu gehören die Manager und Experten der transnationalen Konzerne, der Finanzdienstleister, der Beratungsindustrie, der Ratingagenturen und der Internationalen Organisationen, wie die Welthandelsorganisation, der Internationale Währungsfonds und die Weltbank, die den globalen Kapitalismus in Schwung halten. (S. 86–87)

Das scheint nicht nur mit einiger Bewunderung so formuliert zu sein („in Schwung halten“), sondern vor allem mit Besorgnis („grenzenlose Ausübung von Marktmacht“). Ausdrücklich geht Münch auf die Bedrohung ein, wenn er schreibt, dass sich der „gewerbliche Mittelstand“ [...] „gegen die Verdrängung durch globale Konzerne stemmt“, eine Bedrohung, die er jedoch sogleich wieder ergänzt mit dem Hinweis auf eine äquivalente Bedrohung durch die „ökonomisch nicht tragfähige, auf Sinnproduktion und die staatliche Administration der Gesellschaft fokussierte Lebensphilosophie der Kultureliten“ (S. 197). Ihr schreibt Münch die Macht zu, zusammen mit den „globalen Digitalkonzernen“ die Gesellschaft und vor allem das mittelständische Unternehmertum zu beherrschen (S. 360–361). Wie den transnationalen Konzernen in dieser vorgeblichen Allianz beizukommen sei, davon ist dann allerdings nicht mehr die Rede. Umso mehr jedoch von der herrschenden Kulturelite.

Wie gelingt es Münch, das so Offensichtliche, die Bedeutung der „ökonomische Oberklasse“ für die Herrschaftsverhältnisse in der Gegenwartsgesellschaft, kaum benannt, derart wieder im Hintergrund verschwinden zu lassen? Durch eine Verschiebung der Argumentation von der vertikalen Klassenstruktur zu horizontalen, weltanschaulichen Konflikten innerhalb der Mittelklasse. Damit geht aber auch der Blick auf weitere mögliche Konfliktlinien verloren, die in der vertikalen Klassenstruktur angelegt sind – Konflikte zwischen den Vertretern technischer Berufe und dem Management von Unternehmen zum Beispiel, die sich an der Konfliktlinie technische Rationalität versus ökonomischer Gewinn entzünden können (ein Beispiel aus jüngster Zeit: der Fall Boeing in den USA; zu Gerechtigkeits- und Rationalitätsansprüchen von Erwerbstätigen im Konflikt mit Managementhandeln siehe Tullius & Wolf, 2016). Auch die Facharbeiter mit ihren Interessen wären dann nicht mehr allein als Anhängsel des „gewerblichen Mittelstands“ zu betrachten. Die Verschiebung hat weitere erhebliche Folgen, sobald es um Münchs Bestimmung der herrschenden Machtelite geht.

Das Problem der akademischen Machtelite

Folgt man Münch, dann hat das gebildete Bürgertum – in seiner Reinform repräsentiert von Professoren, Lehrern und Pastoren – einen neuen Leviathan hervorgebracht, eine akademische, den Staat und die Medien beherrschende Machtelite, die in einer unheiligen Allianz mit den globalen Digitalkonzernen das mittelständische Unternehmertum und mit ihm die wesentliche ausgleichende Kraft in der Gesellschaft unterdrückt:

Dass sich die Gesellschaft in dieser Richtung entwickelt hat und damit sowohl ihre wirtschaftliche Leistungsfähigkeit als auch ihre Integrationskraft verloren hat, liegt an der Verschiebung der gesellschaftlichen Klassen- und der politischen Machtverhältnisse. Die Akademisierung der Gesellschaft und der Politik, abzulesen an der Expansion der Hochschulbildung und der nahezu vollständigen Akademisierung der Parlamente, hat eine Machtelite geschaffen, der das mittelständische Unternehmertum fremd ist. Dieser Machtelite fehlt jede Bodenhaftung in genau jenem Milieu, das als Fundament einer Gesellschaft dient, der es gelingt, Wirtschaftsdynamik und soziale Integration, Kosmopolitismus und Kommunitarismus miteinander zu verbinden. Stattdessen herrscht mit der neuen Plattformökonomie der Digitalkonzerne ein lokal entwurzelter, rein ökonomischer Globalismus, mit dem sich ein rein intellektueller Kosmopolitismus der ebenso lokal entwurzelten akademischen Machtelite verbindet [...]. (S. 360–361)

In der soziologischen Ausbildung habe ich zu fragen gelernt, „who does what, how, and why?“ Wer also gehört laut Münch zur „akademischen Machtelite“? Menschen in allen akademischen Berufen – dann aber auch wieder nicht, da es ja den Klassenkonflikt innerhalb des „Mittelstands“ mit der Unterscheidung zwischen „akademisch“ und „geisteswissenschaftlich“ geben soll; Menschen, die sich vorwiegend mit „Sinnsuche“ und „Verwaltung“ beschäftigen (S. 357) – wie das eine mit dem anderen zusammengeht, erschließt sich mir nicht, auch nicht mit Max Weber; Menschen in gesicherten Arbeitsverhältnissen, besonders Beamte (S. 358, S. 362) – wäre es da nicht aufschlussreich, zu wissen, an welchem „Beamtensessel“ das „Bildungsbürgertum“ „klebt“, wie es auf S. 361 heißt, um welche Angestellten und Beamten es sich handelt, in welchen Einrichtungen und Verwaltungen sie arbeiten, und mit welcher Macht sie dabei überhaupt ausgestattet sind? Zur akademischen Machtelite gehören weiterhin „Angestellte der NGOs“ (aller?), des „Öffentlich-Rechtlichen Rundfunks (ÖRR) und der führenden Medienhäuser“ (S. 361). Was verbindet alle diese unterschiedlichen Akademiker? Teil der „herrschenden Kulturelite“ zu sein (S. 357). Wie herrschen sie? Indem sie mit ihrem „Idealismus“ die „Schaltstellen der Macht“ besetzt halten (S. 361). Dazu gehört ihr Einfluss auf das Parlament und die Regierung (S. 354, S. 109). Mit diesem Einfluss treiben sie den Staat in die Richtung eines „totalen Erziehungs-und Überwachungsstaats“ (S. 109) – würde man es, bei diesem starken Vorwurf, nicht genauer wissen wollen, wer hier wie agiert? Insbesondere aber hält – all dies immer noch Münch zufolge – „das intellektuell-liberale und das sozial-ökologische Milieu die zentralen Schaltstellen der medialen Meinungsbildung besetzt“ und kann auf diese Weise ihre „eigene Sicht auf die Welt“ zur allgemeinen erklären (S. 70) – dies ungeachtet dessen, dass Münch in der Kritik an Reckwitz zeigen will, wie minoritär diese Weltsicht in der Gesamtbevölkerung vertreten ist, und trotz aller zweifellos beträchtlichen Unterschiede allein schon in den an das gebildete Bürgertum gerichteten Printmedien, ganz zu schweigen von den ein nichtakademisches Publikum adressierenden Medien. Es bleibt die Frage nach dem „Warum“. Die nahegelegte Antwort lautet: zur Selbstbestätigung und dem eigenen Machterhalt, einschließlich der Sicherstellung der eigenen Finanzierung aus Steuermitteln.

Es ist müßig, im Nachhinein auf begriffliche Klarheit und Präzisierung zu dringen. Weiterführend ist hingegen, was Münch selbst zu Entwicklungen in Verwaltung und öffentlichem Dienst ausführt.

Gegen Reckwitz‘ These von der Ausbreitung von Anforderungen an Singularität und Kreativität hebt Münch die Standardisierungen hervor, die „für weite Teile des Arbeitslebens“ (S. 194) gelten, und so auch für die öffentlichen Dienste bis in den Bildungsbereich hinein. Treiber der Standardisierung in den letzten Jahrzehnten war eine Ökonomisierung:

Nicht zufällig ist Großbritannien, wo dieser Prozess der öffentlichen Dienste durch New Public Management mit Margaret Thatcher zuerst eingesetzt hat und am umfangsreichsten durchgeführt wurde, die Wiege der an Foucault anschließenden Governmentality Studies, die zeigen, wie minutiös professionelle und semiprofessionelle Tätigkeiten der externen Kontrolle durch Dokumentationspflichten und Tests nach standardisierten Kriterien unterworfen wurden. (S. 195)

Münch greift in diesem Zusammenhang den von Power geprägten Begriff der „Audit-Gesellschaft“ auf und verweist auf die „Agenda des Benchmarkings im internationalen Bildungswettbewerb“ (S. 194). Die Einführung von Managementpraktiken in die öffentlichen Dienste und mit ihr die Verschärfung von Bürokratisierung aber gehört in dem von Münch aufgemachtem Gegensatzpaar Kultur versus Ökonomie zweifellos auf die Seite der ökonomischen Weltsicht, nicht die des „Idealismus“ der „Sinnsuche“. Es ist die ökonomische Weltsicht, die seit den 1980er Jahren herrscht.

Auch die zweite Verschiebung in Münchs Buch, diesmal direkt mit Blick auf die Machtverhältnisse, zeitigt politische Folgen. Auf dem Weltmarkt haben sich die Rahmenbedingungen für mittelständische Unternehmen grundlegend verändert. Bei Münch finden sich keine Argumente, wie den globalen Konzernen Fesseln angelegt werden könnten, aber viele, die darauf hinauslaufen, dass dies nicht geschehen kann und darf. Stattdessen soll den Nöten des gewerblichen Mittelstands dadurch abgeholfen werden, dass er sich gegen eine zur herrschenden Klasse stilisierte Kulturelite zur Wehr setzt. Münch entwirft von ihr ein Bild, das gespickt ist mit Versatzstücken eines soziologisch nicht hinterfragten common sense. Diese Stoßrichtung ist tückisch und spielt mit dem politischen Feuer.

Das Problem des gesellschaftlichen Zusammenhalts

Dass mittelständische Unternehmen für Wirtschaft und Beschäftigung, für das soziale und institutionelle Gefüge in Deutschland von großer Bedeutung sind, besonders im internationalen Vergleich, steht außer Frage (S. 346–348). Sie in den Blick zu nehmen, zumal die Unternehmen des „gewerblichen Mittelstands“, wenn es um Zusammenhalt und Spaltungen der Gesellschaft geht, erscheint deshalb sinnvoll.

Aber gerade bei diesem zentralen Anliegen, die Bedeutung des gewerblichen Mittelstands für den gesellschaftlichen Zusammenhalt hervorzuheben, bleibt Münchs Argumentation blass. Sie geht über die Wiederholung einiger weniger, allgemeiner Aussagen nicht hinaus. Der gewerbliche Mittelstand in Deutschland sei gleichermaßen lokal verwurzelt wie wirtschaftlich global aktiv, verbinde Menschen mit ihren lokalen Traditionen mit den Weltsichten der Menschen in anderen Ländern und Erdteilen. Das ist zweifellos der Fall. Zu Recht weist Münch die Unterstellung zurück, die Menschen im Einzugsbereich solcher Unternehmen seien, weil sie oft in Kleinstädten oder auf dem Land arbeiten und leben, kulturell zurückgeblieben (S. 55–59). Aber wie lässt sich das von Münch so in den Mittelpunkt gestellte, den Zusammenhalt fördernde Potenzial im Kontext der Veränderungen in den nationalen, europäischen und globalen Klassen- und Machtverhältnissen realisieren? Hier finden sich bei ihm nur zwei richtungsweisende Stichworte: die „internationale Arbeitsteilung“ (S. 47) und der „freie Welthandel“ (S. 51). Die Brücke zum gesellschaftlichen Zusammenhalt, und zwar sowohl national wie global, schlägt dabei Münch zufolge die durch die internationale Arbeitsteilung gestiftete „organische Solidarität“, wie Durkheim sie analysiert habe (S. 47–48).

Das Problem bei der Bezugnahme auf Durkheim besteht allerdings darin, dass dieser organische Solidarität keineswegs allein schon durch Arbeitsteilung gewährleistet sah, und schon gar nicht im internationalen Maßstab. Münch weiß selbstverständlich um die Ursachen und Formen der „anomistischen“, „erzwungenen“ und bezüglich des funktionalen Arbeitszuschnitts „anormalen“ Arbeitsteilung, wie Durkheim sie abhandelt, die allesamt organische Solidarität untergraben, und um die Regelungsbedarfe, die daraus für ihn erwachsen (Durkheim, 1977, S. 395–419). Durkheims kritischer Blick ließe sich unschwer für eine Analyse der globalen Arbeitsteilung in der Gegenwart fruchtbar machen. Aber darum geht es Münch gerade nicht. Seine Begriffe von internationaler Arbeitsteilung und freiem Welthandel scheinen idealtypisch gemeint zu sein, auch wenn er dies nicht ausdrücklich kenntlich macht. Sie sind bar jeder immanenter Machtverhältnisse. Diese kommen jedoch in der Realität unweigerlich zum Vorschein: an den Finanzmärkten (die von Münch zum gewerblichen Mittelstand gerechneten Unternehmen schließen große Aktiengesellschaften ein), im Machtstreben der USA und Chinas (S. 53–54), aber auch in dem durch die „Oligopolstruktur“ in den Lieferketten auf die (mittelständischen) Zulieferer ausgeübten, zunehmendem Wettbewerbsdruck (S. 51). Die internationale Arbeitsteilung war schon immer politisch geformt und umkämpft (China bediente sich bei seinem ökonomischen Aufstieg der gleichen Mittel zum Schutz seiner Märkte wie Europa im 19. Jahrhundert, siehe Chang, 2003), und „freier Welthandel“ führt unweigerlich zu Oligopolstrukturen. Münch zeigt nicht, wie der gewerbliche Mittelstand die ihm zugedachte Aufgabe, national wie global den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu befördern, unter diesen Bedingungen erfüllen kann.

Noch weniger als zu organischer Solidarität führt internationale Arbeitsteilung allerdings per se zur Demokratie in den darin eingebundenen Ländern. Dies ist offensichtlich. Auch organische Solidarität ist nicht mit Demokratie, gar einer spezifischen Form von ihr, gleichzusetzen. Für die Schaffung, Ausgestaltung und Qualität von sozialem Zusammenhalt aber ist Demokratie wiederum von eminenter Bedeutung. Münch weckt Erwartungen, wenn er bereits mit der ersten von ihm angeführten Spaltungslinie, „Kosmopolitismus versus Kommunitarismus: Der Kampf um den richtigen Ort der Demokratie“ (S. 28), letztere zum Thema macht. Er behandelt es zunächst ausführlich in einer Auseinandersetzung mit Streeck, der darauf insistiert, dass Demokratie auf einen Wohlfahrtsstaat angewiesen ist und dieser eines nationalstaatlichen Rahmens bedarf. Münch hingegen hält die „Wiederbelebung des nationalen Wohlfahrtsstaats“ (S. 41) für nicht möglich, ebenso wenig einen „ausgebauten EU-Wohlfahrtsstaat“ (S. 52–53.), allenfalls im globalen Maßstab „die Sicherung eines minimalen Lebensstandards. Das ist organische Solidarität“ (S. 49). Was aber heißt das für Demokratie? Darauf gibt Münch keine Antwort. Die Verschiebung von der Demokratie zur organischen Solidarität ist somit die dritte Verschiebung in Münchs Buch, die bei der Suche nach Wegen aus der polarisierten Gesellschaft der Gegenwart in eine Sackgasse führt.

Am Ende kommt der Autor zu einer einigermaßen überraschenden, ihn selbst offenbar zufriedenstellenden „Lösung“ des Antagonismus zwischen gebildetem Bürgertum (Kulturelite) und gewerblichem Mittelstand (einschließlich der Arbeiterschaft), der ihn umtreibt. Er schlägt vor, „dass der Konflikt institutionalisiert und offen auf Augenhöhe ausgetragen wird, um immer wieder neu Kompromisse zwischen beiden aus der jeweiligen Klassenposition heraus legitimen Weltsichten und Lebensführungsidealen zu bilden.“ (S. 380) Lässt sich ein Klassenantagonismus auf diese Weise, gleichsam am runden Tisch, überwinden?

Literatur

Chang, H. (2003). Kicking Away the Ladder. Development Strategy in Historical Perspective. Anthem Press.10.1080/1360081032000047168Search in Google Scholar

Deutschmann, Ch. (2002). Postindustrielle Industriesoziologie. Theoretische Grundlagen, Arbeitsverhältnisse und soziale Identitäten. Juventa.10.1007/s11577-003-0068-7Search in Google Scholar

Durkheim, E. (1977). Über die Teilung der sozialen Arbeit. Eingeleitet von Niklas Luhmann. Suhrkamp.Search in Google Scholar

Tullius, K. & Wolf, H. (2016). Moderne Arbeitsmoral: Gerechtigkeits- und Rationalitätsansprüche von Erwerbstätigen heute. WSI Mitteilungen, 7, 493–502.10.5771/0342-300X-2016-7-493Search in Google Scholar

Online erschienen: 2024-08-29
Erschienen im Druck: 2024-08-28

© 2024 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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  1. Frontmatter
  2. Frontmatter
  3. Editorial
  4. Symposium
  5. Sahra Wagenknecht gefällt das
  6. Kampf um gesellschaftlichen Zusammenhalt: Münchs Verschiebung der Fronten
  7. „Viel Lärm um nichts“
  8. Essay
  9. Wie unbestimmbar ist Lebensqualität?
  10. Bildungsungleichheit wie in kaum einem anderen Land? Hartmut Essers Frontalangriff auf die Standardposition und das Integrationsmodell in der Bildungsforschung
  11. Themenessay
  12. Soziologische Forschung für nachhaltige Entwicklung
  13. Sammelbesprechung
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  16. Doppelbesprechung
  17. Zur praktischen Relevanz der Gabentheorie. Analyse des Zusammenwirkens in Organisationen und in der Digitalwirtschaft aus der Perspektive der Gabe
  18. Methodologie der Intersektionalität
  19. Einzelbesprechung Angewandte Soziologie
  20. Christian von Ferber (hrsg. von Alexander Brandenburg), Menschenbild und Gesellschaft. Studien zur Philosophischen Anthropologie, Soziologie und Medizinsoziologie. Baden-Baden: Verlag Karl Alber 2022, 412 S., kt., 89,00 €
  21. Einzelbesprechung Bildungssoziologie
  22. Achim Brosziewski, Lebenslauf, Medien, Lernen: Skizzen einer systemtheoretischen Bildungssoziologie. Weinheim Basel: Beltz Juventa 2023, 243 S., kt., 28,00 €
  23. Einzelbesprechung Digitalisierung
  24. Andreas Wagener / Carsten Stark (Hrsg.), Die Digitalisierung des Politischen: Theoretische und praktische Herausforderungen für die Demokratie. Wiesbaden: Springer VS 2023, 338 S., kt., 64,99 €
  25. Einzelbesprechung Grenzsoziologie
  26. Ulla Connor, Territoriale Grenzen als Praxis. Zur Erfindung der Grenzregion in grenzüberschreitender Kartografie. Baden-Baden: Nomos 2023, 347 S., br., 79,00 €
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  28. Frerk Blome, Universitätskarrieren und soziale Klasse: Soziale Aufstiegs- und Reproduktionsmechanismen in der Rechts- und Erziehungswissenschaft. Weinheim/Basel: Beltz Juventa 2023, 546 S., br., 78,00 €
  29. Einzelbesprechung Kultur und soziale Praxis
  30. Barbara Sieferle, Nach dem Gefängnis. Alltag und unsichtbare Bestrafungen. Bielefeld: transcript Verlag 2023, 234 S., kt., 45,00 €
  31. Einzelbesprechung Organisationssoziologie
  32. Tobias Röhl, Verteilte Zurechenbarkeit: Die Bearbeitung von Störungen im Öffentlichen Verkehr. Frankfurt/New York: Campus 2022, 256 S., br., 39,00 €
  33. Einzelbesprechung Professionssoziologie
  34. Barbara Fillenberg, Akademisierung des Hebammenwesens: Eine empirische Studie am Beispiel Bayerns. Opladen / Berlin / Toronto: Barbara Budrich 2023, 300 S., kt., 68,00 €
  35. Korrigendum
  36. Korrigendum zu: Talcott Parsons, Zur Theorie der sozialen Interaktionsmedien, herausgegeben von Helmut Staubacher und Paul Reichacher. Wiesbaden: Springer 2023, S. 193, kt., 29,99 €
  37. Rezensentinnen und Rezensenten des 3. Heftes 2024
  38. Eingegangene Bücher (Ausführliche Besprechung vorbehalten)
Downloaded on 5.12.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/srsr-2024-2027/html
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