Reviewed Publication:
Bryan Frederick Charap Samuel Mueller Karl P. Responding to a Limited Russian Attack on NATO during the Ukraine War, a perspective Santa Monica, Cal. The RAND Corporation Dezember 2022
Während man in Europa jede öffentliche Diskussion über einen möglichen begrenzten Angriff Russlands auf die NATO infolge deren Unterstützung im Ukraine-Krieg zu vermeiden versucht, hinterfragen die drei Autoren von RAND in diesem Perspektivpapier die Faktoren, die politische Entscheider in den USA gegebenenfalls berücksichtigen sollten. Sie zeigen auf, welche Optionen Russland zur Verfügung stünden, wollte es den Krieg eskalieren. Nicht ein umfassender Angriff Russlands auf die NATO steht im Vordergrund, sondern begrenzte Attacken. Dabei reiche das Spektrum von einem Angriff auf ein einziges militärisches Ziel bis hin zu Angriffen auf zivile und militärische Ziele in Europa und im Weltraum. Die Charakteristika russischer Angriffe und mögliche russische Motive werden daraufhin untersucht, welche unterschiedlichen Antworten der USA oder der NATO helfen könnten, die Ziele US-Amerikas weiterhin zu verfolgen.
Die Autoren arbeiteten sieben Charakteristika heraus, die bei der Beurteilung begrenzter Angriffe beachtet werden müssten: (1) Erfolgt der Angriff auf ein ziviles oder ein militärisches Ziel? (2) Welche militärischen Opfer oder Beschädigungen verursacht der Angriff? (3) Wie viele zivile Opfer oder Beschädigungen forderte der Angriff? (4) Wollte der Angriff Verletzungen zufügen oder Verletzte vermeiden? (5) Wie hoch war die Anzahl der getroffenen Ziele? (6) Wie stark wurden militärische Fähigkeiten der USA oder der NATO durch den Angriff beeinträchtigt? (7) Was war die politische Symbolkraft des Angriffs? Bei allen Angriffen (auch bei möglichen Mischformen) müsse man zudem zwischen unterschiedlichen Graden der Intensität unterscheiden. War es ein demonstrativer oder ein begrenzter Angriff oder einer, der keinerlei Zurückhaltung erkennen ließ?
Die Autoren entwickeln vier hypothetische Szenarien (A–D), die sich am Kriegsgeschehen in der Ukraine sowie an Planspielen orientieren. Darin schildern sie verschiedene Kombinationen aus drei möglichen russischen Angriffsmotiven und drei Kategorien der Intensität. Ziel ist es, russische Motivationen zu erschließen, aus denen sich Anregungen für eigene Entscheider entwickeln lassen. Die aufgezeigten Antworten entsprechen eher westlichem als russischem Denken.
Politische Entscheider in den USA, so die Verfasser, hätten fünf Ziele zu berücksichtigen, bevor sie eine Entscheidung über eine mögliche Antwort auf russische Angriffe treffen. Diese sind: (1) schrecke jeden weiteren russischen Angriff ab, (2) vermeide weitere Eskalation, (3) unterminiere Russlands Fähigkeiten, weitere Angriffe zu starten, (4) halte die Glaubwürdigkeit amerikanischer Sicherheitsgarantien aufrecht und (5) erhalte den Zusammenhalt des NATO-Bündnisses!
Die Autoren entwickeln auf dieser Basis Handlungsmöglichkeiten für die USA und die Allianz. Sie untersuchen militärische und nicht-militärische Maßnahmen als Reaktion auf russische Angriffe. Sie veranschaulichen, wie verschiedene unterschiedliche westliche Antworten zu plausiblen, aber differierenden Ergebnissen führen können. Beispielhaft wird nun auf das Szenario D und Hauptschlussfolgerungen des Bündnisses und der USA eingegangen.
In Szenario D führt Russland sechs Raketenangriffe gegen Schlüsselflugplätze und Häfen in Europa durch, die von US-Streitkräften genutzt werden, darunter der Hafen von Rotterdam und der Luftwaffenstützpunkt Ramstein. Obwohl die militärischen Auswirkungen begrenzt bleiben und bereits nach wenigen Stunden eingeschränkte Operationen wieder möglich sind, sind 200 zivile und militärische Verletzte zu beklagen, auch wegen Fehlern der russischen Zielzuweisung. Laut Russland seien diese Angriffe als Reaktion auf fortlaufende Angriffe gegen eigenes Territorium – einschließlich von Gebieten innerhalb der Grenzen der Ukraine von 1991 – erfolgt. Es erklärt, dass es sich das Recht vorbehalte, mit allen militärischen Mitteln seine Souveränität zu verteidigen. Dieser Angriff wird auf der Skala der Autoren als ein relativ hochgradiger Angriff eingestuft.
Bei diesem Szenario sehen die Autoren eingeschränkte Reaktionsmöglichkeiten aufgrund einer möglichen Gefährdung des Bündniszusammenhalts, wegen des politischen Drucks im Inland und der Eskalationsrisiken. Um die Glaubwürdigkeit von Artikel 5 des NATO-Vertrags zu bewahren, tauchen Fragen nach der Proportionalität der eigenen Reaktionen auf. Das gilt für einen erforderlichen Schlag innerhalb Russlands oder Zerstörungen, die denen des russischen Angriffs gleichwertig sind, und zwar nicht nur mit Blick auf die russische Perzeption, sondern auch diejenige Chinas und möglicher künftiger Gegner. Zugleich müssen amerikanische Entscheider die Haltung mehrerer direkt betroffener Bündnisstaaten berücksichtigen. Die Autoren empfehlen eine Reaktion gegen russische Kräfte in der Ukraine, um die Eskalationsrisiken zu mindern. Die USA könnten damit ein klares Signal ihrer Zurückhaltung aussenden. Um eine Eskalation in den nuklearen Schlagabtausch zu vermeiden, sollten die USA darauf verzichten, russische Führungseinrichtungen oder Frühwarnradareinrichtungen anzugreifen.
Abschließend betonen die Autoren noch einmal ihr Bestreben, nur konventionelle Angriffe und eigene Reaktionen zu bewerten. Die im Raum stehende nukleare Reaktion Russlands auf die westliche Antwort unterstreicht die Tragweite politischer wie militärischer Aktionen zur Vermeidung weiterer Eskalationen.
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© 2023 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von De Gruyter.
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