Reviewed Publication:
Giles Keir What deters Russia? Enduring principles for responding to Moscow London Royal Institute of International Affairs, Chatham House September 2021
Keir Giles ist Senior Consulting Fellow im Russland- und Eurasien-Programm bei Chatham House und Mitarbeiter am Conflict Studies Research Center (CSRC), einer Gruppe von Fachexperten für eurasische Sicherheit in London. Er ist der Autor des Buches Moscow Rules: What Drives Russia to Confront the West (Brookings Institution Press, 2019) und hat 2021 zur Chatham-House-Studie über „Mythen und Fehlbeurteilungen in der Russlanddebatte“ beigetragen.[1]
Die Frage, was Russland (vom Krieg) abschrecken könnte, hätte der Autor unter den internationalen Bedingungen des Jahres 2021 nicht besser wählen werden können: Von April 2021 bis Januar 2022 hielten die russischen Streitkräfte eine nicht enden wollende Serie von Militärmanövern an den ukrainischen Grenzen ab, bauten dort ein massives militärisches Interventionspotential auf, und Putin drohte vor dieser martialischen Kulisse, dass Russland „militärisch-technische Vergeltungsmaßnahmen“ ergreifen würde, falls die NATO die von ihm erhobenen Forderungen zu einer (völligen) Umstrukturierung der europäischen Sicherheitsarchitektur zugunsten der Vorstellungen Moskaus nicht akzeptieren sollte.
Die 69 Seiten umfassende Studie, welche die oben gestellte Frage beantworten will, geht von der Prämisse aus, dass Russland und der Westen grundlegend unterschiedliche Auffassungen von internationalen Beziehungen und dem gegenseitigen Verhältnis hätten. Dem Autor zufolge träfe im Wesentlichen immer noch zu, was George Kennan 1947 festgestellt hatte, dass „Sicherheit“ von der Warte des Kremls gesehen, „nur in einem geduldigen, aber tödlichen Kampf um die totale Zerstörung der rivalisierenden Macht [gewährleistet werden kann], niemals durch Vereinbarungen und Kompromisse.“
Giles weist auch auf darauf hin, dass im Jahr 2007, als die Beziehungen zu Russland noch relativ entspannt zu sein schienen, der damalige Generalstabschef Juri Balujewski gewarnt hätte, dass „Russlands Übergang zur Interaktion mit dem Westen auf der Grundlage der Bildung gemeinsamer oder enger strategischer Interessen das Militär und die Sicherheit unseres Staates nicht gestärkt hat. Russland sollte das unveränderliche Axiom beachten, dass Kriege und bewaffnete Konflikte ununterbrochen weitergehen, denn sie entstehen aufgrund anhaltender Rivalität zwischen den Mächten.“
Vor dem Hintergrund dieser Überzeugung des Kremls, dass die Gegnerschaft zum Westen eine unveränderliche Tatsache darstelle, liefert der Autor eine Erklärung für den Aufbau der oben beschriebenen Drohkulisse und des Interventionspotentials. Moskau wolle den Gegner nicht nur testen und seine Risikobereitschaft ausloten, sondern ihn einschüchtern. Es wolle seinen Gegner davon überzeugen, dass die Präsenz und Aktivitäten von NATO-Streitkräften in unmittelbarer Nähe Russlands hohe Eskalationsrisiken trügen − die Gefahr eines vielleicht unbeabsichtigten Krieges bis hin zu einem Krieg auf nuklearer Ebene.
Um den Kreml von tatsächlichen militärischen Aktionen abzuhalten, sollten westliche Entscheidungsträger die folgenden Handlungsprinzipien anwenden. Sie sollten
mit russischen Regierungsvertretern klar und deutlich reden und ihnen die Grenzen akzeptablen Verhaltens aufzeigen.
Solidarität und einen gemeinsamen politischen Willen im eigenen Land und im Bündnis herstellen und demonstrieren.
Verbündete und befreundete Staaten frühzeitig − vor einer akuten Krise − unterstützen.
die russischem Verhalten gesetzten Grenzen auch verteidigen.
Missverständnisse, Fehlkommunikationen und Fehleinschätzungen Moskaus vorausschauend einplanen.
Konfliktvermeidung vermeiden.
Widerstandsfähigkeit gegenüber „hybriden“ Bedrohungen entwickeln.
Die von Giles zusammengestellten Handlungsprinzipien überlappen sich. Das erscheint dem Rezensenten nicht besonders problematisch, denn mithilfe von „Fallstudien“ zeigt der Autor auf, wie die Prinzipien – je nach ihrer Anwendung oder ihrem Fehlen − zu Erfolg oder Misserfolg westlicher Abschreckung potentieller oder bereits in die Wege geleiteter militärischer Maßnahmen geführt hätten. (Die detaillierten Fallstudien erklären auch die verhältnismäßig große Länge der Untersuchung.)
Als analytisch besonders interessant und von Bedeutung für westliches Handeln erscheinen dem Rezensenten Giles Ausführungen zur „Vermeidung von Konfliktvermeidung.“ Der Autor meint damit: Sobald sich die Beziehungen zu Russland bis zu dem Punkt verschlechterten, an dem kritische Entscheidungen getroffen werden müssten, sei es falsch, die Vermeidung von Eskalationsrisiken in den Vordergrund der Kommunikation mit Russland und der eigenen Maßnahmen zu stellen. Konfrontation zu entschärfen, dürfe in dieser Situation nicht das vorrangige oder ausschließliche Handlungsprinzip sein. Es sei ein fundamentaler Fehler des Westens zu glauben, dass die von Russland stilisierten „Eskalationsrisiken“ durch Kompromissangebote und ein Eingehen auf russische „Sicherheitsinteressen“ gemindert werden könnten. Anhand der Fallbeispiele Georgien 2008, Ukraine 2014–2015 und Syrien 2015–2016 zeigt Giles, dass es Moskau in allen drei militärischen Konflikten gelungen sei, seine strategischen Ziele zum Teil gerade deswegen zu erreichen, indem es die intensiven westlichen Bemühungen um Entspannung und eine „Lösung“ des Konflikts zur Verfolgung seiner Ziele nutzte.
https://www.chathamhouse.org/sites/default/files/2021-09/2021-09-23-What-deters-Russia-Giles-pdf.pdf
© 2022 Hannes Adomeit, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz.
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- Bildnachweise
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