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Marie-Agnes Strack-Zimmermann: Streitbar. Was Deutschland jetzt lernen muss. München: dtv Verlagsgesellschaft 2022, 134 Seiten

  • Jakob Kullik

    Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand der Politikwissenschaft

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Published/Copyright: April 4, 2023

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Strack-Zimmermann Marie-Agnes Streitbar. Was Deutschland jetzt lernen muss München dtv Verlagsgesellschaft 2022 1 134


Zeitenwende avancierte zum politischen Wort des Jahres 2022. Die meisten Bürger verbinden damit wohl zuvorderst eine besser ausgerüstete Bundeswehr und ein stärkeres Engagement Deutschlands in der Welt. Doch es geht um weit mehr als nur Militär und Sicherheitspolitik. Wie weit gefasst die eingeleitete Zeitenwende eigentlich ist beziehungsweise sein sollte, macht die FDP-Bundestagspolitikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann in ihrem Buch „Streitbar. Was Deutschland jetzt lernen muss“ deutlich. Auf 130 Seiten entfaltet die Verteidigungspolitikerin die wesentlichen Überlegungen und Argumente zur Lage und den Herausforderungen, denen sich Deutschland derzeit und künftig zu stellen hat. Deutschland begreift sie hierbei nicht abstrakt als die Bundesregierung und irgendwelche mit Sicherheitsaufgaben betraute Behörden. Gemeint ist die gesamte Gesellschaft. Und das, was auf dem Spiel stehe, sei nichts Geringeres als die langfristige und konsequente Verteidigung der normativen Fundamente unserer freien Gesellschaft. Kurzum: es geht um Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Sicherheit und wie alles miteinander zusammenhängt. Die Anfangssätze im ersten Kapitel („Was auf dem Spiel steht“) zeigen Strack-Zimmermanns klaren Wertekompass: „Ich erlebe jeden Tag, wie sehr sich Menschen nicht nur in ihrem Blick auf die Welt unterscheiden, sondern auch darin, was sie zur Priorität ihres politischen Denkens machen. […] Das Ringen um das bessere Argument und die richtige Antwort ist eine tägliche Herausforderung, die wir fair angehen müssen. Aber es gibt einige wenige, ganz wesentliche Positionen, die sich der politischen Debatte entziehen. Sie sind nicht verhandelbar […]“ (S. 11). Dies zu erwähnen mag eine Binse sein. Doch die Ablehnung eines blutleeren Werterelativismus und das streitbare (so der Titel des Buchs) Eintreten für den Grundrechtskatalog bilden überhaupt erst die Grundlage für ein selbstbewusstes Handeln des Staates und jedes Einzelnen nach Innen und Außen. In einer Zeit großer Verunsicherung und schneller Veränderungen ist dieses einleitende wertebasierte Einnorden nachvollziehbar und für eine liberale Politikerin und die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Deutschen Bundestag nur konsequent. Allerdings ergeben sich hier schon die ersten Fragen, wenn die Autorin etwa schreibt: „Vor allem aber müssen wir uns mental darauf einstellen, streitbar zu sein: bereit zu sein, unsere Werte zu verteidigen“ (S. 109). Also eine doppelte Zeitenwende im Denken und der Einstellung. Diese nicht selten gehörte Forderung von Politikern und Sicherheitsfachleuten ist zwar in der Sache zutreffend, aber für die ganze Gesellschaft wohl eher ein frommer Wunsch – bislang zumindest. Nachvollziehbar und geboten ist auch Strack-Zimmermanns Wunsch nach einem besseren Verständnis globaler Zusammenhänge in der Gesellschaft: „Es ist wichtig zu verstehen, dass uns vieles von dem angeht, was im Rest der Welt passiert. Nicht, weil wir alle Probleme lösen könnten, nicht, um Weltpolizei zu spielen, sondern weil wir mittelbar betroffen sind von vielen Entwicklungen, auch wenn sie weit entfernt stattfinden mögen“ (S. 112). Ein vernetztes Verständnis der internationalen Zusammenhänge ist in einer weiterhin in Nationalstaaten organisierten Welt jedoch nur schwer und langfristig erreichbar.

In drei weiteren Kapiteln stellt die Autorin „Deutschlands Lage“ (Kapitel 2), „Deutschlands Aufgaben“ (Kapitel 3) und Felder vor, auf denen sich etwas ändern müsse (Kapitel 4). Diese Darstellungen sind allesamt recht knapp gehalten und auf die wesentlichen Bedrohungen (wie etwa Russland, China, Cyber-Angriffe, wirtschaftliche Abhängigkeiten) beschränkt. Interessant sind die Ausführungen zur geopolitischen und gesellschaftlichen Lage Deutschlands. Hier fallen starke Sätze wie: „Sich größtenteils auf Russland verlassen zu haben und allen Warnungen zum Trotz bis zum letzten Tag an Nord Stream 2 festzuhalten, war ein unverzeihlicher Fehler der letzten Bundesregierung. […] [I]n eine derartige Abhängigkeit zu geraten, besonders in Fragen der Grundversorgung, ist bemerkenswert verantwortungslos und grenzenlos naiv“ (S. 22). Man mag dies so sehen, nur stellt sich an dieser Stelle der Rezensent die Frage, wo denn über die Jahre die warnenden Stimmen der wirtschaftsnahen FDP waren, wenn es um Deutschlands Abhängigkeiten ging? Von 2009 bis 2013 waren die Liberalen Teil der damaligen Bundesregierung und stellten den Wirtschaftsminister, der rückblickend keine grundlegenden Weichenstellungen für Unabhängigkeit von Russlands Energielieferungen einleitete. Diese fehlende Selbstkritik an ihrer Partei ist ein argumentativer Schwachpunkt. Eine weitere starke Aussage: „Es geht darum, jederzeit handlungsfähig zu bleiben“ (ebd.). Jederzeit handlungsfähig bleiben – really? Das setzt voraus, dass man überhaupt erst einmal handlungsfähig ist und das auch bleiben will und kann. Und wer ist damit gemeint: der Staat, die Gesellschaft, beide zusammen? Wann beginnt Handlungsfähigkeit und wann muss von Handlungsunfähigkeit gesprochen werden? So überzeugend solche Sätze klingen, so schal sind sie, wenn man weiter darüber nachdenkt und Konkretes nachlesen möchte. Denn dazu kommt nicht immer etwas. Strack-Zimmermann liegt bei vielen Punkten oberflächlich richtig. Was fehlt, sind weiter- und tiefergehende Ausführungen, wie die ganzen Forderungen und Wünsche denn tatsächlich umgesetzt werden sollen – und wie man sie bezahlt.

Ihre strategischen Überlegungen für Deutschland und die EU sind zwar ebenfalls vage, aber im Kern zutreffend: „Insgesamt müssen wir daher große Aufmerksamkeit auf die Staaten in unserer Nachbarschaft legen, die bisher keinem westlichen Bündnis angehören, denn die Beistandsklauseln der NATO und der EU sind für viele der einzig wirksame Schutz gegen die russische militärische Aggression“ (S. 32). „Auch im zivilen politischen Bereich müssen wir feststellen: Wenn der Westen, wenn Europa, wenn wir ein Land nicht unterstützen, dann tun es andere. An der Spitze China“ (S. 26). Beides trifft zu und ist seit Jahren bekannt. Dies wiederholt festzustellen und eine entsprechende strategische Anpassung einzufordern, ist nicht verkehrt. Implizit ist es jedoch das Eingeständnis, dass viel zu lange nichts oder zu wenig dafür beziehungsweise dagegen unternommen wurde. Trotz aller politischen Selbstblockaden und operativen Fähigkeitslücken sei Deutschland dennoch ein globaler Spieler, meint Strack-Zimmermann. Dabei dürfe Europas führende Wirtschaftsmacht gern auch einmal politisch und sicherheitspolitisch vorangehen – zwar stets im Bündnis, doch auch ein Bündnis braucht Taktgeber. Am Beispiel der Waffenlieferungen an die Ukraine verdeutlicht sie, dass das Bild des Gleichschritts im Bündnis unzutreffend sei. Deutsche Initiativen sind durchaus gewünscht und notwendig. Wer, wenn nicht die wirtschaftlich potente Bundesrepublik, wäre in der Lage, auch einmal Tatsachen zu schaffen, an denen sich die Verbündeten orientieren können? Diese Verweigerungshaltung der Bundesregierung, die Strack-Zimmermann kritisiert, kann man getrost als sicherheitspolitisches Duckmäusertum bezeichnen. Erfrischend ist, dass diese Kritik von der führenden Verteidigungspolitikerin des Landes (neben der damaligen Bundesverteidigungsministerin) noch während ihrer aktiven Amtszeit ausgesprochen wird.

Das Büchlein endet mit einem Appell, in dem nochmals der große historische Bogen gespannt wird: „Es ist Zeit, auch aus Respekt den Staaten gegenüber, die an uns jahrzehntelang geglaubt und uns unterstützt haben, Verantwortung zu übernehmen und den Werten der freien Welt entsprechend zu führen“ (S. 133). Oder um die Gesamtessenz des Buchs in weniger pathetischen Worten zu formulieren: Deutschland, fang endlich an, an dich zu glauben, übernimm Verantwortung und handle – es ist höchste Zeit! Strack-Zimmermanns Buch kommt daher zur rechten Zeit. Es ist flüssig geschrieben und richtet sich an eine breite Leserschaft, die an sicherheitspolitischen Grundsatzfragen interessiert ist. Nimmt man alle dringlichen Forderungen zusammen, hätte das Buch eigentlich nicht „Streitbar. Was Deutschland jetzt lernen muss“ heißen müssen, sondern vielmehr „Streitfähig. Was Deutschland jetzt tun muss“. Aber vielleicht wäre das der Titel für die Fortsetzung.

About the author

Jakob Kullik

Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand der Politikwissenschaft

Published Online: 2023-04-04
Published in Print: 2023-03-30

© 2023 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von De Gruyter.

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