In der politischen Diskussion steht die Sorge im Mittelpunkt, der Krieg in der Ukraine könne zu einem Krieg zwischen Russland und der NATO eskalieren und dann sogar nuklear enden – was einen Dritten Weltkrieg bedeuten würde. Diese Sorge ist naheliegend, doch die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich bewahrheitet, sehr gering. Zum einen versuchen die USA und ihre NATO-Partner geradezu alles, um genau dieses Szenario zu vermeiden. Deshalb geschieht die Waffenunterstützung für die Ukraine mit angezogener Bremse – sehr zum Leidwesen der Ukraine und auch durchaus kritisiert von Militärexperten. Alles, was die Russen zu sehr provozieren könnte, wird zurückgehalten. Zum anderen bemühen sich die Russen genauso intensiv darum, der NATO und besonders den Amerikanern keinen Anlass zu geben, in den Ukraine-Krieg militärisch einzugreifen. Anderenfalls wäre das rasche, ruhmlose Ende der sogenannten Spezialoperation abzusehen. Das ergibt eine relativ stabile Konstellation der Vermeidung eines Kriegs zwischen NATO und Russland. Natürlich lässt sich darüber spekulieren, welche nuklearen Optionen Putin im Fall einer Niederlage oder eines Kollapses seines Herrschaftssystems hat. Aber solange er nicht in einem Führerbunker sitzt und fremde Truppen kurz vor Moskau stehen, dürfte es andere Alternativen geben. Ausschließen kann man katastrophale Fehlentscheidungen oder gar einen kollektiven Selbstmord Putins durch Atomwaffen nicht, aber sehr wahrscheinlich ist das nicht.
Gebannt ist die Gefahr eines Weltkriegs damit allerdings nicht. Tatsächlich könnten zwei Pfade den Ukraine-Krieg in einen größeren Krieg oder gar einen Weltkrieg führen. Einer davon ist in vielen Debatten präsent und macht sich an den weitergehenden Zielsetzungen Putins und seines Regimes fest. Hier lautet das Hauptargument, im Fall seines Siegs über die Ukraine werde Russland nach einer gewissen Periode der Wiederaufrüstung weitere neutrale Staaten (wie Moldau) und NATO-Mitglieder (Baltikum, Polen) angreifen. Die meisten Beobachter gehen davon aus, dass Russland im Baltikum versuchen würde, in einem Überraschungsangriff so viel Land wie möglich zu erobern. Sollte die NATO eine Rückeroberung wagen, würde Russland mit dem Einsatz von Kernwaffen drohen und diese womöglich auch einsetzen, um seine Drohungen zu untermauern. Dieses Szenario verschiebt sich angesichts der massiven Verluste Russlands in der Ukraine auf der Zeitachse nach hinten, ist jedoch unter der Annahme des Weiterbestehens des gegenwärtigen Regimes höchst wahrscheinlich. Das Positive an diesem Szenario ist, dass die westliche Staatengemeinschaft Zeit und Ressourcen hat, um es abzuwenden. Dazu gehört der Aufbau einer kollektiven Vorneverteidigung an den Grenzen zu Russland ebenso wie der einer komplexen Luftabwehr über Europa. Und auch das Verhindern einer ukrainischen Niederlage durch Waffenlieferungen und deren langsame, vorsichtige Eskalation trägt dazu bei. Das setzt voraus, dass der notwendige sense of drama auch in Berlin erkannt wird.
Der zweite Pfad zu einem dritten Weltkrieg findet in den politischen Debatten erstaunlich wenig Beachtung. Das Szenario sähe so aus: Die Führung in China betrachtet angesichts Russlands relativ erfolgloser Kampagne in der Ukraine seine Aussichten, Taiwan im Zuge einer Invasion zu besetzen, zwar eher ernüchtert. Aber es registriert auch die Schwächen der westlichen Staatenwelt, die sich in den vergangenen 20 Jahren weitgehend entwaffnet hat, und vor allem den Abbau der wehrtechnischen Basis in den USA.[1] Der Ukraine-Krieg hat hier erhebliche Lücken aufgedeckt. Gewiss, diese werden in absehbarer Zeit wieder aufgefüllt. Doch zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind die Fähigkeiten der USA begrenzt, besonders, wenn man bedenkt, dass die USA an zwei Kriegsschauplätzen – in Europa und in Ostasien – zugleich aktiv sein müsste.
Vorstellbar ist daher ein Szenario, bei dem die Führung in Peking erwägt, mit ihrem in den vergangenen Jahren systematisch aufgebauten Potenzial entweder Taiwan militärisch so einzuschnüren, dass es nachgeben muss, oder aber die Insel anzugreifen und zu annektieren. Da die USA deutlich gemacht haben, dass sie diesen Angriff nicht unbeantwortet lassen würden, könnte China versucht sein, die in Ostasien stationierten amerikanischen Militäreinrichtungen und Kriegsschiffe in einem gewaltigen Schlag auszuschalten – möglicherweise auch ohne eine Invasion gegen Taiwan. Unter Experten nennt man das die „Pearl-Harbor-Option.“[2] Ziel wäre es, die amerikanische Präsenz in der Region auszulöschen. Taiwan würde danach wie eine reife Frucht an China fallen, auch Japan wäre handzahm und alle strittigen Territorialprobleme würden im Sinne Pekings entschieden werden.
Was spricht für diese Option? China hat die notwendigen Mittel und den unbedingten Willen, die USA aus der Region zu vertreiben. Zudem kann es mit einem Angriff in Ostasien seinen Verbündeten Russland entlasten. Die Militärhilfe der USA für die Ukraine würde weitgehend eingestellt, der Krieg sich zugunsten Russlands wenden. Der Zeitpunkt dürfte passend sein, weil die USA und vor allem deren Verbündete jetzt ihre Schwächen erkannt haben, aber noch nicht in der Lage sind, diese schnell zu beseitigen. Chinas ist auf dem Höhepunkt seiner militärischen wie ökonomischen Stärke.
Was spricht dagegen? Zum einen das Risiko, dass dieser umfassende Angriff missglückt und eine Katastrophe für Xi Jinping bewirkt. Und: Ein solcher Schlag muss monatelang vorbereitet werden, ohne dass die Gegenseite es bemerkt. Ob das den Chinesen gelingt, ist fraglich. Außerdem könnten die USA auf einen derart umfassenden Angriff mit einem Nuklearschlag gegen Chinas landgestützte Kernwaffenpositionen drohen. Interessant ist, dass die Chinesen für diesen Fall schon Vorsorge getroffen haben. China hat in den vergangenen Jahren so viele Interkontinentalsilos angelegt, dass die USA keine Chance hätten, das gesamte landgestützte Potenzial zu zerstören. Abgesehen davon gibt es chinesische Unterseeboote, die nuklear bestückte Langstreckenraketen tragen und die USA angreifen könnten. Mittlerweile deutet sich an, dass China die Produktion waffenfähigen Plutoniums antreibt, um mit den USA bei strategischen Kernwaffen gleichzuziehen.
Gegen einen solchen Krieg sprechen zudem die hohen gegenseitigen wirtschaftlichen Abhängigkeiten Chinas in seinen Beziehungen zu den USA und der EU. Aber auch daran hat die Kommunistische Partei Chinas gedacht. China bemüht sich seit einigen Jahren, Abhängigkeiten von den USA und Europa abzubauen, sowie Beziehungen herzustellen, die Amerika und Europa von China abhängig machen sollen. All dies sieht nach einem Kalkül (möglicherweise für eine größer angelegte Kriegsplanung) aus, in das die wirtschaftlichen Reaktionen der USA und des Westens eingepreist sind. Allerdings sind die Unwägbarkeiten so groß, dass ein vernünftiger chinesischer Führer sich auf dieses Abenteuer nicht einlassen wird. Bloß, wie vernünftig ist Xi Jinping? China ist, wie Russland, ein „Führerstaat“ mit einer Person als absolutem Machtzentrum. Xi hat bereits gravierende Fehlentscheidungen zu verantworten, so etwa die Null-Covid-Politik. Wird er sich auf ein dermaßen kritisches Unterfangen einlassen?
Ob sich China dazu entschließt, lässt sich nicht vorhersagen, es lässt sich nicht einmal eine Wahrscheinlichkeit benennen. Diese dürfte eher gering sein. Jedoch, es lässt sich auch nicht ausschließen. So wie Japan im Dezember 1941 mit dem Angriff auf Pearl Harbor den europäischen Krieg in einen Weltkrieg entarten ließ, so könnte China den Ukraine-Krieg in einen Weltkrieg überführen.[3] Das Fatale: Gegen dieses Szenario lässt sich derzeit außer durch Wachsamkeit wenig ausrichten.
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