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Editorial

Published/Copyright: June 7, 2023

Diese Ausgabe hat zum Schwerpunkt die Verletzlichkeit kritischer Infrastruktur und die Abhängigkeit Deutschlands und anderer Nationen von externen Ressourcen (Energie, Rohstoffe). Lange war das kein Thema. Globale Märkte schienen alle Versorgungsprobleme zu lösen und in Deutschland verbreiteten Politik und Industrie die – irrige – Vorstellung, man hätte mit Russland einen sicheren Bezugspartner gewonnen. Es gab nur wenige Experten, die auf Verwundbarkeiten von kritischer Infrastruktur und die fatalen Folgen einer zu hohen Abhängigkeit von Russland bei Energieimporten verwiesen. Auf sie wurde nicht gehört. Nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine und der sich abzeichnenden kritischen Lage in Ostasien, wo China immer stärker auf die Einverleibung Taiwans drängt, müssen die Energie- und Rohstoffversorgung sowie der Schutz kritischer Infrastruktur mit anderen Augen gesehen werden. Hier bestehen beträchtliche geopolitische Risiken, die es zu benennen und anzugehen gilt. Das vorliegende Heft versucht, einige der relevanten Fragen aufzugreifen.

Der Aufsatz von Frank Umbach setzt sich kritisch mit der Erwartung auseinander, die Dekarbonisierung von Wirtschaft, Verkehr und sonstigem Energieverbrauch werde zu einer Abnahme geostrategisch relevanter Abhängigkeiten führen. Vielmehr dürften infolge des Übergangs neue geopolitische Instabilitäten entstehen, möglicherweise sogar herausforderndere als die des fossilen Zeitalters. Erneuerbare Energien könne man zwar als heimische Energiequellen ansehen, die die Abhängigkeiten von fossilen Rohstoffimporten verringern. Doch entstünden mit dem Ausbau der Erneuerbaren Energien und der Umsetzung der Ziele des European Green Deal zahlreiche neue Sicherheitsherausforderungen. Dazu gehörten die absehbar hohen Importabhängigkeiten bei Wasserstoff und kritischen Rohstoffen entlang neuer Liefer- und Wertschöpfungsketten. Auch die Digitalisierung der Energiewelt gehe mit großen Risiken und Verwundbarkeiten im Bereich kritischer (Energie-)Infrastrukturen einher. Staaten, die bislang beim Export fossiler Energieträger führend waren, könnten wegen des Wegfalls ihrer Exporterlöse zu Quellen geopolitischer Unruhe werden. In der Energiepolitik werde es darauf ankommen, eine ausgewogene Mischung aus global gehandelten, heimischen fossilen und Erneuerbaren Energien sowie Wasserstoff für den kritischen Energieübergang zu finden. Eine vollständige „strategische Autonomie“ sei weder realistisch noch wünschenswert, aber eine Diversifizierung der Lieferungen und Einfuhren von kritischen Rohstoffen und Wasserstoff (Ammoniak) geboten. Diese Diversifizierung müsse auch den Ausbau der inländischen Bergbau-, Verarbeitungs- und Raffineriekapazitäten in Europa zur Reduzierung der EU-Importe und unerwünschter geopolitischer Abhängigkeiten umfassen.

Der Artikel von Jakob Kullik, Jens Gutzmer und Ludwig Gramlich befasst sich mit dem Problem der kritischen Rohstoffe, die Frank Umbach angesprochen hat. Die Verfasser gehen der Frage nach, ob eine zu schaffende EU-Rohstoffagentur ein sinnvolles Instrument für die europäische Rohstoffsicherheit darstellen würde. Grundlegende Voraussetzung sei ein Verständnis europäischer Rohstoffsicherheit und welche Anknüpfungspunkte sich daraus für Nutzen und Mehrwert einer solchen EU-Institution ergeben. Anhand eines Idealmodells werden der mögliche Handlungsauftrag, die organisatorische Verfasstheit, das rechtliche Mandat und die finanzielle Mittelausstattung dargestellt und nach etwaigen Vor- und Nachteilen, Zielkonflikten und Umsetzungsherausforderungen bewertet. Da letztlich die Politik über die Sinnhaftigkeit und den Nutzen einer EU-Rohstoffagentur zu entscheiden habe, versteht sich dieser Beitrag als offener Impuls und hypothetische Vorüberlegung in der aktuellen Debatte über Europas multiple Rohstoffherausforderungen.

Der Beitrag von Heiko Borchert, Tim Rühlig und Valentin Weber befasst sich mit der Modernisierung und Digitalisierung von Überseehäfen als kritischer Infrastruktur unter Bedingungen geopolitischer Rivalitäten. Sie fordern, dass Überseehäfen in sogenannte Smart Ports transformiert werden. Dadurch könnten Lieferketten optimiert, Prosperität gefördert und Resilienz gestärkt werden. Sie ermöglichten auch tiefe Einblicke in Lieferbeziehungen und wirtschaftliche Abhängigkeiten. Smart Ports ermöglichten „kompetitive Kollaboration“, indem sie unterschiedliche, miteinander auch im Wettbewerb stehende Akteure vernetzen und integrieren. Dieses Vorhaben stelle im aktuellen geoökonomischen Umfeld eine hohe Herausforderung dar, insbesondere, wenn ordnungspolitische Wettbewerber eingebunden werden sollen. Deutschlands Wirtschaftskraft sei von maritimem Transport abhängig, trotzdem habe das Thema Smart Ports Berlins internationale Politik bislang kaum beeinflusst. Der Beitrag entwickelt in einem 5-Punkte-Plan einen deutschen Smart-Ports-Ansatz, um dieses dynamische Handlungsfeld aktiv mitgestalten zu können.

Der Beitrag von Julian Pawlak befasst sich mit dem Schutz maritimer Infrastruktur. Deutschland und der Westen stünden vor der Herausforderung, ihre maritimen kritischen Infrastrukturen gegen Angriffe abzusichern. Lösungsansätze für diesen Schutz lassen sich identifizieren im Rahmen von notwendiger Resilienz, ausreichend Redundanzen und übergreifender Zusammenarbeit verschiedener Stakeholder. Um erfolgreich zu sein, sollten solche Kooperationen über Staaten und ihre Streitkräfte hinausgehen und privatwirtschaftliche Akteure einbeziehen. Aus strategischem Blickwinkel zeige sich, dass der Schutz maritimer kritischer Infrastrukturen als Teil effektiver Abschreckung anzusehen ist. Der Schutz maritimer Infrastruktur unter Wasser ist auch im Besprechungsteil ein Thema.

Unter den Kurzanalysen befassen sich zwei Beiträge mit regionalen Konfliktfeldern. Der eine stellt Ergebnisse einer Studie des ISPK zu den Aussichten für Kriege im Nahen Osten vor. Dort gehe nach Ansicht der meisten Beobachter die größte Gefahr für Stabilität und Sicherheit derzeit vom Iran aus. Es werden zwei Konfliktlinien behandelt: erstens der Konflikt zwischen Israel und dem Iran über das Atomprogramm Teherans, zweitens der Konflikt zwischen dem Iran und Saudi-Arabien sowie den anderen Staaten der arabischen Halbinsel. Während der Konflikt zwischen dem Iran und seinen arabischen Nachbarn nicht das Potenzial zu größeren Eskalationen habe, berge das iranische Kernwaffenprogramm extreme Gefahren. Je näher der Iran seinem Ziel der Nuklearwaffenproduktion käme, umso größer werde die Bereitschaft Israels, entweder zusammen mit den USA oder auch allein, die Fundamente des iranischen Programms mit militärischen Mitteln zu zerstören. Unterschiedliche Szenarien zeigen auf, wie derartige Auseinandersetzungen sich entwickeln können.

Die Analyse von Maximilian Ernst befasst sich mit Südkoreas Entscheidung, das amerikanische Raketenabwehrsystem THAAD trotz massiver chinesischer Sanktionen aufstellen zu lassen. Nordkoreas wachsende Produktion von Kurz-, Mittel-, und Interkontinentalraketen sowie seine nachweislichen Technologiefortschritte auf diesem Gebiet zwischen 2012 und Frühjahr 2016 hätten bewirkt, dass Seoul mit den USA über die THAAD-Stationierung verhandelte. In Chinas Augen war die Stationierung dieses Systems, das seine nukleare Abschreckung schwächen würde, eine von den USA orchestrierte und zusammen mit Südkorea durchgeführte Aktion. Da chinesische Strategen Seoul als das schwächere Glied identifizierten, richteten sich Chinas informelle Sanktionen gegen Südkorea. Südkorea erwies sich als erstaunlich resilient gegenüber den Sanktionen und nach Aufstellung der THAAD-Systeme (die von den USA bezahlt und betrieben werden) stellte Peking die Sanktionen ein. Das Szenario der THAAD-Stationierung in Südkorea 2016–2017 zeige, dass kleinere Staaten selbst im Kontext des sino-amerikanischen Großmachtwettbewerbs ihr nationales Interesse durchsetzen können.

Der Krieg in der Ukraine bleibt weiterhin Gegenstand von Artikeln in SIRIUS. Der Kommentar von Joachim Krause nimmt die Frage auf, was man am besten unternehmen solle, um einen neuen Weltkrieg zu vermeiden. Zwar sei es richtig, Eskalationsrisiken zu berücksichtigen, doch lägen die möglicherweise größeren Risiken eines umfassenderen Kriegs (Weltkriegs) woanders. Dieses Thema greift auch die Besprechung eines Buchs aus den 60er-Jahren auf (Bücher von gestern – heute gelesen), indem sie auf Parallelen zwischen heute und den Jahren 1939–1941 hinweist. Unter den Besprechungen internationaler strategischer Studien beschäftigen sich mehrere mit den Lehren aus dem Krieg (und auch den Eskalationsgefahren). Drei Besprechungen wenden sich Analysen zu, die die Effektivität westlicher Sanktionen gegen Russland untersuchen.

Bei den Buchbesprechungen werden die Bücher von Michael Thuman „Revanche. Wie Putin das bedrohlichste Regime der Welt geschaffen hat“ und von Thomas Urban „Verstellter Blick. Die deutsche Ostpolitik“ vorgestellt. Zudem werden die Erinnerungen eines früheren BND-Agenten rezensiert sowie die Ausführungen des deutsch-iranisch-israelischen Autors Arye Sharuz Shalicar über die Annäherung zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarstaaten. Den Abschluss bildet die Besprechung von Michael Pauls jüngster Publikation über die politische Entwicklung in der Arktis.

Wir wünschen unseren Leserinnen und Lesern eine anregende Lektüre.

Die Herausgeber

Published Online: 2023-06-07
Published in Print: 2023-06-05

© 2023 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von De Gruyter.

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz.

Articles in the same Issue

  1. Titelseiten
  2. Editorial
  3. Editorial
  4. Aufsätze
  5. Energiesicherheit unter Bedingungen der Dekarbonisierung von Wirtschaft und Verkehr
  6. Eine EU-Rohstoffagentur – Sinnvolles Instrument für die europäische Rohstoffsicherheit?
  7. Toxische Türöffner – Smart Ports als geoökonomisches Handlungsfeld
  8. Der Schutz maritimer kritischer Infrastrukturen und das Konzept der Abschreckung
  9. Kurzanalysen
  10. Unruhefaktor Iran – Welche Kriegsrisiken bestehen im Nahen Osten?
  11. Der Disput über das Raketenabwehrsystem THAAD in Südkorea – Wie Seoul seine nationalen Interessen im Kontext des sino-amerikanischen strategischen Wettbewerbs verfolgte
  12. Kommentar
  13. Den Weltkrieg vermeiden – aber welchen?
  14. Ergebnisse internationaler strategischer Studien
  15. Kritische Infrastruktur
  16. Ferdinand Alexander Gehringer: Unterseekabel als Kritische Infrastruktur und geopolitisches Machtinstrument. Berlin: Konrad-Adenauer-Stiftung, Dezember 2022
  17. Ukraine-Krieg
  18. Seth G. Jones/Riley McCabe/Alexander Palmer: Ukrainian Innovation in a War of Attrition. Washington, D.C.: Center for Strategic and International Studies (CSIS), Februar 2023
  19. Seth G. Jones: Empty Bins in a Wartime Environment. The Challenge to the U.S. Defense Industrial Base. Washington, D.C.: Center for Strategic and International Studies (CSIS), Januar 2023
  20. Bryan Frederick/Samuel Charap/Karl P. Mueller: Responding to a Limited Russian Attack on NATO during the Ukraine War, a perspective. Santa Monica, Cal.: The RAND Corporation, Dezember 2022
  21. Samuel Charap/Miranda Priebe: Avoiding a Long War. U.S. Policy and the Trajectory of the Russia-Ukraine Conflict. Santa Monica, Cal.: The RAND Corporation, Januar 2023
  22. Wirksamkeit von Sanktionen gegen Russland
  23. Gerard DiPippo/Andrea Leonard Palazzi: Bearing the Brunt. The Impact of the Sanctions on Russia’s Economy and Lessons for the Use of Sanctions on China. Washington, D.C.: Center for Strategic and International Studies (CSIS), Februar 2023
  24. Maria Snegovaya/Tina Dolbaia/Nick Fenton/Max Bergmann: Russia Sanctions at One Year. Learning from the Cases of South Africa and Iran. Washington, D.C.: Center for Strategic and International Studies (CSIS), Februar 2023
  25. Andrew David/Sarah Stewart/Meagan Reid/Dmitri Alperovitch: Russia Shifting Import Sources Amid U.S. and Allied Export Restrictions. Washington, D.C.: Silverado Policy Accelerator, Januar 2023
  26. Buchbesprechungen
  27. Michael Thumann: Revanche. Wie Putin das bedrohlichste Regime der Welt geschaffen hat. München: C.H.Beck 2023, 288 Seiten
  28. Thomas Urban: Verstellter Blick. Die Deutsche Ostpolitik. 2. Auflage. Berlin: edition.fotoTAPETA_Flugschrift 2022, 191 Seiten.
  29. Gerhard Conrad/Martin Specht: Keine Lizenz zum Töten. 30 Jahre als BND-Mann und Geheimdiplomat. Berlin: Econ/Ullstein Buchverlage 2022, 320 Seiten
  30. Arye Sharuz Shalicar: Schalom Habibi. Zeitenwende für jüdisch-muslimische Freundschaft und Frieden. Leipzig: Hentrich & Hentrich 2022, 162 Seiten
  31. Michael Paul: Der Kampf um den Nordpol. Die Arktis, der Klimawandel und die Rivalität der Großmächte, Freiburg: Herder 2022, 286 Seiten
  32. Bücher von gestern – heute gelesen
  33. Hans L. Trefousse: Germany and American Neutrality, 1939–1941. New York: Octagon Books 1969, 247 Seiten
  34. Bildnachweise
Downloaded on 28.11.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/sirius-2023-2001/html
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