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Shalicar Arye Sharuz Schalom Habibi. Zeitenwende für jüdisch-muslimische Freundschaft und Frieden Leipzig Hentrich & Hentrich 2022 1 162

Von den vielen sogenannten Zeitenwenden, die derzeit in der Sicherheits- und Energiepolitik ausgerufen werden, vollzieht sich eine, über die kaum gesprochen wird. Im Nahen Osten – jener für Europa in vielerlei Hinsicht so wichtigen Schlüsselregion – haben sich seit der Normalisierung der Beziehungen zwischen Israel und einigen arabischen Ländern die geopolitischen Gewichte spürbar verschoben und eine neue Dynamik entfaltet. Diese Entwicklungen, die wesentlich unter der Trump-Administration vorangetrieben wurden (Abraham Accords) und insbesondere Israel positive Veränderungen brachten, werden indes „so gut wie nicht wahrgenommen“ (S. 98). Deutschland, so die These von Arye Sharuz Shalicar, verharre in einer festgefahrenen Nahost-Wahrnehmung, die „nicht einmal eine kleine Erschütterung davongetragen“ (ebd.) habe. Diese überspitzt formulierte, im besten Sinn diskussionswürdige Beobachtung bildet den Rahmen des Büchleins von Schalom Habibi mit dem Titel „Zeitenwende für jüdisch-muslimische Freundschaft und Frieden.“ Der Verfasser ist ein deutsch-israelisch-iranischer Politologe, Schriftsteller und war Abteilungsleiter für Internationale Beziehungen im Büro des israelischen Premierministers. Shalicar ist ein politologischer Praktiker, der nicht davor zurückschreckt, die Dinge unverblümt beim Namen zu nennen. Er ist, wie die Amerikaner sagen würden, straight to the point. Und genau das ist auch Shalicars Buch: eine direkte, eindringliche und klare Beschreibung eines Veränderungsprozesses, der sich im Nahen Osten abspielt, hierzulande jedoch nicht hinreichend zur Kenntnis genommen und gewürdigt wird.
Doch bei der Beschreibung der Verhältnisse in der arabischen Welt bleibt es nicht. Das Buch adressiert weitere Themen, die sich vor allem an eine deutsche Leserschaft richten und der deutschen Wahrnehmung und Erinnerung von Israels geistig-historisch-geopolitischer Platzierung die Augen öffnen will. Shalicar zielt also auch auf die kollektiven Schmerzpunkte der Deutschen: auf die Beziehungen zum jüdischen Staat Israel, die Scheinheiligkeiten in den Solidaritätsbekundungen gegenüber Israel bzw. den Juden und den Palästinensern und die grundlegende Bereitschaft, sich den neuen Entwicklungen zu stellen und eigene Narrative zu hinterfragen. Sein Buch könnte daher auch „eine Art Rettungsanker für die deutsche Seele darstellen“ (S. 15). Ob dies realistisch oder vermessen ist, wird sich zeigen. In jedem Fall sticht sein eindringliches Werben für eine entkrampfte und mitunter positivere Sicht auf die Entwicklungen zwischen Israel und der arabischen Welt bzw. zwischen den Juden und Muslimen unter den hiesigen Publikationen zum Nahen Osten hervor.
Das Buch ist gekennzeichnet durch persönliche Eindrücke, biografische Stationen und berufliche Erfahrungen in seiner Rolle als Mitarbeiter des Ministerbüros. Wer Shalicar kennt, weiß um seine mittlerweile verfilmte Geschichte im Berliner Wedding, wo er unter muslimischen Jugendlichen sozialisiert wurde und sich dort das erste Mal mit der schmerzlichen Frage auseinandersetzen musste, was es heißt, deutscher Jude mit iranischen Wurzeln zu sein. Diese Erfahrungen und sein zweites Leben in Israel, zunächst bei den Streitkräften, später als deren Sprecher und schließlich als Berater des israelischen Außenministers, zeigen, wie eng verflochten die Fixpunkte Identität, Zugehörigkeit und Sicherheit sind. Da Sicherheit im Nahen Osten ein überaus volatiler Zustand ist und Israel eine Sonderbeziehung mit Deutschland hat, sind seine Ausführungen zur israelischen Nahost- und Sicherheitspolitik besonders aufschlussreich. Hier spricht kein deutscher Nahost-Experte, der nur kurz in der Region verweilt und mit Gelehrtenbrille und großem Abstand die Geschehnisse bewertet, sondern jemand, der die deutsche und israelische Sichtweise gut kennt und die Sicherheitspolitik seines Landes an entscheidender Stelle mitprägt und erklärt. Shalicar ist daher Analyst, beteiligter Akteur und ein Stück weit Aktivist für die israelische Sache. Unter diesem Blickwinkel sollte das Buch gelesen werden.
In seinen Ausführungen versucht er stets, die Mikro- und Makroebene zu verflechten, also die großen politischen Entwicklungen mit den persönlichen Erlebnissen zusammenzubringen. Eine der wichtigsten Botschaften ist, den Nahostkonflikt in seiner Komplexität anders und vielfältiger zu betrachten. Es handele sich nämlich schon längst nicht mehr nur um den singulären Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern, sondern um „mehrere parallel laufende Nahostkonflikte […], die alle nichts mit dem jüdischen Staat zu tun haben“ (S. 140). Shalicar zufolge spielten sich drei zentrale Nahostkonflikte ab: „zum einen der Konflikt zwischen den Sunniten und den Schiiten; dann der ethnische Konflikt zwischen Türken, Arabern und Persern; und schließlich der innersunnitische Konflikt um die korrekte Auslegung und praktische Umsetzung des sunnitischen Islam. Alle Konflikte haben mit dem Islam, aber noch viel mehr mit der Gier nach Macht zu tun“ (ebd.). Diese Darstellung der komplexen Konfliktlinien ist historisch weiter gefasst (seit dem Zwist zwischen Sunniten und Shiiten vor etwa 1400 Jahren) und berücksichtigt mehrere Akteure, von denen nicht die Palästinenser die Haupttaktgeber sind, sondern der Iran. Dieser sei die derzeit größte Bedrohung für die Existenz des israelischen Staats. So überzeugend seine Darstellung des Nahostkonflikts als Konflikttrias ist, so fraglich ist indes seine Behauptung, dass all dies nichts mit dem jüdischen Staat zu tun habe. Mindestens als Referenzpunkt des Hasses ist und bleibt das kleine und erfolgreiche Israel der propagandistische Mittelpunkt für das Regime in Teheran und den weitverbreiteten Judenhass in der arabischen Welt. Shalicar verweist auf die wohl wenig bekannte Tatsache, dass „der Iran vor der Revolution der engste Verbündete des jüdischen Staates in der Region“ (S. 32) war. Damit verbindet er seine persönliche Hoffnung, dass „der Spuk eines Tages vorübergehen wird und der Iran wieder ein freies Land sein wird, wie er es war, als meine Eltern dort aufwuchsen“ (S. 31).
Lesenswert und mitunter erheiternd sind seine Ausführungen zu seinen Reisen in den Sudan, den Oman und in die Vereinigten Arabischen Emirate. Weil er einer der ersten offiziellen Vertreter Israels in diesen Ländern war, können diese Reisen als historisch bezeichnet werden. Stets fragt sich Shalicar selbst, ob all diese Veränderungen (allen voran die Normalisierung der diplomatischen Beziehungen mit den Vereinigten Arabischen Emiraten und die Einrichtung von direkten Flugverbindungen mit mehreren muslimischen Ländern) tatsächlich schon eine Zeitenwende sind. Für Shalicar sind sie es. Obwohl die perspektivischen Möglichkeiten der Zusammenarbeit zwischen Israel und den arabischen Staaten gewaltig sind, ist Vorsicht angebracht. Zu stark sind die antisemitischen Stereotype in den arabischen Gesellschaften verankert und zu einflussreich sind die Kräfte der Beharrung und der Eskalation. Es wird wohl eine Generationenaufgabe sein, die Narrative und Einstellungen in der Region zu verändern. Einen kleinen Beitrag auf diesem langen Weg kann Shalicars überaus informatives und erfrischendes Buch leisten, das sich an ein breites Lesepublikum wendet. Es ist vieles in einem: Analyse, Provokation und Mutmacher in einer Zeit großer Veränderungen.
About the author
Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand der Politikwissenschaft
© 2023 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von De Gruyter.
Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz.
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