Reviewed Publication:
Bateman Jon Russia’s Wartime Cyber Operations in Ukraine. Military Impacts, Influences, and Implications Washington, D.C. The Carnegie Endowment for International Peace 2022
Diese Studie untersucht die militärische Effektivität russischer Cyber-Angriffe auf die Ukraine in diesem am 24. Februar 2022 begonnenen Krieg. Insbesondere fragt der Verfasser, warum die Cyber-Angriffe keinen größeren Schaden angerichtet haben und was man aus den ukrainischen Erfahrungen über russische Cyber-Kriegführung lernen kann. Er geht davon aus, dass die meisten Experten für Cyber-Kriegführung den breiteren Kontext eines faktischen Kriegs ungenügend berücksichtigen. Und er gelangt zu einigen interessanten Schlussfolgerungen.
Russische Cyber-Angriffe haben, so Bateman, in der Frühphase der Invasion in begrenztem Maß das militärische Vordringen unterstützt. In der Ukraine haben sie vor allem zu Konfusion beigetragen und zu Unterbrechungen in ukrainischen militärischen Kommunikationssystemen geführt. Die Effektivität der Angriffe ließ aber recht bald nach und auch die Zahl der Angriffe ging merklich zurück.
Die militärische Effektivität von Cyber-Angriffen Russlands blieb begrenzt. Teilweise wurden dieselben Ziele mit Cyber-Waffen angegriffen wie mit kinetischen Waffen. In der Regel erwiesen sich die kinetischen als effektiver als die Cyber-Waffen.
Neben Zerstörung, Lähmung oder Übernahme digitaler Infrastruktur war das Sammeln militärisch relevanter Informationen ein weiteres Ziel russischer Cyber-Operationen. Dabei habe man allerdings keine für den Kriegsverlauf wichtige Informationen beschafft. Die Zielerfassung für Artillerie und Raketen werde hauptsächlich mithilfe von Drohnen und anderen traditionellen Methoden der Informationserfassung betrieben.
Russlands Cyber-Operationen lassen erhebliche Schwächen erkennen gibt. Denn diese Kriegsform besitzt im russischen Militär keinen sehr hohen Stellenwert und die bestehenden Möglichkeiten wurden bei weitem nicht ausgereizt. Die Ukraine hingegen habe sich seit einigen Jahren sehr intensiv auf Cyber-Krieg vorbereitet. Sie verfügt über ein sehr widerstandsfähiges digitales System und war so in der Lage, Angriffe und Operationen zur Nachrichtensammlung abzuwehren.
Im Verlauf des Krieges liegen die größten Risiken für die Ukraine in unerwarteten Fortschritten Russlands bei der Beschaffung von kriegswichtigen Informationen. Wenn es zum Beispiel russischen Hackern gelänge, geographische Daten über den Aufenthalt des ukrainischen Präsidenten Selenskiy in Echtzeit zu verschaffen, könnte das zu einem Enthauptungsschlag führen. Auch werden russische Cyber-Krieger versuchen, präzise Informationen über militärisch wichtige Ziele in der Ukraine zu gewinnen.
Russlands Cyber-Krieg gegen die Ukraine bietet eine Reihe von Lehren für künftige Kriege. Man kann davon ausgehen, dass Cyber-Angriffe gegen digitale Infrastrukturen in der ersten Phase eines Angriffs eine gewisse Bedeutung haben, die sich aber im Verlauf der Operation abschwächt. Bei Militärs, die Cyber-Operationen schon lange eine hohe Bedeutung beimessen (wie in USA und Israel), steht heute in erster Linie die Gewinnung von Informationen im Vordergrund, die wichtig für präzise und chirurgische Angriffe sind. Von diesem Niveau sind die russischen Streitkräfte noch weit entfernt. Dennoch sollte man vorsichtig mit allzu weitgehenden Schlussfolgerungen sein, denn jeder Krieg und jede militärische Intervention steht in einem anderen Kontext, in den sich Cyber-Kriegführung einpassen muss.
Militärführer, die ernsthaft die Option eines offensiven Cyber-Kriegs verfolgen wollen, müssen sicherstellen, dass sie in ausreichendem Maß über die erforderlichen Ressourcen (vor allem Human Capital) verfügen. Zugleich darf darunter nicht die zivile Cyber-Abwehr leiden. Abgesehen von der Beschaffung nachrichtendienstlicher Informationen (meistens zur Selektion von Zielen für kinetische Angriffe) oder der allgemeinen Lageaufklärung sind Versuche, die Gegenseite durch Offensivoperationen so zu schwächen, dass die Auswirkungen der Anwendung von Waffen gleichkommen, zumeist mit extrem hohen Investitionen verbunden, die an der Sinnhaftigkeit Zweifel aufkommen lassen.
Länder, die Cyber-Operationen für die militärische Nachrichtengewinnung nutzen wollen, sollten sich bewusst sein, dass dies auf die Dauer nur gelingt mit einem umfassenden und komplexen institutionellen Rahmen. Je mehr ihre Cyber-Fähigkeiten zur Nachrichtengewinnung zunehmen, desto größer wird für viele Staaten die Herausforderung, über mehr Informationen zu verfügen, als sie verarbeiten können. Dieses Problem kann nur durch institutionelle Anpassungen sowie die Entwicklung neuer Verfahren für den Umgang mit und die Selektion von großen Datenmengen zur Herausbildung von Zentren führen, in denen diese Informationen zusammengeführt und aufbereitet werden. Zudem muss sich die Politik auf derartige Bedingungen einstellen.
Defensive Cyber-Kriegführung kann aus dem Ukraine-Krieg sehr viel lernen. Vor allem ist zu fragen, welche Schlussfolgerung Russland, aber auch andere mögliche Aggressoren aus den ernüchternden Erfahrungen mit den Cyber-Angriffen ziehen. Insbesondere wäre wichtig zu wissen, welche Folgerungen China aus diesem Krieg zieht. Zwar ist China im Bereich Cyber-Krieg sehr viel besser aufgestellt als Russland, doch auch Taiwan ist weit besser vorbereitet als die Ukraine.
Dies ist eine lesenswerte und anregende Studie. Ihre Ergebnisse werden nicht dadurch geschmälert, dass der Autor abschließend bemerkt, dass man auch in diesem Fall selbstverständlich bloß einen Ausschnitt aus der Realität erfassen könne und manche seiner Einsichten durch Gespräche und Erfahrungen geprägt worden seien, die vielleicht den Blick verengen. Dennoch, alles in allem eine empfehlenswerte Lektüre.
About the author
Non-resident Fellow
© 2023 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von De Gruyter.
Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz.
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- Mykhaylo Zabrodskyi/Jack Watling/Oleksandr V. Danylyuk/Nick Reynolds: Preliminary Lessons in Conventional Warfighting from Russia’s Invasion of Ukraine, February–July 2022. London: Royal United Services Institute (RUSI), November 2022
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- Hlib Parfonov: Russia Struggles to Maintain Munition Stocks, Jamestown Foundation Eurasia Daily Monitor, 19 (180), und 19 (186), Dezember 2022
- Michael Kofman/Richard Connolly/Jeffrey Edmonds/Andrea Kendall-Taylor/Samuel Bendett: Assessing Russian State Capacity to Develop and Deploy Advanced Military Technology. Washington, D.C.: Center for a New American Security, Oktober 2022
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- Samuel Charap/Dara Massicot/Miranda Priebe/Alyssa Demus/Clint Reach/Mark Stalczynski/Eugeniu Han/Lynn E. Davis: Russian Grand Strategy. Rhetoric and Reality. Santa Monica: The RAND Corporation 2021
- Clint Reach/Alexis A. Blanc/Edward Geist: Russian Military Strategy. Organizing Operations for the Initial Period of War. Santa Monica: Cal.: The RAND Corporation, April 2022
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- Susanne Schröter: Global gescheitert? Der Westen zwischen Anmaßung und Selbsthass, Freiburg im Breisgau: Herder Verlag 2022, 234 Seiten
- Marie-Agnes Strack-Zimmermann: Streitbar. Was Deutschland jetzt lernen muss. München: dtv Verlagsgesellschaft 2022, 134 Seiten
- Bildnachweise
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