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Conrad Gerhard Specht Martin Keine Lizenz zum Töten. 30 Jahre als BND-Mann und Geheimdiplomat Berlin Econ/Ullstein Buchverlage 2022 1 320

Profunde Publikationen von ehemaligen Mitarbeitern der deutschen Nachrichtendienste sind nach wie vor selten auf dem deutschen Buchmarkt. Anders als in Großbritannien und den USA gibt es hierzulande bislang keine sonderlich stark ausgeprägte und in der Gesellschaft anerkannte Intelligence Culture. Es ist daher zu begrüßen, wenn Insider aus dem deutschen Sicherheitsapparat ein wenig Licht auf die Schattenwelt der Dienste werfen, um Mythen und Halbwissen ein möglichst sachkundiges Bild entgegenzustellen. Das Bild wird umso fundierter und facettenreicher, wenn nicht nur aus dem Maschinenraum der geheimen Dienste berichtet, sondern deren Arbeit in das Geflecht der internationalen Politik und nachrichtendienstlichen Beziehungen eingebettet wird. Gerhard Conrads Buch „Keine Lizenz zum Töten. 30 Jahre als BND-Mann und Geheimdiplomat“ bietet dem Leser eine Tour durch die Welt der Geheimdienste, die sich an die beruflichen Stationen des Autors in Deutschland, dem Nahen Osten, Großbritannien und Brüssel anlehnt. Conrad, studierter und promovierter Islamwissenschaftler, interessierte sich schon früh für die arabische Welt und die mit ihr verbundenen sicherheitspolitischen Entwicklungen, die bis 1990 im Prisma des Kalten Krieges wahrgenommen und bewertet wurden. In der folgenden Umbruchphase trat Conrad dem BND bei. Er war einer der wenigen, die sich mit den Entwicklungen in den nahöstlichen Ländern fachkundig auskannten und über Regionalexpertise verfügten. Aus heutiger Sicht und insbesondere nach den Anschlägen des 11. September 2001 scheint es eine sicherheitspolitische Selbstverständlichkeit zu sein, sich intensiv mit der Großregion Nahost zu befassen – nicht so nach 1990.
Wer glaubt, dass die Nachrichtendienste stets alle Weltveränderungen vorausschauend im Blick hätten und frei von gesellschaftlichen Prägekräften seien, der irrt. Francis Fukuyamas Diktum einer liberalen friedlichen Weltordnung prägte auch die Sicherheitsbehörden in der wiedervereinigten Bundesrepublik: „Ich erlebte diese Zeit aus der Perspektive eines BND-Angehörigen und musste feststellen, dass sich die Illusion vom ‚Ende der Geschichte‘ in Missachtung aller handgreiflichen Indizien des Gegenteils immer mehr verbreitete“ (S. 105). Mit seiner Fachexpertise für die arabische Welt stand er Anfang der 1990er-Jahre „noch eher allein da“ (S. 120). Dies zeigt, dass auch Geheimdienstler keine allwissenden Weltstrategen sind, die sämtliche Geschehnisse auf dem Schirm haben oder diese gar beeinflussen. Conrad betont, dass es bei Geheimdienstarbeit in allererster Linie auf den human factor ankomme: „Nicht Behörden arbeiten zusammen, es sind die Menschen, die dies tun, aus ihrem jeweiligen persönlichen, fachlichen und organisatorischen Kontext heraus, der förderlich oder auch hinderlich sein kann“ (S. 274). Was wie eine Trivialität klingen mag, zeigt, dass auch die klügsten strategischen Konzepte am Ende des Tages von Menschen (in diesem Fall von BND-Beamten) im Rahmen ihrer gesetzlichen Möglichkeiten und verfügbaren Ressourcen umgesetzt werden müssen. Die Relevanz des menschlichen Faktors macht Conrad an einem weiteren Punkt fest: den Abnehmern (Kunden) der nachrichtendienstlichen Produkte, die im Regelfall die mit Außen- und Sicherheitspolitik befassten Ministerien sind. Da hohe Entscheidungsträger in der Regel nicht die Zeit haben, lange Dossiers und Analysen zu lesen, müsse die nachrichtendienstliche Arbeit „strikt kundenorientiert sein, der Abnehmer muss zeitgerechte, handhabbare und thematisch relevante Informationen erhalten. Intelligence ist kein Selbstzweck, sondern wesentliches Mittel als Grundlage oder zumindest Anhaltspunkt für Entscheidungsprozesse“ (S. 298). Freilich, lesen müssen die Abnehmer immer noch selbst. Den nicht selten öffentlich vorgetragenen Ärger über die Analysequalität der Nachrichtendienste vergleicht Conrad etwas spöttisch mit dem Wetterbericht: „Alle schimpfen auf ihn, aber jeder braucht und nutzt ihn, zumindest als Anhaltspunkt für das eigene Verhalten“ (ebd.).
Die Kapitel zur Arbeitsweise des BND und seiner Partnerdienste (insbesondere der britischen) wechseln sich ab mit denen über seine Einsätze als Resident in Damaskus und als Verhandlungsführer im Libanon und im Gaza-Streifen, wo er in wichtigen Geiselverhandlungen die Hauptverantwortung trug. Er agierte als offizieller Vermittler zwischen Israel und den Terrororganisationen Hizballah und später mit der Hamas – mal im Auftrag des BND, mal im Dienst der Vereinten Nationen. Im Zentrum standen stets die Freilassung bzw. der Tausch von israelischen Gefangenen und Verstorbenen gegen libanesische und palästinensische. Conrad gelang unter anderem die Befreiung des israelischen Soldaten Gilad Shalit. Diese Kapitel lesen sich wie ein politischer Thriller und illustrieren sehr anschaulich, wie die Treffen und Verhandlungen abliefen: „Woche für Woche pendle ich nun zwischen einem Berlin in politischem Aufruhr, Tel Aviv und Gaza hin und her, verbringe ganze Nächte über Vertragsentwürfen, Listen, Fallakten und Notizen, doch wir kommen nur in minimalen Schritten – wenn überhaupt – weiter“ (S. 241). Für philosophische Gedanken war in diesen intensiven Phasen kein Platz; was zählte, waren Hartnäckigkeit, Geduld und starke Nerven. Die Grundvoraussetzung, um in Verhandlungen Erfolg zu haben, beschreibt er so: „Ich muss mit allen Beteiligten sprechen und die erforderliche Höflichkeit, Zurückhaltung, Wertschätzung und manchmal auch Empathie mit einbringen. In einer kühlen, distanzierten oder von unterschwelliger Ablehnung geprägten Atmosphäre erstirbt jede Kompromissbereitschaft“ (S. 68). Ob Spitzenpolitiker diese Eigenschaften in unserer medialen Dauererregungsgesellschaft aufbringen und durchhalten könnten? Umso wichtiger sind daher kühle und diskrete Vermittlerpersönlichkeiten wie Gerhard Conrad. Für seinen Verhandlungserfolg wurde er mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet und später zum Direktor des beim Europäischen Auswärtigen Dienst angesiedelten Intelligence Analysis and Situation Centre der EU (EU INTCEN) ernannt. Diese Schnittstelle der nationalen Nachrichtendienste auf EU-Ebene besitzt keine eigenen operativen nachrichtendienstlichen Befugnisse und ist somit nicht der Geheimdienst der EU. Ob das EU INTCEN es einmal wird, wird sich erweisen, auf absehbare Zeit wohl nicht.
Gerhard Conrads Buch ist ein sehr informatives und gut lesbares Werk über den BND und die deutsche Nachrichtendienst- und Sicherheitspolitik in Zeiten globaler Herausforderungen und innerer Reformerfordernisse. Die beruflichen Stationen des Autors in Bonn und Berlin, im Nahen Osten, in London und Brüssel zeigen nicht nur, wie wichtig es ist, am Puls der Zeit zu sein, sondern auch, dass es erfolgskritisch sein kann, die Denk- und Handlungsweisen außerhalb des oft selbstreferenziellen Deutschlands zu verstehen und in das eigene Handeln einzupreisen. Am Ende jedoch kann der BND in seiner Arbeit noch so gut sein. Über sein Schicksal und seine allgemeine Wertschätzung entscheidet letztendlich die Politik: „Ohne den politischen Willen zum wissensbasierten Handeln und die Vermeidung von illusionären Wunschvorstellungen oder kognitiven Vermeidungshaltungen bei der Entscheidungsfindung geht es nicht“ (S. 314). Hier ist Conrad zuzustimmen – aber weiß man das auch in Berlin?
About the author
Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand der Politikwissenschaft
© 2023 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von De Gruyter.
Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz.
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