Home Susan L. Shirk: Overreach. How China Derailed Its Peaceful Rise. Oxford und New York: Oxford University Press 2022, 424 Seiten
Article Open Access

Susan L. Shirk: Overreach. How China Derailed Its Peaceful Rise. Oxford und New York: Oxford University Press 2022, 424 Seiten

  • Heinz Dieter Jopp

    Autor

    EMAIL logo
Published/Copyright: April 4, 2023

Reviewed Publication:

Shirk Susan L. Overreach. How China Derailed Its Peaceful Rise Oxford und New York Oxford University Press 2022 1 424


Susan Shirk, Lehrstuhlinhaberin des 21st Century China Center an der Universität von Kalifornien in San Diego, setzt schon mit ihrer Widmung des vorliegenden Buches ein deutliches Zeichen des Unterschieds zu der inzwischen kaum noch überschaubaren (wissenschaftlichen) Literatur zu China: „To my Chinese friends and colleagues who helped me understand their country.“ Damit ist sie in der Lage, Veränderungen in China und der Machtverhältnisse innerhalb der Kommunistischen Partei Chinas von Mao bis Xi Jinping näher zu durchleuchten und diese Black Box zu durchdringen. Eine Arbeit, die 2008 begann, hat hiermit ein – wie der Leser bei der Lektüre feststellen wird – bemerkenswertes vorläufiges Ende gefunden.

Bereits im Prolog „How China lost the West“ legt sie dar, wie sie zu ihrer Einschätzung und somit auch Neufestlegung des Buchtitels gelangt ist. 40 Jahre erfolgreiche wirtschaftliche und wissenschaftliche Zusammenarbeit zwischen den USA und China sind einer Konkurrenz gewichen, die nun von gegenseitigem Misstrauen, Wirtschafts- und Technologiekrieg und wachsendem militärischen Muskelspiel geprägt wird. Während viele Experten diese Entwicklung auf die Regierungszeit von Trump und Xi Jinping zurückführen, führt Shirk aus, dass China sich bereits unter Xis Vorgänger Hu Jintao (20022012) übernommen hat und dies seit Xi lediglich stärker sichtbar wird.

Im ersten Kapitel geht sie auf die Ursprünge des schrittweisen Sich-Übernehmens in drei Bereichen ein: Wirtschaft, soziale Kontrolle und Außenpolitik. In der Wirtschaft begann es 2006 mit dem staatlichen Beschluss zum Aufbau einer Hochtechnologie-Macht. Vor Beginn der Olympischen Spiele 2008 setzten verstärkte Kontrollen über Medien, Internet und Gesellschaft ein. Parallel wurde die Außenpolitik und deren Sprache angriffslustiger und selbstbewusster. Dies alles ereignete sich unter der Regierung von Hu. Neben den Aufständen in Tibet und von muslimischen Uiguren in Xingjiang weitete sich der Streit um das Südchinesische Meer aus und wurde zum wichtigen Interesse (core interest) für die VR China erklärt. Die Autorin zeigt die kleinen und großen Schritte chinesischer Politik auf, die dreißig Jahre wachsenden Wohlstand und Kooperation mit einer globalen Welt unter Deng Xiaoping, Jiang Zemin und Hu Jintao beendeten, um zu einer neuen Diktatur unter Xi Jingping zu führen.

Im zweiten Kapitel beleuchtet sie die Hintergründe für die Rücknahme der Reformen von Deng, wie etwa die Abkehr von zentraler Planung, den Übergang zu Marktwettbewerb, die Öffnung der eigenen Wirtschaft für Internationalen Handel und für ausländisches Investment. Man fragt sich, wieso es Xi Jinping so leicht fiel, die Reformen zurückzudrehen und zu einer Politik des starken Mannes wie unter Mao zurückzukehren. Zur Erläuterung versucht Shirk im Folgekapitel, die „Black Box“ des chinesischen politischen Systems zu durchdringen und für Außenstehende zu erhellen. Es wird erkennbar, wie die Nachfolge der politischen Führungen im System der Kommunistischen Partei über Jahre erfolgt. Es gibt dazu weder einen verfassungsrechtlichen noch sonstigen rechtlichen Rahmen. Die Bürger werden einem System unterworfen, das von Günstlingen und Zöglingen geprägt wird. Für Außenstehende bleibt es undurchschaubar und kaum berechenbar. Wie sehr dies im Ausland Chinas Glaubwürdigkeit schadet, wurde wiederholt deutlich, zuletzt durch die Handhabung der in Wuhan ausgebrochenen COVID-19 Pandemie.

Xi hat somit nichts aus dem Fehlern der kollektiven Führerschaft seiner Vorgänger und deren Umgang mit dem Severe Acute Respiratory Syndrome (SARS) gelernt. Während Hu aufgrund seiner Erfahrungen aus jener Zeit für mehr Offenheit im Umgang mit COVID plädierte, verschärfte Xi die Gesundheitskrise, um Geheimhaltung und totale staatliche Kontrolle zu sichern. Auch wirtschaftliche Freizügigkeit, die zu einer wachsenden Mittelschicht von 35 Prozent der Bevölkerung in 2008 führte, wurde im Jahr der Olympiade zugunsten eines staatlichen Dirigismus verändert, als China feststellte, dass es mit seinem System und seinen Finanzspritzen die globale Finanzkrise wesentlich besser meisterte als viele andere, gerade auch westliche Staaten. Schon damals – also lange vor Xi – änderte sich auch der Umgangston in der Außenpolitik, somit vor der sogenannten Wolf Warrior Diplomacy unter Xi. Unter Hu entstanden Oligarchien, es galt nicht mehr der Konsens der Partei, sondern der Konsens von Interessengruppen.

Bereits ab 2006 fand in dieser Umbruchzeit auch eine Veränderung der core interests im regionalen Raum mit den benachbarten Staaten statt. Interessengruppen erklärten das Südchinesische Meer zur historisch angestammten Einflusssphäre Chinas und begründeten das Recht auf deren Verteidigung. Das wurde anfänglich mit den weißen Schiffen der Chinesischen Küstenwache und Fischereibooten der maritimen Miliz durchzusetzen versucht. Spätestens mit dem Parteitagsbeschluss von 2012 und Hus Erklärung, dass China eine maritime Macht werden wolle, folgten der beschleunigte Aufbau, Ausbau und Einsatz der Chinesischen Volksmarine (PLAN). Andrew Erickson vom Naval War College in den USA beschreibt dies als einziges Beispiel in der modernen Geschichte, in der eine Landmacht erfolgreich zur Seemacht wurde.

Im Kapitel „Verlust der Zurückhaltung“ analysiert Shirk Beginn und Verstärkung des politischen und militärischen Muskelspiels mit Brunei, Malaysia, den Philippinen, Taiwan und Vietnam um überlappende Interessen in Wirtschaftszonen und auf Inseln. Gegen sein 2002 mit der ASEAN abgeschlossenes Übereinkommen über einen Verhaltenskodex zur friedlichen Nutzung des Südchinesischen Meeres hat China nach 2009 bewusst immer wieder verstoßen. Parallel begann der Widerstand gegen die USA und ihre Marine. Auch die Krise um Taiwan verschärfte sich bereits unter der Präsidentschaft von Hu.

Es folgen Betrachtungen zur Aufrechterhaltung wirtschaftlicher und politischer Stabilität. Im Kapitel „Strongman Rule“ folgen Ausführungen zum Aufstieg Xi Jinpings, zur Beseitigung unliebsamer Konkurrenten in der Partei, aber auch in der Wirtschaft sowie zur Entwicklung eines Persönlichkeitskults, der nur dem von Mao vergleichbar ist. Xi ließ die Verfassung ändern, um lebenslang Parteiführer und Präsident zu bleiben. Sein Missmanagement der COVID-Krise konnte er anderen in die Schuhe schieben. Seine Null-COVID-Strategie führte jedoch 2022 zu unerwarteten Protesten der Bevölkerung, deren Ausgang bis dato nicht vorhersehbar scheint.

Im Kapitel „Going to Extremes“ wird deutlich, dass Xi den Weltmachtstatus und das Überholen der USA anstrebt, wirtschaftlich, technologisch und militärisch. Für Außenstehende sind seine Absichten und Ziele nicht erkennbar, sodass man Folgeaktionen schwer vorhersehen kann. Sein Umfeld vermeidet aus Angst vor persönlichen Konsequenzen oftmals, Xi die Realität darzustellen. Xi reformierte die Streitkräfte, baute die Küstenwache zur weltweiten größten ihrer Art aus, saß die unerwartete Entscheidung des internationalen Schiedsgerichtshofs zu Ansprüchen im Südchinesischen Meer aus und begann Staaten, die sich gegen chinesische Sichtweisen stellten, politisch und wirtschaftlich abzustrafen.

Es folgt eine Bewertung der 2017 von Xi gestarteten One Belt one Road-Initiative, die einerseits das internationale Ansehen Chinas steigerte, andererseits aber manche Staaten in ungeahnte Verschuldungen stürzte. Deren öffentliche Hinweise auf chinesische Usancen führten zur Abstrafung durch Xi und seine Gefolgsleute.

Dem unter Hu bereits erkennbaren Verfolgungswahn gegen innere wie äußere Kräfte folgt in „State of Paranoia“ dessen drastische Steigerung seit Beginn der Machtübernahme durch Xi. Korruption und Widersprüche in den Führungsgremien führten zu deren Bekämpfung und Zentralisierung der Machtbefugnisse auf Xi. Bis zum 20. Volkskongress 2022 konnte er mehr Machtbefugnisse auf sich vereinen als seinerzeit Mao. In den Autonomieregionen wie Xinjiang entstanden Umerziehungslager, um letztlich eine Nation der Uiguren zu bilden, die für den Staat VR China passt. Die gegenüber Großbritannien zugesagte Autonomie für Hong Kong wurde binnen kurzer Zeit nahezu aufgehoben, Freiheits- und Demokratierechte drastisch reduziert und Proteste mit polizeilicher Gewalt unterdrückt. Die Freiheit der Medien geriet in freien Fall. 2021 erfolgte die Zerstörung der Privatwirtschaft durch staatliche Manipulation des Geldwerts. Spätestens mit den rigorosen Quarantäne-Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-Pandemie brach der Außenhandel ein, die Wirtschaft geriet in eine Rezension und das für 2022 ausgegebene Planungsziel von 5,5 % Wachstum konnte nicht mehr erreicht werden.

Der unter Präsident Donald Trump entfachte Wirtschafts- und Technologiekrieg mit den USA brachte Xi nicht die erhoffte Übernahme der Weltherrschaft ein. Shirk befürchtet, dass die Überkonzentration der Macht unter Xi in einen dritten Weltkrieg münden könnte. Nachbarstaaten, aber auch die USA sollten sich daher in ihren Äußerungen eher zurückhalten und nicht überreagieren. Wirtschaftliche Beziehungen Chinas mit 128 der 190 Staaten dieser Welt sollten den Gebrauch von Soft Power ermöglichen. Die Verfasserin macht daher in ihrer Zusammenfassung einige Vorschläge zur Moderation von derzeitigen Krisen und möglicher Deeskalation. Hierzu könnten gehören: Vereinbarung und Implementierung eines Verhaltenskodex im Südchinesischen Meer mit den ASEAN-Staaten, Abschluss eines regionalen Fischereiabkommens zur Vermeidung von Überfischung, Schließung der Umerziehungslager in Xinjiang, Stopp wirtschaftlicher Nötigung, Umsetzung der Belt and Road-Initiative mittels Wahrung internationaler Standards, offener Dialog mit der Regierung Taiwans und Durchführung einiger innerstaatlicher Reformen.

Den USA empfiehlt sie: weiteren Gebrauch von Diplomatie, realistische Haltung zu Menschenrechten, Gespräche mit Xi, Zusammenarbeit mit Verbündeten, Beibehaltung starker militärischer Präsenz unter Vermeidung eines Rüstungswettlaufs, Unbeugsamkeit in der Frage Taiwan, Vermeidung eines ideologischen kalten Kriegs und Beteiligung der chinesischen Bevölkerung. Dieses Buch kann zum Jahreswechsel 2022/2023 gerade auch für Europa und Deutschland wertvoll sein, um eine eigene Strategie zu entwickeln, die im künftigen Umgang mit China nicht auf Konfrontation setzt, sondern sich Möglichkeiten der Kooperation offenhält.

About the author

Heinz Dieter Jopp

Autor

Published Online: 2023-04-04
Published in Print: 2023-03-30

© 2023 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von De Gruyter.

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz.

Articles in the same Issue

  1. Titelseiten
  2. Editorial
  3. Editorial
  4. Aufsätze
  5. Historische Esoterik als Erkenntnismethode. Wie russische Pseudo-Wissenschaftler zu Moskaus antiwestlicher Wende beigetragen haben
  6. Russlands bataillonstaktische Gruppen in der operativen Planung und im taktischen Einsatz im Krieg um die Ukraine 2014 bis 2023
  7. Russlands neue Strategie im Ukraine Krieg – wo führt sie hin?
  8. Welche Friedenslösungen für den Russland-Ukraine-Krieg? Gedanken zu Strategien des Friedenschließens
  9. Vorbereitet auf die Zeitenwende?
  10. Kontrovers diskutiert
  11. Taugt die realistische Theorieschule zur Erklärung des russischen Kriegs gegen die Ukraine?
  12. Die Theorie zum Krieg? Klassischer Realismus, Strategie und Russlands Angriffskrieg
  13. Hintergrundinformationen
  14. Die Kriegsverluste Russlands und der Ukraine (Stand Ende Februar 2023)
  15. Wie viele Mittelstreckenwaffen kann Russland gegen die Ukraine einsetzen?
  16. Ergebnisse internationaler strategischer Studien
  17. Analysen zum Verlauf des Ukraine-Kriegs
  18. Mykhaylo Zabrodskyi/Jack Watling/Oleksandr V. Danylyuk/Nick Reynolds: Preliminary Lessons in Conventional Warfighting from Russia’s Invasion of Ukraine, February–July 2022. London: Royal United Services Institute (RUSI), November 2022
  19. Lieutenant Colonel Amos C. Fox: Reflections on Russia’s 2022 Invasion of Ukraine. Combined Arms Warfare, the Battalion Tactical Group and Wars in a Fishbowl. Washington, D.C.: Association of the United States Army (AUSA) Oktober 2022
  20. Justin Bronk with Nick Reynolds and Jack Watling: The Russian Air War and Ukrainian Requirements for Air Defence. London: Royal United Services Institute (RUSI), November 2022
  21. Jon Bateman: Russia’s Wartime Cyber Operations in Ukraine. Military Impacts, Influences, and Implications. Washington, D.C.: The Carnegie Endowment for International Peace, 2022
  22. Hlib Parfonov: Russia Struggles to Maintain Munition Stocks, Jamestown Foundation Eurasia Daily Monitor, 19 (180), und 19 (186), Dezember 2022
  23. Michael Kofman/Richard Connolly/Jeffrey Edmonds/Andrea Kendall-Taylor/Samuel Bendett: Assessing Russian State Capacity to Develop and Deploy Advanced Military Technology. Washington, D.C.: Center for a New American Security, Oktober 2022
  24. Russlands Grand-Strategy und Militärstrategie in Europa
  25. Samuel Charap/Dara Massicot/Miranda Priebe/Alyssa Demus/Clint Reach/Mark Stalczynski/Eugeniu Han/Lynn E. Davis: Russian Grand Strategy. Rhetoric and Reality. Santa Monica: The RAND Corporation 2021
  26. Clint Reach/Alexis A. Blanc/Edward Geist: Russian Military Strategy. Organizing Operations for the Initial Period of War. Santa Monica: Cal.: The RAND Corporation, April 2022
  27. Margarete Klein/Nils Holger Schreibe: Der Angriff auf die Ukraine und die Militarisierung der russischen Außen- und Innenpolitik. Stresstest für Militärreform und Regimelegitimation. Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, November 2022
  28. Aufgaben der NATO
  29. Stacie L. Pettyjohn/Becca Wasser: No I in Team. Integrated Deterrence with Allies and Partners. Washington, D.C.: Center for a New American Security (CNAS), Oktober 2022
  30. Buchbesprechungen
  31. Susan L. Shirk: Overreach. How China Derailed Its Peaceful Rise. Oxford und New York: Oxford University Press 2022, 424 Seiten
  32. Susanne Schröter: Global gescheitert? Der Westen zwischen Anmaßung und Selbsthass, Freiburg im Breisgau: Herder Verlag 2022, 234 Seiten
  33. Marie-Agnes Strack-Zimmermann: Streitbar. Was Deutschland jetzt lernen muss. München: dtv Verlagsgesellschaft 2022, 134 Seiten
  34. Bildnachweise
Downloaded on 23.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/sirius-2023-1021/html
Scroll to top button