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Michael Thumann: Revanche. Wie Putin das bedrohlichste Regime der Welt geschaffen hat. München: C.H.Beck 2023, 288 Seiten

  • Jakob Kullik

    Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand der Politikwissenschaft

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Published/Copyright: June 7, 2023

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Thumann Michael Revanche. Wie Putin das bedrohlichste Regime der Welt geschaffen hat München C.H.Beck 2023 1 288


Ein Jahr nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine steht nicht mehr nur das militärische Geschehen auf dem Schlachtfeld im Fokus. Solange der Herrscher im Kreml an der Macht ist, wird man weiterhin fragen: Wie konnte es so weit kommen? Was wurde im Westen gesehen, aber nicht verstanden? Und was wollte man nicht sehen und blieb deshalb folgenlos? Jedes Buch, das mehr Erkenntnis über die Abläufe und Entscheidungen im engsten Kreis um Putin bringt, ist ein Gewinn. Und so trifft das Buch des Russland-Korrespondenten der ZEIT, Michael Thumann, schon mit dem Titel zeitlich genau ins Schwarze: „Revanche. Wie Putin das bedrohlichste Regime der Welt geschaffen hat.“ Ja, mag man sagen, bedrohlich ist Russlands entfesselter Krieg in der Ukraine gewiss. Aber ist das Land damit auch das bedrohlichste Regime der Welt? Was ist mit China, Nordkorea und dem Iran? Und bedrohlich für wen eigentlich? Wer sich auf die Lektüre einlässt, wird schnell merken, dass Titel und These zutreffen, nicht nur für Europa, sondern im schlimmsten Fall sogar durch eine Atom-Apokalypse für die ganze Welt. Doch dieses schlimmste aller Szenarien malt Thumann nicht beschwörend an die Wand, sondern ordnet es nüchtern ein in sicherheitspolitische und militärische Überlegungen.

Zunächst ist da die große Frage, die besonders die friedensverwöhnten Deutschen umtreibt, weshalb man gegenwärtig überhaupt wieder über militärische und nukleare Vernichtungsoptionen diskutieren muss. Thumann geht den langen Weg und erklärt dem Leser, wie und warum sich Land, Leute und Führung seit dem Zerfall des Sowjetimperiums entwickelt haben. Politische Geschichte ist kein vorgezeichnetes Schicksal, aus dem es kein Entkommen oder Ausbrechen gibt. Prinzipiell existieren immer alternative Wege. Die jüngere postsowjetische Geschichte zeigt, dass das Ausbrechen aus Pfaden, Strukturen und Denkmustern zwar möglich, aber enorm schwierig ist. Putin war und ist nicht Schicksal Russlands, aber die tragische Geschichte des Landes hat es Persönlichkeiten wie ihm enorm erleichtert, an die Macht zu gelangen und diese zu festigen.

Besonders deutlich wird dies in Kapitel 3 des Buchs, das vom gescheiterten Putschversuch im Jahr 1991 berichtet. Zwar sind die Abläufe größtenteils bekannt, aber Thumann hat Recht, wenn er retrospektiv darlegt, dass nicht allein das Ereignis an sich, sondern die beiden grundverschiedenen Gesellschafts- und Zukunftsentwürfe für Russland von Bedeutung waren: auf der einen Seite der Weg der Öffnung (unter Gorbatschow) und der (wenn auch chaotischen) Freiheit (unter Jelzin), auf der anderen Seite die Fortsetzung des tschekistisch-sozialistischen Gefängnisstaats, wenn die Verschwörer triumphiert hätten. Und das haben sie knapp zehn Jahre später in Gestalt des bis dato unbekannten Geheimdienstoffiziers Wladimir Putin. Das gängige Narrativ in Russland, aber auch im Westen lautet bis heute, der unfähige, korrupte und nicht selten alkoholisierte Boris Jelzin habe auf den Scherben des einstigen Weltreichs das Land direkt in den Untergang geführt. Erst mit Putin sei Russland wiederauferstanden und bedeutend geworden. Auf das Chaos folgten Ordnung, Stabilität, Wohlstand und später auch wieder Stolz. Dieses Bild ist jedoch viel zu grob und von vielen interessierten Parteien, allen voran in Putins Russland, verfälschend gezeichnet worden. Es steht außer Frage, dass das Land unter Jelzin an einer schweren politischen und ökonomischen Krise litt. Doch die Ursachen dafür lagen in der maroden und systemisch-korrupten Sowjetwirtschaft, den nationalen Autonomiebestrebungen an den Rändern des Imperiums und – was gern übersehen wird – an den Bereicherungsorgien ehemaliger Angehöriger der Nomenklatura. Diese eigneten sich das Staatseigentum auf vielfach dubiose Weise an und verschlimmerten dadurch die Misere. Der Sumpf der Korruption wurde nie trockengelegt, sondern von den neuen Herren vergrößert.

Putin ist nicht der helle, unbefleckte Erretter Russlands, sondern Vertreter des alten Geheimdienstsystems, das in den wilden Jahren vom Staatszerfall profitierte. Dessen Vertretern gelang es nach der Machtergreifung, den Pfad der Öffnung, Modernisierung und Pluralisierung der Gesellschaft zu stoppen und eine, wie Thumann treffend beschreibt, „Oberflächen-Verwestlichung“ (S. 217) herzustellen. Von dieser hat man sich im Westen, vor allem in Deutschland, gern blenden und nicht selten kaufen lassen. Die Keimzelle der Revanche für Russlands neue Kriege liegt also weiter zurück und sitzt tiefer. Tief sitzt sie vor allem bei Putin selbst, der zutiefst gekränkt sei: „Gekränktheit ist ein Hauptcharakterzug des russischen Herrschers“ (S. 239). Diese Gekränktheit, sofern man sie als psychopolitischen Wesenszug von Putin und Teilen der russischen Elite ansieht, bestehe aus verschiedenen Versatzstücken: einem traditionellen russischen Minderwertigkeitskomplex gegenüber dem Westen, eingebildeten Vorwürfen, propagandistischen Zerrbildern und seit der Corona-Pandemie und dem Scheitern der russischen Armee vor Kiew wohl auch Angst vor dem Untergang.

Der Krieg in der Ukraine ist somit zu großen Teilen nicht so sehr mit Geostrategie zu erklären, sondern mit gesellschaftlichen und innenpolitischen Faktoren. Angetrieben wird er von den Rache- und Verlustgefühlen Putins und seiner Hardliner. Und wenn den Deutschen nicht zu Unrecht der Vorwurf der Rechthaberei attestiert wird, trifft dies auf das Putinsche Russland im besonderen Maß zu: „Unfähig zur Selbstkritik, unfähig zu trauern und unfähig zur Selbstkorrektur geht die russische Regierung mit der Unterstützung eines erheblichen Teils der Bevölkerung den Weg der Auslöschung eines Nachbarstaats und glaubt dabei auch noch, komplett im Recht zu sein“ (S. 195). Thumanns Befund ist daher zutreffend: „Russland hat sich mit dem Krieg gegen die Ukraine auch selbst überfallen“ (S. 201). Die Frage ist nun, ob und wann dies auch in Russland erkannt wird und was daraus folgt. Einen Sturz des Regimes sieht der Autor derzeit nicht. Dafür sei es zu gut geschützt. Schließlich hatte Putin dafür mehr als zwanzig Jahre Zeit gehabt.

Doch wenn es an der Spitze des Kremls keinen Wechsel gibt und der Krieg gegen die Ukraine von der Bevölkerung weitgehend getragen und ertragen wird, was hieße das dann für den Rest Europas? „In Putins neuer Ordnung sollten die USA gar keinen Platz mehr in einem schwachen und von Russland abhängigen Europa finden. Russland erhob Anspruch auf uneingeschränkte Führung auf dem Kontinent. Putin wollte dabei nicht zurück in den Kalten Krieg mit seinen festen Bündnissen und Abmachungen. Er strebte vorwärts in die Regellosigkeit des 21. Jahrhunderts, in der vor allem militärische Stärke und nationale Einheit zählen sollten“ (S. 246). Das ist also diese andere Welt, in wir der alle nach dem Überfall auf die Ukraine aufgewacht seien, so die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock an Tag eins des Krieges.

Thumanns Buch ist zwar ein Buch über Putin und sein System. Aber der größte Mehrwert liegt eigentlich im Aufzeigen der politischen Fehler und strategischen Versäumnisse Deutschlands, das sich stets besonderer Beziehungen zu Russland rühmte. Dass diese Sonderbeziehungen bei vielen den Blick vernebelten, zeigt Kapitel 2: Irrweg. Wie deutsche Politiker Putin halfen (S. 17–39). Dieses Kapitel ist deshalb so wichtig, weil die Aufarbeitung zum Scheitern der deutschen Ost- und Russlandpolitik gerade erst begonnen hat. Thumann spricht von „Totalversagen“ (S. 36): „20 Jahre Verstehen, Vermitteln und Verständnis zeigten: Es hatte alles nichts genutzt. Die deutsche Politik stand nach zwei Jahrzehnten der unzähligen Konferenzen, Gipfel und Gespräche nackt da, betrogen von Putin und beschämt von sich selbst“ (ebd.). Und auch an die Adresse der Friedensbewegten der Republik, die Deutschland und dem Westen zu wenig diplomatische Anstrengung vorwerfen, richtet der Autor eine passende Antwort: „Die unzähligen Anläufe, die deutsche Politiker nach Moskau unternahmen, straften all jene Lügen, die in deutschen Talkshows behaupteten, man habe nicht genug geredet. Mehr als die Deutschen mit Putin hat gewiss niemand konferiert, außer vielleicht der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan“ (S. 38). Es war ein strategisches Kollektivversagen deutscher Politiker, aber auch deutscher Wirtschaftsbosse, die in Russland gute Geschäfte machten und bis zum Schluss der Illusion vom zuverlässigen und wirtschaftlich rational handelnden Partner Russland anhingen.

Immer wieder erstaunlich ist, dass man dies alles habe wissen können. Michael Thumann berichtet seit den 1990er-Jahren aus Russland. Er und viele andere Journalisten haben die Verhältnisse und Veränderungen im Land und an der Spitze ausgiebig beschrieben. Auch die Fachwelt warnte vor dem revanchistischen Charakter des russischen Regimes. Doch scheinbar unverrückbare Narrative belasten bis heute die deutsche Russlanddebatte. Vor allem einen Aspekt tragen unkritische Russland-Verteidiger – vom Autor als „deutsche Distanz-Deuter“ (S. 251) etikettiert – wie ein Mantra vor sich her, nämlich: das Land hätte sich nur verteidigt und alle (Fehl-)Entwicklungen seien als Reaktion auf die Aktionen von USA und NATO zu erklären. Thumann widerspricht dieser Sichtweise: „Die im Westen beliebte Sinnsuche, was wir bloß falsch gemacht haben, ist für die Russland-Deutung sinnlos. […] Das ist aus meiner Perspektive als Korrespondent und Moskauer auf Zeit eine unerträgliche Arroganz. Diese Sichtweise geht nämlich davon aus, dass Russland als Weltmacht in seiner inneren Entwicklung vom Westen abhängig wäre oder seine Politik als Reaktion auf den Westen gestalten würde. Russland ist kein Kleinstaat. Fortschritt und Regression dieses elf Zeitzonen umspannenden Landes verlaufen weitgehend unabhängig vom Westen – und die Entscheidungen seines Herrschers ebenso“ (S. 11–12).

Das neue Buch von Michael Thumann über Putins System ist zugleich eines über die deutsche Russlandpolitik der letzten zwanzig Jahre. Zwar ist das unheilige Gegenstück zur russischen Revanche nicht die deutsche Arroganz. Aber diese leistete erheblichen Vorschub bei der Nichtanerkennung von und der Vorbereitung auf die neue Realität im Ost Europas. Es bleibt zu hoffen, dass Thumanns flott geschriebenes, hochaktuelles Buch eine breite Leserschaft findet und die Debatte um die neue deutsche Osteuropa- und Russlandpolitik Fahrt aufnimmt.

About the author

Jakob Kullik

Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand der Politikwissenschaft

Published Online: 2023-06-07
Published in Print: 2023-06-05

© 2023 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von De Gruyter.

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