Home Samuel Charap/Dara Massicot/Miranda Priebe/Alyssa Demus/Clint Reach/Mark Stalczynski/Eugeniu Han/Lynn E. Davis: Russian Grand Strategy. Rhetoric and Reality. Santa Monica: The RAND Corporation 2021
Article Open Access

Samuel Charap/Dara Massicot/Miranda Priebe/Alyssa Demus/Clint Reach/Mark Stalczynski/Eugeniu Han/Lynn E. Davis: Russian Grand Strategy. Rhetoric and Reality. Santa Monica: The RAND Corporation 2021

  • Maximilian Terhalle

    Non-Resident Fellow

Published/Copyright: April 4, 2023

Reviewed Publication:

Charap Samuel Massicot Dara Priebe Miranda Demus Alyssa Reach Clint Stalczynski Mark Han Eugeniu Davis Lynn E. Russian Grand Strategy. Rhetoric and Reality Santa Monica The RAND Corporation 2021


Die buchähnliche RAND-Studie von Samuel Charap et al. kann wegen ihres Erscheinens im Jahr 2021 nicht auf das aktuelle Kriegsgeschehen eingehen. Dafür unternimmt sie, was in der deutschen Diskussion seit der Krim-Annexion nicht geschehen ist (von wenigen und weitestgehend vernachlässigten Ausnahmen abgesehen): Sie versucht eine Analyse der russischen grand strategy, der Gesamtstrategie „[which] prioritizes a nation’s interests and describes its leaders’ beliefs about the threats to those interests – and the opportunities to advance those interests“. Während die hierzulande bemerkenswert selten rezipierte Grand-Strategy-Literatur westlicher Provenienz nicht ohne Grund einen defensiven Bias hat, liegt eine der Stärken der Arbeit von Charap et al. darin, zumindest implizit unter „a nation’s interests“ auch aggressive, revisionistische Zielsetzungen zu subsumieren. Deutsche Kritiker dieser von angelsächsischen (aber auch französischen, italienischen und nordischen) Wissenschaftlern vorangetriebenen Forschungsliteratur begehen meist den Kategorienfehler, die angebotenen Denkmodelle und die Ergebnisse praktischer Politik (z. B. Irak) gleichzusetzen.

Das Buch gliedert sich in zehn Kapitel. Nach dem konzisen Einführungskapitel fächern die Autoren im zweiten Kapitel das Konzept der Grand Strategy theoretisch, methodisch und praktisch auf. Im dritten, wichtigen Kapitel arbeiten sie durch umfassende Analyse offizieller russischer Dokumente, Statements von Führungspersönlichkeiten und von Experteninterviews (auf Russisch) die Konturen russischer Grand Strategy heraus. Dabei werden sechs Elemente herausgefiltert und in den Kapiteln vier bis neun jedes durchleuchtet. Hinsichtlich der Ukraine ist das fünfte Kapitel einschlägig. Das letzte Kapitel bietet Schlussfolgerungen für den interessierten Leser, strategischen Denker und Planer.

Wertvoll ist der Band in zweifacher Hinsicht. Zunächst gibt das zweite Kapitel geeignete konzeptionelle Hilfestellungen, die, systematisch angewendet, das Erkunden des fehlenden Mindsets hinter einer Zeitenwende erleichtern. Anders als viele Studien spürt diese Untersuchung strategisches Denken nicht nur in den Bürokratien der Ministerien auf. In erster Linie sucht sie in der Spitzenpolitik, bei den obersten Entscheidungsträgern nach strategischen Überlegungen. Dort, nicht in deutscher Ressortzuständigkeit, muss sich eine Gesamtlogik entwickeln, nach der die Kräfte und Instrumente eines Staates seinen vitalen Interessen dienen. Deshalb betonen die Autoren, dass Grand Strategy eben kein detaillierter Plan ist, sondern dass der Entwicklung dieser Logik eine strategische Denkweise vorausgeht, die die vitalen Interessen in einem unsicheren und dynamischen Umfeld gewährleisten hilft. Die praktische Grand Strategy oder Gesamtstrategie zeigt dann an, wie Spitzenentscheider tatsächlich über Veränderungen im internationalen Umfeld denken; die relevanten Dokumente müssen idealerweise die Kernannahmen aufzeigen, auf deren Basis ein Staat seine Prioritäten setzt und operative Entscheidungen fällt.

Im Fall Deutschland könnte man fragen: Was zeichnete Berlins Bedrohungswahrnehmung, zumal die nukleare aus, die andere Staaten wiederum wesentlich anders beurteilt haben? Und warum änderte sich diese Wahrnehmung fundamental im Januar 2023 und führte zur Panzerentscheidung? Kurz: Die Nennung der Grundannahmen schärft die argumentative Rechtfertigung der strategischen Ausrichtung auf die vitalen Interessen. Zuletzt und nicht weniger wichtig: Charap et al. betonen, dass Spitzenpolitiker in Zeiten großer Umbrüche und Unsicherheiten instinktiv auf lang eingespielte, vertraute geistige Referenzrahmen zurückgreifen. Bei Olaf Scholz war es gewiss intuitiv das Prinzip der Deeskalation. Die Autoren äußern sich an dieser Stelle allerdings nicht dazu, inwieweit das Meistern einer Krise, das Gewinnen eines Kriegs Führungswillen verlangt, um herausgeforderte vitale Interessen langfristig zu schützen. Ist doch die so genaue wie gewiefte Einschätzung von Risikobereitschaft und Weltsicht des geopolitischen Gegenübers, die beide auf Stärke beruhen, von fundamentaler Bedeutung. Ebenso fehlt die Erwähnung des zumindest in westlichen Politikkreisen rekurrierenden Phänomens des tief verwurzelten Unglaubens, das machtpolitische Gegenüber könnte die Wahl des Mittels Krieg realistisch sondieren.

Das fünfte Kapitel betrachtet, insbesondere mit Blick auf die Ukraine, Russlands Rolle als Führungsmacht in der angrenzenden Region. Sorgfältig zeichnen die Autoren die Entwicklung der russischen Einflussnahme seit 2012 nach, stets mit Verweis auf die nie unsichtbar gemachte militärische Komponente des Vorgehens seit 2014. Die bemerkenswert gut erkennbare Stationierung von zehn (im Text genau spezifizierten) Divisionen bis 2020 entziehen den bis zum Kriegsbeginn anhaltenden Zweifeln (Stichwort Unglauben, s. o.) an aggressiven russischen Intentionen ihre Grundlage. Und genauso wenig lassen die Autoren Zweifel daran, dass Russlands Aussagen Mitte 2018, die Neutralität der Ukraine zu akzeptieren, allein dazu dienten, Moskau Zeit zu erkaufen, um die Vorbereitungen für eine Invasion mehr in Ruhe vonstattengehen zu lassen. In diese Zeit gehörten auch die von Putin ungerührt weitergeführten Friedensgespräche mit Bundeskanzlerin Angela Merkel im Minsk 2-Format. Die Studie beschließt dieses Kapitel zunächst mit der Annahme, dass bis dahin trotz der systematischen Militarisierung der Grenzgebiete keine erfolgreiche imperiale Strategie, im Sinn der Durchsetzung der Ansprüche, erkennbar geworden war. Es überrascht zunächst, dass sie diese Nicht-Erreichung der imperialen Ziele nicht als politisch unbefriedigend für Putin bewertet. Charap et al. machen aber in ihrer Schlussbetrachtung (2021) hinreichend deutlich, dass sie, anders als Moskau damals vorgab, aus den Planungsdokumenten und weiter verstärkten Truppenstationierungen Russlands Willen ablesen, Großkriege als zentrale Kategorie russischen strategischen Denkens und Handelns zu begreifen.

Im Hinblick auf die Ukraine war/wäre der Grund mit gesundem Menschenverstand, auch deutschem, zu greifen (gewesen): Putin hatte auf nicht-kriegerischem Weg nicht erhalten, was er wollte. Seinen Umgang mit diesem für ihn unerträglichen Dilemma machte er im Februar 2022 unmissverständlich deutlich. Die Intention hätte man früher erkennen können, hätte man es gewollt. Und dass verstärkte diplomatische Bemühungen, das Ziel dennoch zu erreichen, nicht sein Mittel der Wahl sind, hätte man klarer sehen können.

Ein Makel dieser lesenswerten Arbeit besteht darin, dass sie die strategische Ausrichtung Russlands allein auf Amerika bezieht. Das ist bei RAND verständlich, verengt aber ungut den Blick, sodass wesentliche strategische Dimensionen außen vor bleiben. Insbesondere China bleibt außen vor. Eine amerikanisch-chinesische Auseinandersetzung wegen Taiwan, spätestens seit Xis Amtsantritt 2012 diskutiert, würde Russlands Rolle in Europa neu bestimmen. Umgekehrt müsste auch Amerika seinen Blick auf Europa neu schärfen. Und zuletzt übersehen die Autoren die NATO. Durch sie wird Europa geschützt. Zugleich aber fällt es den USA als Allianzführer verhältnismäßig leichter, gegen Russland aufzutreten, als Russland es vermag, das keine Verbündeten mit der Qualität von Artikel 5 der NATO hat.

https://www.rand.org/pubs/research_reports/RR4238.html

About the author

Prof. a. D. Dr. Maximilian Terhalle

Non-Resident Fellow

Published Online: 2023-04-04
Published in Print: 2023-03-30

© 2023 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von De Gruyter.

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz.

Articles in the same Issue

  1. Titelseiten
  2. Editorial
  3. Editorial
  4. Aufsätze
  5. Historische Esoterik als Erkenntnismethode. Wie russische Pseudo-Wissenschaftler zu Moskaus antiwestlicher Wende beigetragen haben
  6. Russlands bataillonstaktische Gruppen in der operativen Planung und im taktischen Einsatz im Krieg um die Ukraine 2014 bis 2023
  7. Russlands neue Strategie im Ukraine Krieg – wo führt sie hin?
  8. Welche Friedenslösungen für den Russland-Ukraine-Krieg? Gedanken zu Strategien des Friedenschließens
  9. Vorbereitet auf die Zeitenwende?
  10. Kontrovers diskutiert
  11. Taugt die realistische Theorieschule zur Erklärung des russischen Kriegs gegen die Ukraine?
  12. Die Theorie zum Krieg? Klassischer Realismus, Strategie und Russlands Angriffskrieg
  13. Hintergrundinformationen
  14. Die Kriegsverluste Russlands und der Ukraine (Stand Ende Februar 2023)
  15. Wie viele Mittelstreckenwaffen kann Russland gegen die Ukraine einsetzen?
  16. Ergebnisse internationaler strategischer Studien
  17. Analysen zum Verlauf des Ukraine-Kriegs
  18. Mykhaylo Zabrodskyi/Jack Watling/Oleksandr V. Danylyuk/Nick Reynolds: Preliminary Lessons in Conventional Warfighting from Russia’s Invasion of Ukraine, February–July 2022. London: Royal United Services Institute (RUSI), November 2022
  19. Lieutenant Colonel Amos C. Fox: Reflections on Russia’s 2022 Invasion of Ukraine. Combined Arms Warfare, the Battalion Tactical Group and Wars in a Fishbowl. Washington, D.C.: Association of the United States Army (AUSA) Oktober 2022
  20. Justin Bronk with Nick Reynolds and Jack Watling: The Russian Air War and Ukrainian Requirements for Air Defence. London: Royal United Services Institute (RUSI), November 2022
  21. Jon Bateman: Russia’s Wartime Cyber Operations in Ukraine. Military Impacts, Influences, and Implications. Washington, D.C.: The Carnegie Endowment for International Peace, 2022
  22. Hlib Parfonov: Russia Struggles to Maintain Munition Stocks, Jamestown Foundation Eurasia Daily Monitor, 19 (180), und 19 (186), Dezember 2022
  23. Michael Kofman/Richard Connolly/Jeffrey Edmonds/Andrea Kendall-Taylor/Samuel Bendett: Assessing Russian State Capacity to Develop and Deploy Advanced Military Technology. Washington, D.C.: Center for a New American Security, Oktober 2022
  24. Russlands Grand-Strategy und Militärstrategie in Europa
  25. Samuel Charap/Dara Massicot/Miranda Priebe/Alyssa Demus/Clint Reach/Mark Stalczynski/Eugeniu Han/Lynn E. Davis: Russian Grand Strategy. Rhetoric and Reality. Santa Monica: The RAND Corporation 2021
  26. Clint Reach/Alexis A. Blanc/Edward Geist: Russian Military Strategy. Organizing Operations for the Initial Period of War. Santa Monica: Cal.: The RAND Corporation, April 2022
  27. Margarete Klein/Nils Holger Schreibe: Der Angriff auf die Ukraine und die Militarisierung der russischen Außen- und Innenpolitik. Stresstest für Militärreform und Regimelegitimation. Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, November 2022
  28. Aufgaben der NATO
  29. Stacie L. Pettyjohn/Becca Wasser: No I in Team. Integrated Deterrence with Allies and Partners. Washington, D.C.: Center for a New American Security (CNAS), Oktober 2022
  30. Buchbesprechungen
  31. Susan L. Shirk: Overreach. How China Derailed Its Peaceful Rise. Oxford und New York: Oxford University Press 2022, 424 Seiten
  32. Susanne Schröter: Global gescheitert? Der Westen zwischen Anmaßung und Selbsthass, Freiburg im Breisgau: Herder Verlag 2022, 234 Seiten
  33. Marie-Agnes Strack-Zimmermann: Streitbar. Was Deutschland jetzt lernen muss. München: dtv Verlagsgesellschaft 2022, 134 Seiten
  34. Bildnachweise
Downloaded on 24.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/sirius-2023-1017/html
Scroll to top button