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Clint Reach/Alexis A. Blanc/Edward Geist: Russian Military Strategy. Organizing Operations for the Initial Period of War. Santa Monica: Cal.: The RAND Corporation, April 2022

  • Severin Pleyer

    Wissenschaftlicher Mitarbeiter

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Published/Copyright: April 4, 2023

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Reach Clint Blanc Alexis A. Geist Edward Russian Military Strategy. Organizing Operations for the Initial Period of War Santa Monica, Cal. The RAND Corporation April 2022


Diese Studie wurde vor Beginn der russischen Invasion in die Ukraine am 24. Februar 2022 abgeschlossen und befasst sich mit der Militärstrategie Russlands in Vorbereitung auf einen Krieg gegen die NATO. Der Schwerpunkt der Studie liegt auf der Anfangsphase. Die Autoren gehen davon aus, dass die russische militärische Strategie auf Langfristigkeit und Abnutzung des Willens des Gegners beruht und sich somit an den Überlegungen des russischen Militärtheoretikers Alexander Swetschin (18781938) orientiert. Vernichten der Infrastruktur und damit Brechen der Moral der Zivilbevölkerung seien die wichtigsten Vorgehensweisen im Krieg. Bei schlechter gerüsteten Gegnern genüge jedoch eine kurze militärische Kampagne ohne diese Maßnahme. Diese beiden Punkte beschreiben Russlands bisherige Vorgehensweise im Ukraine-Krieg.

Russlands strategische Situation sei mit Blick auf die NATO getrieben vom Kräftegleichgewichtsdenken sowie der speziellen Interaktion mit der Volksrepublik China. Die Angst Russlands vor territorialen Expansionsplänen Chinas in den rohstoffreichen Gebieten Sibiriens spiegelte sich bis 2018 in der militärischen Bewertung möglicher Bedrohungslagen wider. Seit 2018 unternehmen China und die russische Föderation allerdings gemeinsame militärische Übungen, was den Schluss zulasse, dass sich Russland stärker auf eine Auseinandersetzung mit der NATO vorbereite. Beide Staaten wollen die internationale Ordnung unter Führung der USA zerstören.

Die Autoren schließen daraus, dass die Russische Föderation aus einer empfundenen Situation der Schwäche heraus ihre strategischen Überlegungen formuliert. Dies könne zum Zeitpunkt der Analyse (Ende 2021) bedeuten, dass Russland versuchen könnte, entweder einen mehr oder weniger indirekten Abnutzungskrieg gegen die NATO zu führen oder sich auszuweiten, bevor sich die Möglichkeit dazu schließt. Ziel dieser Maßnahmen wäre die Wiederherstellung eines „Gleichgewichts“ in den internationalen Beziehungen, mit einer „Pufferzone“ zwischen NATO-Gebiet und der Russischen Föderation. Letzteres stand wohl hinter dem Angriff auf die Ukraine.

Das russische Militär gehe davon aus, so die Autoren, dass die NATO vorhabe, Russland militärisch anzugreifen, um dessen internationale Position weiter zu schwächen. Für den Fall eines derartigen Angriffskriegs hätten nach Einschätzung russischer Strategen die NATO-Verbände Vorteile im Bereich von konventionellen Langstreckenfähigkeiten. Die Verfasser vermuten, dass Russland sich nicht auf einen länger andauernden Abnutzungskrieg gegen die NATO einlassen wolle. Vielmehr sei es das Ziel – sollte ein Krieg nicht länger zu vermeiden sein–, sich in einer Anfangsphase des Kriegs so früh wie möglich auf die Zerstörung dieser Langstreckenfähigkeiten zu konzentrieren. Zugleich käme es darauf an, jene funktionell wichtigen Ziele auf NATO-Gebiet zu zerstören, die in einem konventionell geführten Krieg mit Russland die Durchhaltefähigkeit der NATO konstituieren. Diese Anfangsoperation erachteten die russischen Planer als zentral, da sie Russland nicht in der Lage sehen, einen längeren Abnutzungskrieg gegen das westliche Bündnis durchstehen zu können.

Dies bedeute, so die Verfasser, zweierlei: Zum einen werde Russland direkten Kampfhandlungen am Boden weniger Priorität zumessen als der Zerstörung von Kommandostruktur und Infrastruktur (command, control, communications, computers, intelligence, surveillance, and reconnaissance – C4ISR) der weitreichenden konventionellen NATO-Angriffskräfte. Zum anderen werde Russland gleich zu Beginn konventionelle Angriffe ausführen, um die Lebensgrundlagen westlicher Staaten zu zerstören. Die russische Zielsetzung folgt nicht dem Gedanken eines zeitlich und räumlich begrenzten Kriegs, sondern orientiert sich an einem totalen Krieg mit der NATO. Dieser müsse aber in der Anfangsphase gewonnen werden, langfristig würden sich Russlands ökonomische Schwächen negativ auswirken.

Russische Generale nehmen, so die Autoren, Bezug auf Swetschins Konzept der (totalen) „Zerstörungsstrategie,“ die durch Einsatz von Feuerkraft einen Konflikt zeitnah entscheiden müsse. Aber entscheidend sei heute die Betonung der Anfangsphase. Das lasse für die NATO zwei Schlussfolgerungen zu. Erstens verfolge Russland erneut ein Konzept eines umfassenden Angriffskriegs gegen die NATO und lege großen Wert auf Präemption, was entscheidend zur Kriseninstabilität beitragen könne. Zweitens müsse die westliche Allianz der erweiterten Luftabwehr (vor allem Abwehr von ballistischen Raketen und Marschflugkörpern) im gesamten mitteleuropäischen Raum viel mehr Bedeutung beimessen. Die zentrale Botschaft dieser Studie ist: Russland sieht sich aufgrund einer perzipierten strategischen Schwäche gegenüber dem Westen dazu veranlasst, Kriegspläne gegen die NATO zu entwickeln, die in der Anfangsphase massive Luftangriffe gegen militärische wie zivile Ziele in Europa vorsehen. Diese sollen so umfangreich ausfallen, dass sie die Verteidigungsfähigkeit der NATO brechen und eine langanhaltende kriegerische Auseinandersetzung verhindern.

Wie erwähnt ist der Bericht vor der Invasion Russlands gegen die Ukraine erstellt worden. Daher muss er sich eine kritische Betrachtung gefallen lassen. Vor allem die Abnutzung jener Waffensysteme, die für die Zerstörung der militärischen und zivilen Ziele in Europa vorgesehen waren, gibt erst einmal Anlass zum Aufatmen. Das schmälert jedoch den Erkenntnisgewinn der Studie nur minimal, stellt sie doch Ergebnisse über militärstrategische Überlegungen der Russischen Föderation zu einem Krieg in Europa vor, die in der hiesigen politischen Diskussion überhaupt nicht wahrgenommen worden sind. Vor allem der präemptive Charakter der russischen Strategie muss aufhorchen lassen, denn er gibt Anlass zur Sorge.

https://www.rand.org/pubs/research_reports/RRA1233-1.html

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Severin Pleyer

Wissenschaftlicher Mitarbeiter

Published Online: 2023-04-04
Published in Print: 2023-03-30

© 2023 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von De Gruyter.

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