Reviewed Publication:
Charap Samuel Priebe Miranda Avoiding a Long War. U.S. Policy and the Trajectory of the Russia-Ukraine Conflict Santa Monica, Cal. The RAND Corporation Januar 2023
Während sich in Europa und besonders in Deutschland die Diskussionen zum Ukraine-Krieg auf das Für und Wider von Waffenlieferungen und auf grundsätzliche politische Fragen konzentrieren, untersucht die vorliegende Studie, wie ein langer Krieg vermieden und wie dieser Krieg beendet werden kann. Damit greift sie eine inzwischen vielfältige Debatte zwischen politischen Entscheidungsträgern und Wissenschaftlern aus amerikanischen Denkfabriken auf. Je länger der Krieg andauert, so die Verfasser, umso größer sei das Risiko einer Eskalation.
Die Autoren gehen nicht von einem Kriegsende zugunsten der Ukraine in 2023 aus, sondern erwarten, dass sich der Krieg länger hinzieht. Sie beschränken ihre Überlegungen auf die Interessen der USA, die sich nicht immer mit denen der Ukraine decken müssen. Sie wollen die Aspekte hervorheben, die sich im weiteren Kriegsverlauf signifikant auf US-Interessen auswirken könnten. Statt Szenarien darzustellen, betrachten sie fünf Schlüsseldimensionen, die unterschiedliche Kriegsverläufe bestimmen können. Dazu gehören (1) der mögliche russische Einsatz von Nuklearwaffen, (2) die Eskalation zu einem Krieg zwischen Russland und NATO, (3) die Frage, wer welche Landesteile der Ukraine kontrolliert, (4) die Dauer der Auseinandersetzung sowie (5) die Formen der Kriegsbeendigung. Die Verfasser beschreiben jede dieser Dimensionen und bewerten, wie sie im Verlauf des Kriegs variieren und einander beeinflussen könnten.
Die Gefahr eines möglichen Einsatzes russischer Nuklearwaffen im Krieg dürfe man nicht ausschließen. Dieser Krieg habe für Russlands politische Führung einen existenziellen Charakter, weshalb Putin durchaus auf Kernwaffen zurückgreifen könnte. Die USA hätten Russland zwar mehrfach öffentlich wie im direkten Kontakt signalisiert, dass dieser Schritt unvorhersehbare und massive Konsequenzen für Russland haben würde, aber wie lange sich Moskau davon einschüchtern ließe, sei ungewiss. Auch hier gelte: Je länger der Krieg währt, desto größer die Gefahr, dass sich die russische Führung doch auf den Einsatz von Kernwaffen besinnt. Dieser sei aus amerikanischer Sicht unbedingt zu vermeiden. Andere Staaten könnten das ansonsten als Einladung verstehen, künftig ebenfalls eigene Nuklearwaffen einzusetzen. Und auch der Zusammenhalt des westlichen Bündnisses dürfte dann sehr stark gefährdet sein.
Um einen Krieg zwischen NATO und Russland zu vermeiden, gelte laut den Verfassern schon seit Oktober 2021 die Empfehlung des Pentagon an die US-Regierung, den Krieg unbedingt innerhalb der Landesgrenzen der Ukraine zu halten. Das wurde bis dato zwar erreicht, doch sei eine (un)beabsichtigte, eher grenznahe Bekämpfung von Bündnisstaaten nicht auszuschließen, vor allem, weil die NATO-Staaten in sehr hohem Maß der Ukraine Waffen geliefert hätten. Zwar habe Russland überhaupt kein Interesse daran, in einen Krieg mit der westlichen Allianz einzutreten. Aber Zwischenfälle könnten eine gewisse Dynamik entfachen und diese Gefahr wachse, je länger der Krieg andauere.
Die Frage der Kontrolle des ukrainischen Territoriums sei wichtig für das Ende des Kriegs. Im Dezember 2022 hatte Russland nahezu 20 Prozent der Ukraine militärisch besetzt. Das bis heute stets wiederholte Kriegsziel der Ukraine ist die vollständige Rückeroberung aller besetzten Gebiete einschließlich der Krim. Die Verfasser gehen davon aus, dass die Auseinandersetzung weiterhin in einem Stellungskrieg verharren wird. Daher dürfte das Ziel der Ukraine nur langfristig und mit anhaltender Unterstützung durch westliche Staaten erreichbar sein. Sollte dann tatsächlich die Rückeroberung der Krim anstehen, dürfte dies für Russland unannehmbar sein – was immer das in der Konsequenz hieße. Die Verfasser nehmen daher an, dass sich irgendwann ein Waffenstillstand entlang der Line of Control einstellen wird. Auch die wirtschaftlichen Kosten für die Ukraine durch die gezielte Bekämpfung kritischer Infrastruktur seitens der russischen Streitkräfte könnten zu einem wichtigen Faktor bei der Abwägung der Fortführung von Kampfhandlungen werden. Zwar sei es Ziel der USA, dass die Ukraine möglichst viel Territorium zurückerobert. Doch man müsse es in Vergleich setzen zu den enormen Risiken, die eine Fortdauer des Kriegs bedeutet.
Die Kriegsdauer wird unterschiedlich eingeschätzt. Viele Experten gehen von einem Ende im Jahr 2023 aus, andere von länger anhaltenden Auseinandersetzungen, auch nicht-militärischer Natur. Obwohl die derzeitige Einhegung russischer Macht in und um die Ukraine im Sinn der US-Interessen sei und eine Fortdauer des Kriegs zur Stärkung des ukrainischen Militärs und seiner Operationsfähigkeiten führen dürfte, betrachten die Verfasser mit Skepsis die Bereitschaft der europäischen Staaten, ihre bisherige Unterstützung der Ukraine unverändert fortzusetzen. Die wirtschaftlichen Auswirkungen wie gestiegene Energie- und Lebensmittelpreise könnten, wenn die negativen Folgen die bisher erzielten Ergebnisse zunehmend in Frage stellen, den politischen Druck erhöhen, diese Unterstützung zurückzufahren. Ein Kriegsende mit einem Gewinner erachten die Autoren als fraglich. Für die wahrscheinlichste Option halten sie einen Waffenstillstand mit anschließenden Verhandlungen.
Solange Ukraine und Russland davon ausgehen, ihre Menschen- und Materialverluste ausgleichen zu können, gäbe es keine Waffenstillstandsverhandlungen. Irgendwann werde aber der Zeitpunkt kommen, an dem Verhandlungen unvermeidlich sind. Es sei wichtig, dass die US-Regierung und ihre westlichen Partner auf diesen Moment vorbereitet sind. Auch wenn Präsident Biden erklärt hat, dass dieser Krieg am Verhandlungstisch zu enden habe, habe die US-Regierung bislang keine erkennbaren Versuche unternommen, Verhandlungsstrategien zu entwickeln. Die Autoren sprechen sich für die baldige Entwicklung von Verhandlungskonzepten und deren Abstimmung im Bündnis aus – auch wenn der Konflikt infolge von Russlands maßlosen Ambitionen damit nicht gelöst werde. Ein Krieg ohne Ende jedoch sei auch keine Option.
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© 2023 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von De Gruyter.
Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz.
Artikel in diesem Heft
- Titelseiten
- Editorial
- Editorial
- Aufsätze
- Energiesicherheit unter Bedingungen der Dekarbonisierung von Wirtschaft und Verkehr
- Eine EU-Rohstoffagentur – Sinnvolles Instrument für die europäische Rohstoffsicherheit?
- Toxische Türöffner – Smart Ports als geoökonomisches Handlungsfeld
- Der Schutz maritimer kritischer Infrastrukturen und das Konzept der Abschreckung
- Kurzanalysen
- Unruhefaktor Iran – Welche Kriegsrisiken bestehen im Nahen Osten?
- Der Disput über das Raketenabwehrsystem THAAD in Südkorea – Wie Seoul seine nationalen Interessen im Kontext des sino-amerikanischen strategischen Wettbewerbs verfolgte
- Kommentar
- Den Weltkrieg vermeiden – aber welchen?
- Ergebnisse internationaler strategischer Studien
- Kritische Infrastruktur
- Ferdinand Alexander Gehringer: Unterseekabel als Kritische Infrastruktur und geopolitisches Machtinstrument. Berlin: Konrad-Adenauer-Stiftung, Dezember 2022
- Ukraine-Krieg
- Seth G. Jones/Riley McCabe/Alexander Palmer: Ukrainian Innovation in a War of Attrition. Washington, D.C.: Center for Strategic and International Studies (CSIS), Februar 2023
- Seth G. Jones: Empty Bins in a Wartime Environment. The Challenge to the U.S. Defense Industrial Base. Washington, D.C.: Center for Strategic and International Studies (CSIS), Januar 2023
- Bryan Frederick/Samuel Charap/Karl P. Mueller: Responding to a Limited Russian Attack on NATO during the Ukraine War, a perspective. Santa Monica, Cal.: The RAND Corporation, Dezember 2022
- Samuel Charap/Miranda Priebe: Avoiding a Long War. U.S. Policy and the Trajectory of the Russia-Ukraine Conflict. Santa Monica, Cal.: The RAND Corporation, Januar 2023
- Wirksamkeit von Sanktionen gegen Russland
- Gerard DiPippo/Andrea Leonard Palazzi: Bearing the Brunt. The Impact of the Sanctions on Russia’s Economy and Lessons for the Use of Sanctions on China. Washington, D.C.: Center for Strategic and International Studies (CSIS), Februar 2023
- Maria Snegovaya/Tina Dolbaia/Nick Fenton/Max Bergmann: Russia Sanctions at One Year. Learning from the Cases of South Africa and Iran. Washington, D.C.: Center for Strategic and International Studies (CSIS), Februar 2023
- Andrew David/Sarah Stewart/Meagan Reid/Dmitri Alperovitch: Russia Shifting Import Sources Amid U.S. and Allied Export Restrictions. Washington, D.C.: Silverado Policy Accelerator, Januar 2023
- Buchbesprechungen
- Michael Thumann: Revanche. Wie Putin das bedrohlichste Regime der Welt geschaffen hat. München: C.H.Beck 2023, 288 Seiten
- Thomas Urban: Verstellter Blick. Die Deutsche Ostpolitik. 2. Auflage. Berlin: edition.fotoTAPETA_Flugschrift 2022, 191 Seiten.
- Gerhard Conrad/Martin Specht: Keine Lizenz zum Töten. 30 Jahre als BND-Mann und Geheimdiplomat. Berlin: Econ/Ullstein Buchverlage 2022, 320 Seiten
- Arye Sharuz Shalicar: Schalom Habibi. Zeitenwende für jüdisch-muslimische Freundschaft und Frieden. Leipzig: Hentrich & Hentrich 2022, 162 Seiten
- Michael Paul: Der Kampf um den Nordpol. Die Arktis, der Klimawandel und die Rivalität der Großmächte, Freiburg: Herder 2022, 286 Seiten
- Bücher von gestern – heute gelesen
- Hans L. Trefousse: Germany and American Neutrality, 1939–1941. New York: Octagon Books 1969, 247 Seiten
- Bildnachweise
Artikel in diesem Heft
- Titelseiten
- Editorial
- Editorial
- Aufsätze
- Energiesicherheit unter Bedingungen der Dekarbonisierung von Wirtschaft und Verkehr
- Eine EU-Rohstoffagentur – Sinnvolles Instrument für die europäische Rohstoffsicherheit?
- Toxische Türöffner – Smart Ports als geoökonomisches Handlungsfeld
- Der Schutz maritimer kritischer Infrastrukturen und das Konzept der Abschreckung
- Kurzanalysen
- Unruhefaktor Iran – Welche Kriegsrisiken bestehen im Nahen Osten?
- Der Disput über das Raketenabwehrsystem THAAD in Südkorea – Wie Seoul seine nationalen Interessen im Kontext des sino-amerikanischen strategischen Wettbewerbs verfolgte
- Kommentar
- Den Weltkrieg vermeiden – aber welchen?
- Ergebnisse internationaler strategischer Studien
- Kritische Infrastruktur
- Ferdinand Alexander Gehringer: Unterseekabel als Kritische Infrastruktur und geopolitisches Machtinstrument. Berlin: Konrad-Adenauer-Stiftung, Dezember 2022
- Ukraine-Krieg
- Seth G. Jones/Riley McCabe/Alexander Palmer: Ukrainian Innovation in a War of Attrition. Washington, D.C.: Center for Strategic and International Studies (CSIS), Februar 2023
- Seth G. Jones: Empty Bins in a Wartime Environment. The Challenge to the U.S. Defense Industrial Base. Washington, D.C.: Center for Strategic and International Studies (CSIS), Januar 2023
- Bryan Frederick/Samuel Charap/Karl P. Mueller: Responding to a Limited Russian Attack on NATO during the Ukraine War, a perspective. Santa Monica, Cal.: The RAND Corporation, Dezember 2022
- Samuel Charap/Miranda Priebe: Avoiding a Long War. U.S. Policy and the Trajectory of the Russia-Ukraine Conflict. Santa Monica, Cal.: The RAND Corporation, Januar 2023
- Wirksamkeit von Sanktionen gegen Russland
- Gerard DiPippo/Andrea Leonard Palazzi: Bearing the Brunt. The Impact of the Sanctions on Russia’s Economy and Lessons for the Use of Sanctions on China. Washington, D.C.: Center for Strategic and International Studies (CSIS), Februar 2023
- Maria Snegovaya/Tina Dolbaia/Nick Fenton/Max Bergmann: Russia Sanctions at One Year. Learning from the Cases of South Africa and Iran. Washington, D.C.: Center for Strategic and International Studies (CSIS), Februar 2023
- Andrew David/Sarah Stewart/Meagan Reid/Dmitri Alperovitch: Russia Shifting Import Sources Amid U.S. and Allied Export Restrictions. Washington, D.C.: Silverado Policy Accelerator, Januar 2023
- Buchbesprechungen
- Michael Thumann: Revanche. Wie Putin das bedrohlichste Regime der Welt geschaffen hat. München: C.H.Beck 2023, 288 Seiten
- Thomas Urban: Verstellter Blick. Die Deutsche Ostpolitik. 2. Auflage. Berlin: edition.fotoTAPETA_Flugschrift 2022, 191 Seiten.
- Gerhard Conrad/Martin Specht: Keine Lizenz zum Töten. 30 Jahre als BND-Mann und Geheimdiplomat. Berlin: Econ/Ullstein Buchverlage 2022, 320 Seiten
- Arye Sharuz Shalicar: Schalom Habibi. Zeitenwende für jüdisch-muslimische Freundschaft und Frieden. Leipzig: Hentrich & Hentrich 2022, 162 Seiten
- Michael Paul: Der Kampf um den Nordpol. Die Arktis, der Klimawandel und die Rivalität der Großmächte, Freiburg: Herder 2022, 286 Seiten
- Bücher von gestern – heute gelesen
- Hans L. Trefousse: Germany and American Neutrality, 1939–1941. New York: Octagon Books 1969, 247 Seiten
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