Rezensierte Publikation:
Richard Münch, Polarisierte Gesellschaft: Die postmodernen Kämpfe um Identität und Teilhabe. Frankfurt/New York: campus 2023, 449 S., br., 49,00 €
In medialen Diskursen wird derzeit intensiv über das Auseinanderbrechen des gesellschaftlichen Zusammenhalts debattiert sowie dafür verantwortliche Akteure identifiziert. Während Linke die menschenverachtende Rhetorik und Politik der radikalen Rechten für Polarisierungstendenzen verantwortlich machen, unterstellen Rechte urbanen Kultureliten die Durchsetzung von Sprechverboten und abgehobenen Umerziehungsphantasien. Sozialwissenschaftliche Analysen verfolgen den Anspruch über monokausale Schuldzuweisungen hinauszugehen und vermeintliche Selbstverständlichkeiten dieser Debatte zu hinterfragen, indem konzeptionell unterschiedliche Formen von Polarisierungsphänomenen unterschieden und/oder deren Intensitäten empirisch vermessen werden. Besonders hervorzuheben ist die jüngst erschienene Studie von Mau et al. (2023), die mit quantitativen und qualitativen Analysen das Ausmaß politischer Einstellungspolarisierung in Deutschland evaluiert und ein komplexeres Verständnis des Zusammenspiels und Koexistierens von Dissens und Konsens ermöglicht. Das Buch von Richard Münch erreicht das Niveau dieses soziologischen Bestsellers leider nicht, ähnelt in seinem Differenzierungsgrad und Duktus eher altbekannten medialen Debatten und liest sich als ein lang geratenes Meinungsstück von Ulf Poschardt: Linke Kultureliten oktroyieren dem Rest der Bevölkerung ihren Lebensstil auf, stricken eifrig an neuen Sprechverboten und interessieren sich bei der Durchsetzung ihrer queeren Öko-Agenda kaum für die Nöte der einfachen Leute. Diesem Antagonisten wird der unternehmerische Mittelstand als Retter des gesunden Menschenverstandes gegenübergestellt. Durchzogen wird das Buch dabei von falschen Antagonismen: Transnationale Vernetzung oder funktionierende Wohlfahrtsstaaten; Migration oder nationaler Wohlstand; Klimapolitik oder Freiheit. Sahra Wagenknecht gefällt das mit Sicherheit sehr gut. Dem Autor dieser Rezension eher nicht.
Sechs Spaltungslinien der postindustriellen Gesellschaft
Richard Münch identifiziert sechs Spaltungslinien, die die deutsche Gesellschaft derzeit durchdringen: 1) Kosmopolitismus vs. Kommunitarismus 2) Idealismus vs. Materialismus 3) Rechts vs. Links 4) Ökonomie vs. Ökologie 5) Etablierte vs. Außenseiter 6) Herrschende vs. beherrschte Klassen und Gruppen (S. 27). Im Kapitel zur ersten Spaltungslinie (Kosmopolismus vs. Kommunitarismus) rekapituliert der Autor unterschiedliche Denktraditionen, wobei auf der einen Seite Befürworter:innen transnationaler Entscheidungsstrukturen und auf der anderen Seite Befürworter:innen nationalstaatlich verankerter Formen des Regierens stehen. Es bleibt allerdings unklar, inwiefern es sich um eine gesellschaftliche Spaltungslinie handeln soll, da hier lediglich ein wissenschaftlicher Diskurs wiedergegeben wird, der als Vorrede zur dritten Spaltungslinie (Rechts vs. Links) interpretiert werden kann, da hier tatsächlich der Antagonismus zwischen Gegner:innen und Befürworter:innen von Globalisierungsprozessen auf Bevölkerungsebene thematisiert wird. Der Autor geht hier davon aus, dass unterschiedliche Globalisierungseinstellungen zu einer Aufspaltung des linken und des rechten Lagers führen. So gibt es eine „postbürgerliche Rechte“, die als Vertreterinnen der internationalen Finanzkapitals versuchen Globalisierungsprozesse voranzutreiben (S. 86–87) sowie eine “altbürgerliche Rechte“, die idealtypisch durch den lokal verankerten unternehmerischen Mittelstand repräsentiert wird (S. 97). Im linken Lager finden sich seit einiger Zeit neben der Altlinken, die an Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft festhält und den Nationalstaat als zentralen Produzenten von Wohlfahrt ansieht, auch eine „postmoderne Linke“, die ihre Ziele gegen lokale Widerstände auf globaler Ebene durchzusetzen möchte und dabei eine Klientelpolitik für privilegierte soziale Lagen betreibt (S. 89, S. 100). Diese Unterscheidung zwischen den alten und den neuen Linken bleibt allerdings sehr diffus. Auf der Seite der postmodernen Linken werden zahlreiche Akteure verortet, die sich für transnationale Entscheidungsstrukturen starkmachen, wozu LGBTQ-Bewegungen, Antirassismusbewegungen oder Fridays for Future gezählt werden (S. 87). In der Tat agieren diese Bewegungen oftmals international, es ist aber sehr fraglich ob sich daraus automatisch die Absicht ableiten lässt, nationale Wohlfahrtsstrukturen zerschlagen zu wollen. Münch scheint davon auszugehen, dass jede Form von Internationalismus notgedrungen die Interessen der Arbeiterklasse verraten muss. Dies kann mit Sicherheit der Fall sein, scheint aber nicht das dominante Muster linker Bewegungen und Institutionen zu sein. Zum einen hat sich bereits die historische Arbeiterbewegung dezidiert als eine transnationale Bewegung verstanden (siehe etwa Lipset, 1959, S. 483), zum anderen gibt es zahlreiche internationale Organisationen, die sich für Ökologie/kulturelle Gleichheiten und für Umverteilung einsetzen und aktuellen Ausprägungen von Globalisierungsprozessen sehr kritisch gegenüberstehen (Biskamp, 2020, S. 72). Während der postmodernen Linken also schlicht alle Akteure zugerechnet werden, die sich in irgendeiner Form international organisieren und dabei unter anderem auch kulturelle und ökologische Fragen adressieren, werden all jene, die sich kritisch gegenüber „Wokeness“ geäußert haben, den edlen, für die Interessen der einfachen Leute kämpfenden Altlinken zugerechnet (S. 104). Dies umfasst neben Sahra Wagenknecht, deren Schriften ausführlich zitiert werden auch Personen wie Wolfang Thierse oder Thilo Sarrazin (!), die beide als (ehemalige) SPD-Parteisoldaten die Agenda 2010 mitgetragen oder bejubelt haben und sich dadurch nur sehr schwer als Kämpfer für die vergessene Arbeiterklasse oder als Sozis alten Schlags einordnen lassen.
In seinem Kapitel über die Spaltungslinie zwischen Idealismus und Materialismus kommt es vor allem zu einer kritischen Auseinandersetzung mit Andreas Reckwitz‘ Theorie einer Spaltung zwischen einer progressiven und einer konservativen Mittelklasse. Neben der Kritik, dass Reckwitz zwei Extrempole imaginiert, die sich in der Realität kaum in dieser Entschiedenheit identifizieren lassen (S. 61–64), findet auch eine intensive Diskussion des Verhältnisses zwischen Kultur und Klasseninteressen statt. Für Richard Münch handelt es sich bei dem Konflikt zwischen neuer und alter Mittelklasse letzten Endes um das Aufeinanderprallen unterschiedlicher Klasseninteressen, die durch verschiedene Klassenkulturen lediglich symbolisch repräsentiert werden (S. 77–78). Die neue Mitteklasse beschreibt Berufsgruppen mit einem eher kulturellen Kapitalportfolio. Sie stellen vor allem immaterielle Produkte her und sind auf eine Nachfrage nach diesen angewiesen, während die alte Mittelklasse vor allem Berufsgruppen mit einem eher ökonomischen Kapitalportfolie umfasst, die auf dem freien Markt der Konkurrenz um ökonomische Profite ausgesetzt sind. Der Autor versucht damit Reckwitz vom Kopf auf die Füße zu stellen und implizite Konnotationen einer fortschrittlichen neuen und einer rückständigen alten Mittelklasse durch den Verweis auf deren jeweilige Klassenlagen zu entkräften. Es bleibt zwar fraglich, inwiefern diese Reckwitz-Kritik tatsächlich berechtigt ist, da auch Andreas Reckwitz selbst immer wieder darauf aufmerksam macht, dass es sich bei der neuen Mitteklasse nicht um edle Globalisten handelt, sondern um Personen, die es schaffen ihr kulturelles Kapital – ihre Fähigkeiten und avantgardistische Lebensführung – zum zentralen gesellschaftlichen Leitmotiv und Produktionsfaktor zu machen. Aus diesem Grund spricht Reckwitz auch von „erfolgreicher Selbstentfaltung“, da die neue Mittelklasse ihre kulturellen Innovationen mit dem Streben nach materiellem Erfolg problemlos verbinden kann (Reckwitz, 2019, S. 92). Es scheint also in Wahrheit keinen fundamentalen Widerspruch zwischen Münch und Reckwitz zu geben. Ersterer betont stärker die Wichtigkeit der Zusammensetzung von Kapitalportfolios, da diese für die Entstehung politischer Spaltungslinien entscheidend seien. An dieser Stelle wäre eine stärkere Auseinandersetzung mit Bourdieus (2004) Konzept des Feldes der Macht, welches ebensolche Elitenkämpfe um die Durchsetzung der gesellschaftlich relevanten Kapitalsorte beschreibt, ratsam gewesen (Bourdieu, 2004, S. 337). Die vierte Spaltungslinie (Ökonomie vs. Ökologie) beschreibt keinen Antagonismus auf Bevölkerungsebene, sondern eher ein volkswirtschaftliches Dilemma, welches darin besteht, dass das Streben nach globaler Nachhaltigkeit im Widerspruch zur nationalstaatlich organisierten Wohlfahrtsproduktion steht (S. 110). Die fünfte Spaltungslinie thematisiert identitätspolitische Konflikte, die dadurch entstehen, dass unterschiedliche kulturelle Gruppen (insbesondere Minderheiten) die Würdigung ihrer Kollektive statt individueller Freiheitsrechte einfordern, was unweigerlich zu unversöhnlichen Stammeskämpfen führt (S. 154–161). Dieser Abschnitt überzeugt nur bedingt. Auf der einen Seite werden altbekannte Debatten über die Abgründe der Identitätspolitik, die seit einigen Jahren diverse Feuilletons füllen, nochmal aufgewärmt. Auf der anderen Seite macht Richard Münch auch einen fundamentalen Denkfehler: Er geht davon aus, dass es kulturellen Minderheiten vor allem darum geht, ihre Gruppenkultur zu zelebrieren und nicht individuelle Chancengleichheit einzufordern. Während der Autor in den vorherigen Kapiteln noch entschieden dafür argumentiert, kulturelle Auseinandersetzungen stets vor dem Hintergrund ökonomischer Ungleichheiten zu interpretieren, verabsäumt er es in diesem Fall die ökonomische Dimension kultureller Benachteiligungen in den Blick zu nehmen. Dadurch übersieht er, dass identitätspolitische Kämpfe nicht als geltungssüchtiges Wetteifern um Anerkennung beschrieben werden können, sondern mit der Politisierung ökonomischer Exklusionen zusammenhängen (van Dyk & Graefe 2019, S. 414). Die sechste Spaltungslinie stellt keine eigenständige Konfliktdimension dar, sondern eine Zusammenführung von Spaltungslinie 2 und Spaltungslinie 3. Während Auseinandersetzungen zu Globalisierungsprozessen vor allem mit dem Kapitalvolumen zusammenhängen und transnationale Entscheidungsprozesse vor allem in privilegierten sozialen Lagen präferiert werden, gibt es darüber hinaus auch eine horizontale Differenzierung zwischen idealistischen und materialistischen Milieus, die vor allem von der Zusammensetzung des Kapitalportfolios abhängt (siehe Diskussion von Spaltungslinie 2). Es gibt demnach idealistische Globalisierungsbefürworter (kreative Intelligenz) und materialistische Globalisierungsbefürworter (Wirtschaftselite), genauso wie es idealistische Globalisierungsgegner (akademisches Prekariat) und materialistische Globalisierungsgegner (Hilfsarbeiter) gibt (S. 202). In Abschnitt 2.8 fasst der Autor die zentralen Erkenntnisse der Diskussion seiner sechs Spaltungslinien zusammen und formuliert dabei seine zweifellos stärkste These: Während eine gesellschaftliche Befriedung in den Nachkriegsjahrzehnten vor dem Hintergrund steigender Wohlstandsniveaus möglich war, wird dies durch steigende soziale Ungleichheiten immer unwahrscheinlicher. Bündnisse zwischen unterschiedlichen Klassen oder Milieus lassen sich immer schwerer aufrechterhalten, da sich die Interessenskonflikte zwischen ihnen vergrößern und sie um ein größeres Stück eines kleiner werdenden Kuchens kämpfen. Diese materiellen Konflikte würden allerdings in Form affektiv aufgeladener Kulturkonflikte, die ihre materielle Grundlage verschleiern, ausgetragen, was Kompromisse zusätzlich erschwert (S. 209). Die implizite Negation der Eigengesetzlichkeit von Kultur, die niemals mehr sein kann als ein Epiphänomen materieller Lebensbedingungen, ist mit Sicherheit problematisch, die These des Autors ist dennoch interessant und hätte eine intensivere Diskussion verdient. Die davorliegenden Abschnitte (ca. 200 Seiten) tangieren diesen Gedanken allerdings kaum und stellen auch sonst kein wirklich systematisches konzeptionelles Fundament für das Verständnis von Polarisierungsphänomenen dar. Problematisch ist vor allem die Tatsache, dass der Begriff der Polarisierung, der immerhin im Zentrum des vorliegenden Buches steht, an keiner Stelle definiert wird. Es bleibt unklar, ob damit bestimmte Zustände, Zustandsveränderungen, Einstellungsdifferenzen, (sich verändernde) Beziehungen zwischen Gruppen oder gesellschaftliche Elitendiskurse gemeint sind. Ebenso unklar bleibt, welche Konsequenzen die Kreuzungen unterschiedlicher Spaltungslinien für eine Betrachtung des Phänomens haben können. Es lässt sich nämlich durchaus argumentieren, dass die Ausführungen des Autors keine absolute Polarisierung in Form eines Antagonismus zwischen zwei sich vollkommen unversöhnlich gegenüberstehenden Lagern nahelegen, wo auf der einen Seite linke Globalisten und auf der anderen Seite rechte Lokalisten stehen. Stattdessen können Globalisierungspositionen und andere ideologische Positionierungen sehr unterschiedlich miteinander kombiniert werden. Daraus ergeben sich auch unterschiedliche Koalitionsmöglichkeiten zwischen den jeweiligen politischen Milieus, je nachdem, welche Spaltungslinie salient ist. Das vorliegende Buch hätte von solchen und weiteren konzeptionellen Reflexionen über den Polarisierungsbegriff profitieren können.
Welt-Abo statt soziologischer Analyse
Im dritten Abschnitt widmet sich der Autor dem Phänomen des Populismus und versucht unterschiedliche Motive für populistische Affekte anhand von Leser:innenkommentare unterschiedlicher Zeitungsartikel zu untersuchen. Es bleibt aber unklar, welche Populismus-Definition seinen Analysen zugrunde liegen und welche Kriterien erfüllt sein müssen, um einen Kommentar überhaupt als populistisch einstufen zu können. Er identifiziert auf jeden Fall unterschiedliche Beweggründe, die Teile der Bevölkerung für populistische Versuchungen empfänglich machen wie abgehobene Umerziehungsphantasien kultureller Eliten (S. 223–224), eine erhöhte Abgabenlast aufgrund unkontrollierter Migrationsströme (S. 238–241) oder eine von oben diktierte Klimapolitik, die (unternehmerische) Freiheiten einschränke (S. 247). Im Anschluss an diese und andere Populismusmotive zeigt Münch Verständnis für den artikulierten Unmut und adelt manche Ressentiments durch seine eigenen Analysen zu unleugbaren Fakten. Forscher und Forschungsobjekt gehen ineinander über. Der Autor rehabilitiert Ressentiments, die er in Online-Foren gefunden hat und diese bestätigen umgekehrt auch den Autor darin, dass er mit seinen Analysen tatsächlichen Problemlagen und den Sorgen der einfachen Leute auf der Spur ist. So wird beispielsweise immer wieder darauf verwiesen, dass es eine „Migration in die Sozialsysteme“ gäbe, die für die Autochthonen eine ökonomische Last bedeute und letzten Endes zu höheren Steuern führen würden (S. 235). Münchs Diagnosen schließen nahtlos an jene Sahra Wagenknechts an, die davon ausgeht, dass man sich zwischen nationalem Wohlstand oder Migration entscheiden müsse. Entweder man ist ein unverbesserlicher, moralinsauer Gutmensch, der ökonomische Belastungen großer Teile der Bevölkerung in Kauf nimmt oder man ist pragmatischer Realist und erkennt endlich, dass nur eine Abschottungspolitik dazu in der Lage ist alte Wohlstandsniveaus wiederherzustellen. Untermauert werden diese problematischen politischen Prämissen im vorliegenden Buch durch diverse Kommentatoren der Tageszeitung „Welt“, die dem Autor als Beweis der Legitimität und Bürgerlichkeit diverser Ressentiments auszureichen scheinen. Die Probleme unqualifizierter Zuwanderung erkennen nämlich auch „hoch respektierte Journalisten wie WeltHerauseber Stefan Aust“ oder die Welt-Chefökonomin Dorothea Siems, die sogar promovierte Volkswirtin sei und in dieser Frage wohl kaum irren kann (S. 242). Selbst wenn man sich darauf einlässt Migrationspolitik ausschließlich einer Kosten-Nutzen-Kalkulation zu unterwerfen, gibt es keinerlei Hinweise für die Richtigkeit dieser Annahmen, da Migrant:innen für westeuropäische Wohlfahrtsstaaten im Durchschnitt keine Belastung, sondern eine ökonomische Bereicherung darstellen (siehe etwa Fratzscher, 2024). Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung zu diesen Fragen sucht man allerdings vergeblich, da das vorliegende Buch eher die Nacherzählung eines Jahresabonnements der Welt darstellt, als eine soziologische Analyse im engeren Sinne. Natürlich dürfen auch Ulf Poschardt und Anna Schneider nicht fehlen, deren Kolumnen sich vor allem damit beschäftigen, inwiefern die Linke versucht durch ihre Konzepte persönliche Freiheiten einzuschränken und die Allgemeinheit nach ihren Vorstellungen umzuerziehen (S. 289–290). Dass es auch einen problematischen Rechtsextremismus gibt, wird zwar nicht geleugnet, doch auch hier wird die Linke als eigentliche Übeltäterin identifiziert. Der Autor mahnt dazu, Personen mit vermeintlich intoleranten Ansichten nicht vorschnell und allzu stark anzufeinden, da diese diskursive Bekämpfung überhaupt erst dazu führen würde, dass bestimmte Personen als Reaktion darauf wirklich intolerante Positionen ausbilden würden (S. 223). Ein bisschen mehr Toleranz gegenüber den Intoleranten könne also zu mehr Toleranz führen und Polarisierungstendenzen einhegen. Alle mögen sich doch bitte in die normale und wohltemperierte Mitte bewegen, um den verloren gegangenen gesellschaftlichen Zusammenhalt wiederherzustellen.
Das Märchen vom guten Kapitalisten
Im vierten Kapitel setzt sich der Autor mit sozialstrukturellen Transformationen, die durch die Bildungsexpansion losgetreten wurden, auseinander. Der Bezug zum eigentlichen Thema des Buches ist nicht wirklich erkennbar, weshalb auf eine Diskussion dieses Abschnitts verzichtet werden kann. Im fünften und letzten Kapitel des Buches fasst der Autor die wichtigsten Erkenntnisse seines Buches noch einmal zusammen und entwirft auch mögliche Auswege aus der Polarisierungsspirale. Zentrale Bedeutung kommt dabei dem unternehmerischen Mittelstand, insbesondere global agierende Familienunternehmen, zu. Diese können die Spaltung zwischen Kommunitarismus und Kosmopolitismus überwinden, da sie beide Perspektiven in sich vereinen. Sie vernetzen sich international und bewegen sich erfolgreich auf transnationaler Ebene, sind aber gleichzeitig lokal verankert und in ihren Gemeinden mit den einfachen Leuten verbunden (S. 343). Der Autor inkludiert hier dezidiert nicht nur kleine Unternehmen, sondern auch solche mit über 1000 Beschäftigten und jährlichen Milliardengewinnen in seine Definition des unternehmerischen Mittelstandes (S. 59), zentral sei, dass es sich um Unternehmen mit „starker lokaler Verwurzelung“ handele (S. 345). Das gefällt den betroffenen Milliardären sicherlich sehr gut, erzählt Richard Münch uns hier doch das Märchen vom guten Kapitalisten, der zwar große Gewinne einfährt, aber trotzdem ein gütiger Patron geblieben ist und sich um seine Schäfchen kümmert und auch mal eine Parkbank spendiert oder einen Fußballverein unterstützt. Immerhin steckt in der Bezeichnung „Familienunternehmen“ auch das Wort Familie, weshalb man den tüchtigen Milliardären unterstellen kann, dass sie auch ihre Belegschaft und ihre Gemeinde als Familie verstehen und dementsprechend gütig mit ihnen umgehen. Münch arbeitet auch minutiös deutsche Unternehmen heraus, die eine sehr lange Geschichte aufweisen (S. 346), so als ob Unternehmen, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreichen, überhaupt nichts mit diesem bösen Kapitalismus zu tun haben können. Unfreiwillig komisch sind die Beispiele für konkrete Vorbilder dieses Unternehmertyps, die der Autor ins Treffen führt. So erwähnt er ausgerechnet die Milliardärsfamilie Stoschek aus Coburg, welche vor allem dafür bekannt ist unerlaubt Werbung am Begrüßungsschild der Stadt montiert oder Druck auf die Stadtverwaltung ausgeübt zu haben, um eine Straße nach dem Opa umzubenennen, der sich vor allem als glühender Nationalsozialist hervorgetan hat (Auer & Pryzilla, 2015). Bei der positiv hervorgehobenen finanziellen Unterstützung des lokalen Basketballvereins handelt es sich um keine milden Gaben, sondern um das Sponsoring eines Proficlubs (S. 348). Falls dies eine Form von gemeinschaftserzeugender Wohltat darstellt, kann auch das Sponsoring eines deutschen Fußballclubs durch den Bayer-Konzern als lokales Gemeindeengagement verbucht werden.
Selbst wenn man von den schlecht gewählten Beispielen absieht und Milliardäre aus der Definition des tüchtigen, unternehmerischen Mittelstandes ausschließt, scheint sich diese Gruppe wohl kaum als mögliche Brücke zwischen Kosmopolitismus und Kommunitarismus anzubieten, da die Einstellungs- und Wahlforschung zeigt, dass sie rechte ökonomische und kulturelle Einstellungen aufweist und besonders anfällig für rechtspopulistische Versuchungen ist (Ivarsflaten, 2005; Damhuis, 2020, S. 107). Die Idee aus dem großen oder kleinen Unternehmertum eine Erlöserfigur zu basteln, überzeugt vor diesem Hintergrund nicht. In dieser Idealisierung zeigt sich stattdessen das grundlegende Problem des vorliegenden Buches: Gesellschaftskritik erfolgt stets aus der Perspektive des Kapitals. Kritisiert wird vor allem die Schröpfung des produktiven Mittelstandes (mit und ohne Milliardäre), der letzten Endes die Zeche für die Moralprojekte der unproduktiven, urbanen Kulturelite zu zahlen hat. Mehr noch: Der produktive Mittelstand wird von der abgehobenen Kulturelite beherrscht (S. 357–358). Auch wenn eine Kritik an kulturellen Eliten durchaus legitim ist, kommt es hier zu einer fatalen Verwechslung der tatsächlichen Machtverhältnisse. Das Kapital wird aus dem Elfenbeinturm heraus regiert und muss sich nun emanzipieren und wieder zur gesellschaftlich dominierenden Klasse werden, um der anhaltenden Polarisierung und auch dem Aufstieg des Rechtspopulismus Einhalt gebieten zu können. Diese Fehlinterpretation aktueller Machtverhältnisse kommt all jenen gelegen, die mit Kulturkämpfen gegen eine kulturell progressive Linke auf Stimmenfang gehen (Friedrich Merz, Sahra Wagenknecht usw.), bleibt aber unter dem Potenzial einer kritischen Analyse politischer Konflikte der Gegenwartsgesellschaft.
Literatur
Auer, K. & Przybilla, O. (2015, 11. September). Der Herrscher. Süddeutsche Zeitung. https://www.sueddeutsche.de/bayern/brose-und-oberfranken-der-herrscher-1.2643509.Search in Google Scholar
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