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Das zweifache Scheitern der internationalen Gemeinschaft in Afghanistan – Studienergebnisse des ISPK aus dem vergangenen Jahrzehnt

Published/Copyright: March 18, 2022

Vorwort: Das Institut für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel (ISPK) hat in den Jahren 2011 bis 2014 im Rahmen zweier Forschungsprojekte Analysen zu den Ursachen des Scheiterns der internationalen Staatengemeinschaft in Afghanistan in den Jahren 2001 bis 2009 vorgelegt und sich mit dem 2009 von der NATO angenommenen Konzept zur Wendung der Lage durch eine zivil-militärische Counterinsurgency befasst. Eine Analyse wurde für das Bundesministerium der Verteidigung erstellt, die die Forschungsergebnisse mittlerweile freigegeben hat. Sie fanden in der Politik leider wenig Beachtung, obwohl sie auf strukturelle und grundsätzliche Probleme des Einsatzes der internationalen Staatengemeinschaft verwiesen. Des Weiteren wurde im Rahmen eines mit dem Aspen-Institut Deutschland durchgeführten Projektes eine ernüchternde Bilanz des Scheiterns des Counterinsurgency-Ansatzes der NATO vorgelegt, die sich bereits 2013 abzeichnete und deren Folgen sich im Sommer 2021 zu einer katastrophalen Entwicklung verdichteten, nachdem die USA beschlossen hatten, ihre Truppen aus Afghanistan abzuziehen. Der nachfolgende Text summiert diese Ergebnisse. Er basiert auf den Texten der ISPK-Analysen, diese wurden jedoch teilweise gekürzt und sprachlich angepasst, bzw. aus dem Englischen übersetzt. Die Analysen wurden im Rahmen der Arbeit eines Teams des ISPK erstellt, Hauptautor war der damals am ISPK tätige Robin Schroeder. Die hier vorgestellten Ergebnisse sind natürlich durch die Ereignisse überholt. Sie haben aber in vielen Bereichen heute noch Gültigkeit und können für die überfällige politische Auseinandersetzung mit den Ursachen des Scheiterns der internationalen Staatengemeinschaft in Afghanistan genutzt werden. Die Abschnitte 1 bis 6 entstammen der Analyse für das BMVg, die Abschnitte 7 und 8 wurden dem 2014 beim Routledge Verlag erschienenen und von Joachim Krause und Charles King Mallory herausgegebenen Sammelband „Afghanistan, Pakistan, and Strategic Chance“ entnommen (S. 51–60), der die Ergebnisse des gemeinsam mit dem Aspen Institut Deutschland durchgeführten Projektes präsentierte. Auch dieses Kapitel wurde von Robin Schroeder verfasst.

1 Einleitung

Ausgangspunkt der vorliegenden Analyse ist die Situation gegen Ende 2001. Das Mandat der International Security Assistance Force (ISAF) in Afghanistan sah vor, die souveräne Regierung der Islamischen Republik Afghanistan beim Aufbau eines „neuen Afghanistans“ zu unterstützen. Als klassische Stabilisierungsmission ausgelegt sollte die ISAF-Mission beim Aufbau der afghanischen Armee mitwirken und den Wiederaufbau staatlicher und wirtschaftlicher Strukturen gegen gewaltsame Aktionen sogenannter „Störer“ (spoiler) schützen. Als die ISAF auf der Bonner Afghanistan-Konferenz im Dezember 2001 ins Leben gerufen wurde, orientierten sich die politischen Entscheidungsträger an den Erfahrungen mit der Post-Konflikt-Stabilisierung auf dem Balkan. Ursprünglich sollte das Einsatzgebiet für ISAF auf die Hauptstadt Kabul und wenige größere Städte beschränkt bleiben.

Auch als das Einsatzgebiet der ISAF ab 2003 durch den Aufbau zivil-militärischer Provincial Reconstruction Teams (PRTs) schrittweise auf Regionen außerhalb des Raums Kabul ausgedehnt wurde, änderte sich die Aufgabenstellung nicht.[1] Die ab August 2003 unter NATO-Kommando stehende ISAF blieb hinsichtlich der Personalstärke und Ausrüstung eine relativ schwach ausgestattete Truppe zur Sicherung der PRTs und der lokalen Wiederaufbauprojekte. Die Bekämpfung von gut organisierten Aufständischen, die einen entschlossenen Guerilla-Kampf gegen die afghanische Regierung und ihre westlichen Partner führten, war nicht als Aufgabe der ISAF vorgesehen, bzw. wurde von den damaligen Entscheidungsträgern nicht in Erwägung gezogen.

Wenige Jahre später wurde die Unterstützung der afghanischen Regierung im Kampf gegen Aufständische die primäre Aufgabe der ISAF. In dem Maße, in dem ab 2005 Taliban und andere Gruppen terroristische Anschläge und Guerillaaktionen gegen die afghanische Regierung und die dortige Bevölkerung sowie gegen die ausländischen Truppen durchführten, wurde Counterinsurgency zum Kern-Auftrag der NATO-Truppen in Afghanistan. Die prekäre Sicherheitslage hatte Fakten geschaffen, auf die die ISAF angemessen reagieren musste. Dabei wurde deutlich, dass – ähnlich wie im Irak – der Einsatz von militärischer Gewalt gegen Aufständische und Terroristen nicht ausreicht, wenn man eine Befriedung im Sinne der ursprünglich geplanten Stabilisierungsoperation erreichen will. Die Realität im Einsatzgebiet erzeugte in diesem Zusammenhang einen politischen Handlungsdruck, der Ende 2009 zu einem Strategiewechsel führte. Danach lag der Fokus der militärischen aber auch der zivilen Maßnahmen in Afghanistan auf einem ganzheitlichen Ansatz zur Bekämpfung des Aufstandes (Insurgency).

Die Entwicklung in Afghanistan hat deutlich werden lassen, wie hoch das Risiko ist, dass eine Stabilisierungsmission zu einer Aufstandsbekämpfungsmission wird. Letztlich gibt es dann nur die Wahl zwischen zwei Alternativen: Entweder die Truppen abzuziehen oder das Engagement zu verstärken und vor allem einen „umfassenderen Ansatz“ zu verfolgen, der nicht nur militärischen Schutz, sondern auch den koordinierten zivilen Aufbau mit beinhaltet (Comprehensive Approach, auf deutsch: Vernetzte Sicherheit). Ein Ansatz vernetzter Sicherheit ist im Bündnis aber nur dann durchführbar, wenn alle beteiligten Staaten daran mitwirken und ähnliche Vorstellungen über den Comprehensive Approach haben. Das war nicht immer der Fall. Vor allem in den USA bestand von Beginn an eine zunehmende Skepsis über die Machbarkeit eines von der internationalen Staatengemeinschaft getragenen Comprehensive Approach. Diese Skepsis beruhte auf nachvollziehbaren Erfahrungen. Aber auch unter den anderen Verbündeten sowie in internationalen Organisationen und bei Nichtregierungsorganisationen bestanden unterschiedliche Vorstellungen darüber, was unter einem umfassenden Ansatz zu verstehen sei. Zumeist fingen die Differenzen schon bei der Namensgebung an. Zudem wurde die Skepsis noch dadurch gefördert, dass ohne die erfolgreiche Bildung einer verantwortlichen und effektiven Staatlichkeit in Afghanistan alle Bemühungen um einen Comprehensive Approach der internationalen Staatengemeinschaft langfristig wenig Erfolgversprechend sein dürften.

Die westliche Staatengemeinschaft schlug Ende 2009 für Afghanistan einen Mittelweg ein, der im Rahmen der Bonner Afghanistan-Konferenz 2010 bestätigt wurde: Für wenige Jahre (bis Ende 2013) sollte versucht werden, im Rahmen einer an die irakischen Erfahrungen angelegten Counterinsurgency-Kampagne die Taliban so weit wie möglich zurückzudrängen und damit Raum zu schaffen für einen friedlichen Aufbau Afghanistans, dessen Sicherung dann in die Hand der afghanischen Behörden übertragen werden sollte. Die Hauptverantwortung für die Zeit danach wurde in die Hand der afghanischen Führung gelegt, die sich bis 2024 großzügiger finanzieller und personeller Hilfe Seitens der internationalen Gemeinschaft sicher sein konnte.

Diese Politik sollte das Scheitern der internationalen Mission abwenden. Sie ist letztendlich auch gescheitert – und zwar schon 2013. Die vorliegende Analyse setzt sich mit diesem doppelten Scheitern in vier Schritten auseinander:

  1. Es sollen die Ursachen identifiziert werden, die zu der Insurgency der Taliban in Afghanistan geführt haben. Der Schwerpunkt liegt hier auf den Faktoren, welche unmittelbar im Einflussbereich der Interventionsmächte lagen und somit hätten vermieden werden können.

  2. Es sollen die Probleme und Herausforderungen der Koalition in der Phase 2006 bis 2009, in der die stetig wachsende Aufstandsbewegung nicht wirkungsvoll bekämpft werden konnte, aufgezeigt werden.

  3. Es soll die Implementierung der Counterinsurgency-Strategie ab Mitte 2009 – als Wendepunkt in der amerikanischen und deutschen Afghanistanpolitik – untersucht werden.

  4. Es soll der Erfolg der Counterinsurgency-Strategie in den Jahren bis 2013 bewertet werden.

2 Ursachen für das Entstehen der Aufstandsbewegung in Afghanistan

In den ersten Jahren nach dem Sturz der Taliban sind bedeutsame strategische Fehler auf Seiten der Koalition gemacht worden, die dazu beigetragen haben, dass die in Pakistan reorganisierten Taliban wieder Einfluss in Afghanistan gewinnen konnten und den Kampf gegen die Regierung und die NATO aufnahmen. Die meisten falschen Weichenstellungen erfolgten im Zusammenhang mit der Petersberg-Konferenz, die Ende November/Anfang Dezember 2001 in der Nähe von Bonn stattfand.

Der primäre Fehler zu Beginn der Postkonflikt-Stabilisierung in Afghanistan war die Absicht der „Petersberg-Koalition,“ den Aufbau der staatlichen Ordnung und die militärische Absicherung dieses Prozesses möglichst kostengünstig und ohne großen politischen footprint zu erreichen. Die etwa 5.000 Mann starke ISAF sollte nur den politischen und wirtschaftlichen Wiederaufbau Kabuls schützen, während etwa 8.000 amerikanische Soldaten unter OEF-Mandat al-Qaida-Angehörige und hochrangige Taliban jagten. Die landesweite Wiederherstellung von Sicherheit und Ordnung sollte weitgehend der neuen afghanischen Zentralregierung in Kabul überlassen werden – ungeachtet der Tatsache, dass eine effektive afghanische Staatsgewalt zu diesem Zeitpunkt nicht einmal im Ansatz existent war und der Aufbau afghanischer Sicherheitskräfte Jahre dauern würde. Die Vereinigten Staaten und ihre Bündnispartner wollten die militärische Präsenz in Afghanistan bewusst niedrig halten (light footprint). An das afghanische Fiasko der Sowjetunion denkend, wollte man in Afghanistan nicht den Eindruck einer militärischen Besatzung erwecken.

Das Argument, die afghanische Perzeption einer Besatzungsmacht zu vermeiden, war im Prinzip vernünftig. Allerdings gab es zwei wesentliche Gründe, die gegen diese Annahme sprachen, die auf dem Petersberg und in den nachfolgenden nationalen Diskussionen nicht ausreichend reflektiert worden waren:

  1. Es war aufgrund der Kürze der Zeit zwischen den Anschlägen vom 11. September 2001 und dem Sturz des Taliban-Regimes (Oktober/November 2001) nicht möglich gewesen, Konzepte für die Herstellung einer Nachkriegsordnung Afghanistans zu entwerfen, die den Besonderheiten des Landes gerecht geworden wären.[2] Eine klare einheitliche Definition der militärischen und zivilen Zielsetzungen lag nicht vor. Eine langfristige Strategie zur Entwicklung Afghanistans fehlte. Diese Aufgabe wurde den Afghanen überlassen, die aber keine politische Handlungseinheit bildeten. Die „Afghanen“ bestanden aus Vertretern der Nordallianz (in der Mehrzahl Tadjiken und Uzbeken) und gemäßigten Paschtunen, unter ihnen der designierte afghanische Präsident Hamid Karsai. Ein Konzept für den Aufbau eines neuen Afghanistans lag nicht vor, bzw. nur als vage Idee. Im Gegenteil, der traditionelle afghanische Konflikt zwischen dem Streben nach einem zentralen, modernen Staat auf der einen Seite und dem Festhalten an einer traditionellen Struktur mit regionalen Machtzentren lebte in dieser Koalition fort.

  2. Die militärischen und zivilen Ressourcen, welche die Vereinigten Staaten und die Europäer bereit waren zu investieren, waren bei Weitem nicht ausreichend, um den relativ hoch gesteckten, allgemein gefassten Zielen der Petersberg Konferenz gerecht zu werden. Die ISAF-Truppen konnten gerade mal im Raum Kabul ein Mindestmaß an Stabilität schaffen. Die International Crisis Group kritisierte die Afghanistan-Politik der Vereinigten Staaten und der Europäer in den ersten Jahren nach der militärischen Intervention deutlich und zu Recht: „The desire for a quick, cheap war followed by a quick, cheap peace is what has brought Afghanistan to the present, increasingly dangerous situation.“[3]

Insbesondere zwei politische Fehlentscheidungen der Petersberg-Koalition trugen dazu bei, dass in vielen Provinzen Afghanistans, die von der internationalen Gemeinschaft geschürten Hoffnungen auf eine bessere Zukunft schon in den ersten drei Jahren nach dem Sturz der Taliban enttäuscht wurden. Diese Fehlentwicklungen schufen die politische Basis für die Aufständischen.

 Präsident Hamid Karsai 2004

Präsident Hamid Karsai 2004

Der erste Fehler war der Entschluss, das neue afghanische Regierungssystem nach dem Vorbild einer zentralistischen Präsidialdemokratie zu entwerfen. Die Übergangsverfassung sowie die neue afghanische Verfassung von 2004 gaben der Zentralregierung von Präsident Hamid Karsai unverhältnismäßig viel politische Macht über die afghanischen Provinzen. Damit stand die Verfassung in deutlichem Widerspruch zu der seit dem 18. Jahrhundert bestehenden politischen Tradition Afghanistans, bei der die Provinzen traditionell ein hohes Maß an Unabhängigkeit von der Regierung in Kabul genossen. Wenn man bedenkt, dass seit den späten 70er Jahren des 20. Jahrhunderts ein längerer Bürgerkrieg in Afghanistan tobte, weil die damaligen fortschrittlich orientierten (zumeist kommunistischen) Kräfte versucht hatten, das Land zentralistisch zu organisieren, war das ein riskantes Vorhaben. Offensichtlich war dieses Risiko auf dem Petersberg nicht bedacht worden: Die Regierungen, die am Petersberg-Prozess beteiligt waren, wiesen keinen Weg auf, wie eine zentralistische Struktur in einem dezentralen Land umgesetzt werden könnte und sie waren auch nicht bereit dafür Ressourcen einzusetzen.[4] Die Probleme wurden schnell sichtbar, denn Präsident Karsai musste sich seine Machtbasis unter diesen ungünstigen Bedingungen erst aufbauen. Hauptinstrument war für ihn die Möglichkeit, Provinzgouverneure einzusetzen. Gemäß der Verfassung von Januar 2004 (und auch schon zuvor als Präsident der afghanischen Übergangsregierung) konnte Karsai die Provinzgouverneure gänzlich alleine bestimmen. Um sich eine, durchaus notwendige, Machtbasis im Land aufzubauen, suchte er hierbei persönliche Vertrauenspersonen aus, wobei Verwandtschaftsbeziehungen oder auch Ämterpatronage und Korruption von vornherein eine große Rolle spielten. Geeignetheit im Sinne von Effektivität und demokratischer Verantwortlichkeit waren offenbar nicht die primären Auswahlkriterien. Die vom Präsidenten eingesetzten Gouverneure waren zumeist ineffektiv, korrupt, handelten willkürlich und oft zum Vorteil ihrer eigenen Familien. Sie fanden daher wenig politische Unterstützung unter der lokalen Bevölkerung. Darüber hinaus fühlten sich die Paschtunen als traditionell mächtigste afghanische Volksgruppe in dem neuen politischen System Afghanistans unterrepräsentiert und hatten zudem die korruptesten und unfähigsten Provinzgouverneure zu ertragen.[5] Korruption, Ineffizienz und die zunehmende Kleptokratie führten dazu, dass die Unterstützung in der afghanischen Bevölkerung für das neue Afghanistan gemäß der Petersberg-Konferenz nicht nur ausblieb, sondern sich recht bald in Widerstand umsetzte.

Der zweite große Fehler war die entwicklungspolitische Vernachlässigung der ländlichen Räume. Dies betraf vor allem den paschtunisch dominierten Süden, aber auch Provinzen in anderen Teilen des Landes einschließlich Nordafghanistans. Die internationalen finanziellen Mittel zum Wiederaufbau kamen hauptsächlich der Hauptstadt Kabul und den wenigen anderen urbanen Wirtschaftszentren wie Herat und Mazar-e Sharif zugute. Die seltenen ländlichen Aufbauprojekte wurden darüber hinaus dadurch erschwert, dass kaum eine geeignete afghanische Infrastruktur vorhanden war. Die Vernachlässigung der Peripherie war allerdings nicht allein ein Fehler der Koalition, sondern auch in hohem Maße die Schuld der Regierung Hamid Karsais. Auch hier kam die strukturelle Problematik des neuen politischen Systems zu tragen. Präsident Karsai versuchte durch die wirtschaftliche Begünstigung Kabuls und der großen Provinzzentren wiederum eine – für ihn notwendige – Machtbasis aufzubauen, die es ihm erlaubte gegenüber der internationalen Koalition als gleichberechtigter Partner aufzutreten.

Die ländlichen Gebiete hatten für die Regierung in Kabul keine Priorität. Dies führte dazu, dass die Landbevölkerung einen Fortschritt in den Städten sehen konnte, an dem sie selbst jedoch nicht teilhatte. Die Präsenz des Staates außerhalb der wenigen urbanen Zentren blieb minimal und die Bereitstellung von staatlichen Dienstleistungen und Grundversorgungsgütern entsprechend gering – bzw. sie war durch Korruption, Ämterkauf und teilweise schamlose Bereicherung der Amtsträger gekennzeichnet. Teilweise verschlechterte sich die Lebenssituation einiger Gemeinden im Vergleich zu der Zeit unter der Taliban-Herrschaft sogar.[6] Ein großer Teil der afghanischen Landbevölkerung fühlte sich – zu Recht – von der Karsai-Regierung und der internationalen Gemeinschaft im Stich gelassen, nachdem auf vollmundige, öffentlich proklamierte Versprechungen keine Taten folgten. Viele Beobachter charakterisieren das unter Karsai entstandene System als mafiöse Vertikale, als predator-regime. Enttäuschung, Frustration und wirtschaftliche Not schufen so einen idealen Nährboden für die Propaganda der Taliban. So konnten die islamistischen Extremisten in vielen paschtunischen Siedlungsgebieten schon ab 2003 neue Unterstützungsnetzwerke aufbauen.[7]

 In den ländlichen Gebieten kam die Hilfe selten an

In den ländlichen Gebieten kam die Hilfe selten an

Nach 2001 gab es außerhalb der urbanen Zentren Afghanistans so gut wie keine ordentlichen Sicherheitskräfte zum Schutz der Bevölkerung. Im Gegensatz zu den äußerst optimistischen Plänen der internationalen Gemeinschaft, ging der Aufbau der neuen afghanischen Armee (Afghan National Army – ANA) und der Polizei (Afghan National Police – ANP) bis 2006 nur schleppend voran.[8] Erst nach Verabschiedung der UN-Sicherheitsratsresolution 1510 im August 2003 begann die zuvor nur in Kabul stationierte ISAF ihre Präsenz im Zeitraum von 2004 bis 2006 in vier Phasen auszudehnen.

Die an Pakistan grenzenden Provinzen im Süden und Osten wurden erst 2006 zum Operationsgebiet der ISAF. Zuvor lag die regionale Sicherheit in der Verantwortung von OEF-Truppen, deren Kernauftrag nicht der Schutz der Bevölkerung, sondern die Jagd auf Al-Qaida war. Gerade in den ersten drei Jahren nach dem Sturz der Taliban standen im Süden so gut wie keine ausgebildeten afghanischen Sicherheitskräfte zur Verfügung. Zur Herstellung der lokalen Sicherheit wurden stattdessen Milizen lokaler Warlords mit Polizeirechten ausgestattet. Diese Milizen, deren Kommandeure oft gleichzeitig lokale Regierungsämter bekleideten, entpuppten sich oft als korrupt und gewalttätig und waren mehr eine Bedrohung für die Bevölkerung als dass sie zu deren Schutz fungierten. Die dubiosen Sicherheitsverträge mit diversen Warlords erwiesen sich als enormer Fehlschlag.[9]

Angesichts der Abwesenheit von effektiven Sicherheitskräften, staatlicher Justiz und einem Mindestmaß an Verwaltung konnten Recht und Gesetz nicht durchgesetzt werden. So wurde im Süden und Osten Afghanistans ein Sicherheitsvakuum geschaffen, das ab 2003 von aus Pakistan zurückkehrenden Taliban gefüllt wurde. Viele Paschtunen zogen die Präsenz der islamistischen Taliban sowie der Wiedereinführung der ultraorthodox ausgelegten Scharia der Willkür von korrupten Lokalpolitikern und kriminellen Polizisten vor.[10]

Politische Frustration, wirtschaftliche Not, der Amtsmissbrauch der „Polizei“-Milizen, zivile Opfer durch OEF-Einsätze sowie nicht zuletzt bereits bestehende soziale Netzwerke führten dazu, dass die Taliban vor allem in vielen paschtunischen Distrikten Unterstützung bzw. wohlwollende Neutralität fanden. So konnten die Aufständischen relativ schnell Strukturen aufbauen, durch die der große Rest der Bevölkerung durch Einschüchterung und Gewalt zur Passivität oder zur Unterstützung gezwungen werden konnte. Lokale „Schattenregierungen“ der Taliban begannen dort Macht auszuüben, wo bisher ohnehin keine staatliche Präsenz festzustellen war, oder unterminierten zusehends die kaum entwickelten staatlichen Institutionen in den ländlichen Räumen. Islamistische Propaganda forderte zum landesweiten Jihad auf und drohte alle Unterstützer der „Kreuzritter“ zu bestrafen. Repräsentanten des Staates und „Kollaborateure“ rückten ins Fadenkreuz der Aufständischen. Entführungen, Folterungen und Morde an Regierungsmitgliedern, Verwaltungsbeamten, Polizisten, Lehrern, aber auch Ärzten und kritischen Geistlichen nahmen stetig zu. Ein Beobachter schrieb dazu: “Never before had the Taliban terrorized their fellow Pashtuns in such a way”.[11]

Die Eintreibung von Schutzgeldern, die Zusammenarbeit mit lokalen Drogenbaronen und kriminellen Netzwerken, die in afghanischen und pakistanischen Madrassas gesammelte religiöse Steuer Zakat, großzügige Spenden internationaler (arabischer) Islamisten-Netzwerke und nicht zuletzt der pakistanische Geheimdienst ISI förderten und finanzierten die Taliban.

Die hier dargestellten Entwicklungen, welche besonders die paschtunischen Gebiete im Süden und Osten betrafen, waren das Resultat nicht genutzter Chancen in den ersten Jahren nach dem Sturz der Taliban. Als die Präsenz der ISAF in den Süden ausgedehnt wurde, hatte sich das window of opportunity zur Stabilisierung der Region bereits wieder geschlossen. Die Koalitionstruppen sahen sich nun mit einer mehr oder weniger voll entwickelten Aufstandsbewegung (Insurgency) konfrontiert.

2.1 Ein trügerisches Bild von Sicherheit

Bis 2006 herrschte innerhalb der Koalition ein trügerisch positives Bild hinsichtlich der Situation in Afghanistan. Dies lag besonders daran, dass die politischen Entscheidungsträger bis dahin hauptsächlich Fortschritte feststellen konnten: Die erfolgreiche Beendigung des Taliban-Regimes durch eine schnelle und kostenschonende militärische Kampagne, die effiziente Zerschlagung vereinzelter Taliban-Angriffe auf offenem Feld zwischen 2002 und 2003,[12] einige erfolgreiche Maßnahmen gegen Aufständische durch amerikanische OEF-Kräfte zwischen 2004 und 2005,[13] demokratische Wahlen mit hoher Beteiligung, quantitativ wachsende afghanische Sicherheitskräfte und eine – auf den ersten Blick – relativ stabile Situation in den meisten Provinzen.

Die noch relativ wenigen Anschläge, die sich gegen die Koalition oder die afghanische Regierung richteten, wurden als terroristische Akte zur Störung des State-building-Prozesses wahrgenommen. Dass es sich hier um die Anfangsphase einer großflächigen Insurgency handelte, wurde zu diesem Zeitpunkt von Politikern zumeist abgestritten.

Das Ausmaß der negativen Entwicklung, vor allem im Süden, war von der Koalition allerdings auch aus anderen Gründen nicht bemerkt worden. Die Abwesenheit von Koalitionskräften in vielen Distrikten sowie nachrichtendienstliche Versäumnisse hatten dazu geführt, dass nur wenige Informationen zur Lage in den peripheren Räumen vorlagen.[14] Die zahlenmäßige Stärke der Aufständischen war unbekannt. Die subversiven Aktivitäten der Aufständischen, vor allem die (in den meisten Fällen) „leise“ terroristische Kampagne zur Einschüchterung der Bevölkerung, wurden in ihrem Umfang und ihrer Bedeutung nicht ausreichend erkannt.[15]

Die Vernachlässigung der schlechten Nachrichten aus Afghanistan verleitete vor allem europäische politische Entscheidungsträger zu falschen Perzeptionen über die wirkliche Lage in Afghanistan. Es wurde weiterhin davon ausgegangen, dass der Großteil der zukünftigen ISAF-Operationen von Stabilisierungsaufgaben geprägt sein würde, bei denen die ANA und die ANP bereits die Hauptlast tragen würden.[16] Die Kombination von den im Aufbau befindlichen afghanischen Sicherheitskräften zusammen mit der bloßen Präsenz überlegener westlicher Kampftruppen sollte abschreckend genug sein, um einen größeren Aufstand militanter Kräfte zu verhindern. Tatsächlich war die Lage sehr viel schlechter.

Als die ISAF unter dem Eindruck der dortigen Lage ab 2006 Truppen in den Süden Afghanistans verlegte, stellte das noch keine zufrieden stellende Anpassung an die Realitäten vor Ort da. Die Truppen sollten im neuen Einsatzgebiet weiterhin nur security assistance leisten. Tatsächlich wäre längst eine umfassend angelegte Counterinsurgency-Kampagne erforderlich gewesen, um zu verhindern, dass die Taliban die vollständige Kontrolle über die Region erlangen. Ab 2006 war die Koalition mit folgender Situation in weiten Teilen Südafghanistans konfrontiert:

  • Die Provinzregierungen hatten wenig bis keine politische Kontrolle;

  • es herrschte ein schwerer Mangel an afghanischen Sicherheitskräften;

  • die organisierte Kriminalität und die Drogenwirtschaft blühten;[17]

  • die Aufständischen kontrollierten zahlreiche Distrikte;

  • die Aufständischen begannen eine sorgfältig vorbereitete Guerilla-Offensive gegen Koalitionstruppen und afghanische Sicherheitskräfte.

2.2 Die Aufständischen gehen in die Offensive

Im Gegensatz zum Irak, wo der Aufstand durch ehemalige Angehörige des Baath-Regimes sowie durch sunnitische Milizen relativ spontan begann, zeugte das Vorgehen der Aufständischen in Afghanistan von einer sorgfältigen Planung und Organisation im Vorfeld des späteren Guerilla-Krieges. Aus der Retroperspektive betrachtet kann man die Strategie der Aufständischen in Afghanistan durchaus mit Mao Tse-Tungs Strategie des Volkskrieges vergleichen – auch wenn die Taliban insgesamt wesentlich dezentralisierter waren als die Kommunistische Partei Maos.[18] Wie schon Mao wendeten die Taliban eine auf drei Phasen basierende Strategie an.[19]

Tab. 1:

Drei Phasen des „Volkskrieges“ nach Mao

Phase 1

Infiltrierung und anschließende Mobilisierung der Bevölkerung; Terrorismus gegen staatliche Institutionen und Amtsträger

Phase 2

Konsolidierung von Basen und Kontrolle über die lokale Bevölkerung durch Zwang und rudimentäre politische Strukturen; Guerilla-Kriegsführung

Phase 3

Offensive gegen die Regierung

Der rapide Anstieg an Anschlägen und offenen Gefechten ab dem Jahr 2006 ließ darauf schließen, dass die Aufständischen beabsichtigten, im Frühjahr 2006 die dritte Phase des Kampfes einzuleiten. Die damals vorliegenden Daten waren alarmierend: Von 2005 zu 2006 hatte sich das Operationsgebiet der Aufständischen vervierfacht, Vorfälle von direktem Beschuss hatten sich verdreifacht und Anschläge mit Sprengsätzen (Improvised Explosive Devices – IEDs) hatten sich mehr als verdoppelt. Selbstmordanschläge, eine Taktik die in der kriegerischen Geschichte Afghanistans bis dahin nicht vorkam, wurden plötzlich eine Hauptwaffe der Taliban. Im Jahr 2003 hatte es nur zwei solcher Vorfälle gegeben, im Jahr 2005 schon 21 und 2006 waren es über 136. Dabei kamen über 270 Zivilisten ums Leben und 531 Menschen wurden verwundet.[20] Insgesamt stieg die Anzahl der Angriffe auf Koalitionstruppen von 1.077 im Vorjahr auf 2.891 im Jahr 2006. Die Zahl der Anschläge auf afghanische Sicherheitskräfte nahm von 830 auf 3.543 zu.[21]

Es waren in erster Linie die gerade erst im Süden Afghanistans eingetroffenen britischen, dänischen, kanadischen und niederländischen ISAF-Kontingente, die von der Offensive der Taliban mit voller Härte getroffen wurden. Im Gegensatz zu den amerikanischen Truppen, die von 10.000 auf 20.000 Mann aufgestockt waren und schon Erfahrungen im Kampf gegen die Aufständischen gesammelt hatten,[22] waren die ISAF-Truppen nicht ausreichend vorbereitet. Sie waren in den Süden entsandt worden, um die Arbeit der PRTs zu unterstützen und abzusichern, nicht aber um sich nahezu täglich Gefechte hoher Intensität mit den Taliban zu liefern. Die ISAF-Kontingente hatten Pioniergerät und CIMIC-Teams mit sich gebracht – sie benötigten nun aber schwere Waffen und Kampftruppen. Die Aufständischen hingegen waren für den Guerilla-Kampf gut ausgerüstet und verfügten über ständigen Nachschub aus Pakistan.[23]

Im Unterschied zum Irak operierten die Aufständischen in Afghanistan hauptsächlich in ländlichen Gebieten. Die PRTs sowie der Großteil der Sicherheitskräfte befanden sich in der Nähe der Bevölkerungszentren, zumeist in den Provinzhauptstädten. Dem Schutz dieser Zentren sowie wichtiger Verkehrsverbindungen wie der Ringroad wurde – zu Recht – Priorität eingeräumt.[24] Die abgelegenen ländlichen Distrikte wurden hingegen oft nur durch die Polizei geschützt, die zumeist unterbesetzt, schlecht ausgerüstet und korrupt war.[25]

Die Aufständischen waren sich dieser Situation bewusst und versuchten erst gar nicht, die gut gesicherten urbanen Zentren direkt unter ihre Kontrolle zu bringen. Stattdessen konzentrierten sie sich auf die ländlichen Gebiete, die schwieriger von der Regierung zu kontrollieren waren und die den Aufständischen bessere Rückzugsräume boten. Anschläge auf Sicherheitskräfte und Koalitionstruppen fanden daher zumeist außerhalb der Städte statt. Nachdem die Aufständischen während ihrer Offensive von 2006 bei konzentrierten Angriffen hohe Verluste und zahlreiche taktische Niederlagen hinnehmen mussten, richteten sie ihren Kampf stärker auf Guerilla-Taktiken aus: Dazu gehörten Anschläge mit selbstgebauten Sprengsätzen (IEDs), Hit-and-Run-Angriffe aus dem Hinterhalt, Beschuss mit ungelenkten Raketen und Mörsern, sowie nicht zuletzt der Einsatz von Selbstmordattentätern. Die Lernkurve im Guerillakampf stieg ab 2006 schnell an und die Aufständischen entwickelten ihre Fähigkeit konstant weiter.

Bei den relativ seltenen Anschlägen in größeren Städten versuchten die Aufständischen mit medienwirksamem Terrorismus, wie etwa schweren Bombenanschlägen, Entführungen von Ausländern und spektakulären Aktionen von Selbstmord-Kommandos, den zivilen Statebuilding-Prozess zu behindern. Jedes Versprechen, dass die Koalition oder die Regierung aufgrund der prekären Sicherheitslage nicht erfüllen konnte, sollte die Unterstützung der Bevölkerung für die Regierung in Kabul demontieren.

Ab 2007 begannen die ISAF-Kommandeure im Süden und Osten, in deren Strukturen mittlerweile auch die meisten amerikanischen Truppen eingegliedert waren, zu verstehen, dass die Aufständischen dort bekämpft werden müssen, wo sie sich auch tatsächlich aufhalten. Daher begann die Koalition zusammen mit den afghanischen Sicherheitskräften damit, sich stärker auf die Distrikte mit starker Präsenz von Aufständischen zu konzentrieren. Dabei wurden Operationen zunehmend im Sinne der neuen amerikanischen COIN-Doktrin durchgeführt (mehr Präsenz durch Außenposten und regelmäßiges Patrouillieren, engerer Kontakt zur lokalen Bevölkerung, etc.).[26]

Der Schutz der ländlichen afghanischen Bevölkerung, die überwiegend in weitverstreuten Dörfern lebt, erwies sich jedoch als schwierig. Schlechte Infrastruktur, schwieriges Gelände und die zahlreichen kleinen Siedlungen machten es unmöglich, überall eine permanente Präsenz zu zeigen. Die Aufständischen waren sich dessen bewusst und zogen sich zurück, wenn ISAF/ANSF-Patrouillen in den Dörfern auftauchten. Es war nicht das Ziel der Aufständischen, Raum gegen die überlegenen Sicherheitskräfte zu verteidigen und zu halten. Wie der berüchtigte Taliban-Kommandeur Mullah Daduallah, der im Mai 2007 getötet wurde, in einem Interview mit Al-Jazeera sagte: “Taking cities is not part of our present tactics. […] We attack certain locations, kill the enemies of Allah there, and retreat to our safe bases in the mountains.”[27]

Der Taktik der Aufständischen war schwer entgegenzuwirken. Die Sicherheitskräfte blieben stark abhängig von Hinweisen aus der Bevölkerung (human intelligence – HUMINT) zur Identifizierung und Lokalisierung der Aufständischen. Allerdings waren die afghanischen Sicherheitskräfte und, noch deutlich stärker, die Koalitionstruppen mit dem grundsätzlichen Problem konfrontiert, dass die von den Aufständischen eingeschüchterte Bevölkerung aus nachvollziehbaren Gründen Angst hatte, Informationen Preis zu geben. Viele Dorfbewohner hatten bzw. haben eine neutrale bis positive Einstellung gegenüber der afghanischen Regierung sowie der ISAF und lehnten bzw. lehnen die Herrschaft der Taliban ab. Allerdings wussten sie, dass sie nicht permanent geschützt werden können und waren sich der harten Bestrafungen der Taliban, die „Verrätern“ droht, durchaus bewusst.[28]

Als größter Vorteil der Aufständischen erwies sich ihr Rückzugsraum in Pakistan. In den an Afghanistan angrenzenden pakistanischen Provinzen Belutschistan sowie Khyber Phunktunkwa (ehemals die North West Frontier Province – NWFP) sowie den halbautonomen Stammesgebieten (Federally Administered Tribal Areas) genossen die in Afghanistan operierenden Aufständischen ein hohes Maß an Schutz – teils aufgrund der Unzugänglichkeit und Unkontrollierbarkeit des Gebiets, teils wegen der Unterstützung von Teilen der pakistanischen Regierung. Diese Rückzugsgebiete beherbergten die Hauptquartiere der Aufstandsbewegung, in denen der Terror- und Guerilla-Krieg in Afghanistan zu einem großen Teil geplant und organisiert wurde. Auch die Rekrutierung neuer Kämpfer, die Sammlung von Spendengeldern und die Versorgung mit Waffen und Munition fanden auf pakistanischem Boden statt. Die pakistanische Regierung erwies sich als wenig erfolgreich in der Unterbindung dieser Aktivitäten und der Bekämpfung der grenzüberschreitend operierenden Aufständischen. Die Involvierung von Teilen des pakistanischen Staates in die Operationen der Aufständischen auf afghanischem Boden gilt seit Ende 2010 als bewiesen.[29]

Nachdem die Insurgency 2006 ihr volles Momentum erlangte, dehnte sich die Präsenz der Aufständischen in den drei Folgejahren auf nahezu alle Provinzen aus. Auch im tadschikisch/usbekisch dominierten Norden, wo die Taliban, die sich primär aus Paschtunen rekrutieren, weniger starken Rückhalt in der Bevölkerung hatten, nahm die Insurgency deutlich an Intensität zu. Die rapide Verschlechterung der Sicherheitslage machte Entwicklungshilfe- und Wiederaufbaumaßnahmen kaum noch durchführbar.

Sowohl afghanische zivile Staatsbedienstete als auch ausländische Entwicklungshelfer konnten sich nur noch in einem kleinen Teil des Landes frei bewegen, wodurch der Aufbau von Staatlichkeit stark beeinträchtigt oder unmöglich gemacht wurde. Vielfach mussten sich Afghanen und Ausländer, die am Aufbau von staatlichen Strukturen beteiligt waren, aus vormals sicheren und sich positiv entwickelnden Distrikten aufgrund von Drohungen, gezielten Anschlägen und Entführungen zurückziehen. Die entstandenen Lücken füllten die Schattenregierungen der Taliban. Neben den Taliban wurden darüber hinaus andere militante Gruppen, wie die grenzüberschreitend operierenden Aufständischen des Haqqani-Netzwerks, Gulbuddin Hekmatyars Hizb-e Islami und die Islamische Bewegung von Usbekistan (Islamic Movement Uzbekistan – IMU) zu einer zunehmenden Bedrohung.

Zwischen 2007 und 2009 wurde die Bekämpfung der Aufständischen in Anbetracht der desaströsen Sicherheitslage in allen ISAF-Regionalkommandos zur primären Herausforderung. Während diejenigen ISAF-Nationen, die im Süden und Osten des Landes Verantwortung übernommen hatten, seit Missionsbeginn kämpften (bzw. kämpfen mussten), taten sich die im Norden und Westen präsenten ISAF-Nationen schwer damit, diese Aufgabe anzunehmen. Dies führte nicht nur zu bitteren Vorwürfen innerhalb der Allianz, sondern trug auch maßgeblich dazu bei, dass die Aufständischen von 2008 bis 2009 einen Großteil des Gebiets in den Regionalkommandos West und Nord unter ihre Kontrolle brachten.

2.3 Risiken von Stabilisierungsmissionen

Das Beispiel der ISAF-Mission in Afghanistan lässt erkennen, wie eine Stabilisierungsmission zu einer Aufstandsbekämpfungsmission werden kann. Bei einer Stabilisierungsmission verpflichtet sich der Träger eines UN-Sicherheitsratsmandates, wie etwa die NATO, eine noch schwache Regierung beim (Wieder-)Aufbau von Sicherheit und staatlicher Ordnung aktiv zu unterstützen. Dies impliziert, dass der Mandatsträger auch im Falle einer Aufstandsbewegung gegen den neu aufzubauenden Staat dessen Regierung bei der Bewältigung dieses Aufstandes unterstützen muss. Die Gefahr ist groß, dass der intervenierende Akteur zu einer Partei in einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt wird, insbesondere dann, wenn die schwache Regierung Fehler macht (und sich weitgehend auf die eigene Bereicherung konzentriert) und Teile der Bevölkerung damit gegen sich aufbringt. Aber diese Gefahr ist gerade dann besonders groß, wenn die internationale Staatengemeinschaft Einsätze beschließt, die zwar sehr viel guten Willen erkennen lassen, bei denen aber keine klare strategische Zielsetzung gegeben ist und wo die eingesetzten Mittel nicht ausreichen, um die gesetzten operativen Ziele zu erreichen. Diese Gefahr wird dann noch umso größer, wenn sich die Politik auf Rahmenbedingungen festgelegt hat, die wenig Flexibilität im Umgang mit der Situation vor Ort erlauben.

3 Unzureichende Ressourcen und keine einheitliche Strategie

Bis 2009 wurden die Bemühungen der ISAF die wachsende Aufstandsbewegung zurückzudrängen durch diverse Probleme erschwert, für welche die an ISAF beteiligten Nationen selbst verantwortlich waren. Dazu gehörten insbesondere:

  • der Mangel an Koalitionstruppen und militärischen Ressourcen;

  • ein zu langsam erfolgender Aufbau effektiver afghanischer Sicherheitskräfte;

  • der Mangel an Entwicklungshelfern und zivilen Ressourcen; sowie

  • das Fehlen einer kohärenten Strategie und einheitlichem Handeln.

Die Ursachen, das Ausmaß und die Folgen dieser Missstände werden im Weiteren in ihren Grundzügen skizziert.

3.1 Koalitionstruppen und militärische Ressourcen

Die ISAF-Truppen sollten ursprünglich klein bleiben, um den politischen footprint der ausländischen Truppen gering zu halten. In dem Maße wie die Aufstandsaktivitäten der Taliban zunahmen und gleichzeitig die afghanischen Sicherheitskräfte weder in Quantität noch Qualität ausreichend vorhanden waren, um die Bevölkerung zu schützen, war diese Zielvorgabe nicht mehr zu halten. Die ISAF musste zusätzliche Truppen aufbringen, was in gewissem Maße auch durchaus der Logik von Stabilisierungsmissionen entsprechen sollte. Doch die erhöhte Personalstärke der ISAF war bei Weitem nicht ausreichend, um die Aktivitäten der Aufständischen abseits der Provinzzentren zu verhindern. Die zwischen 2005 und 2009 erfolgten Truppenverstärkungen blieben daher unzureichend. Bei den europäischen Nationen war wenig oder kein politischer Wille mehr vorhanden, weitere Soldaten nach Afghanistan zu senden, die USA ihrerseits konnten aufgrund der Lage im Irak nicht wesentlich mehr Truppen nach Afghanistan senden.

Das Maß der Unterversorgung an Truppen lässt sich anhand der in der Wissenschaft vorhandenen theoretischen Studien vergegenwärtigen, die den Erfolg von Statebuilding- und Counterinsurgency-Kampagnen analysiert haben. Diese kommen zu dem Ergebnis, dass pro 1.000 Einwohner mindestens 20 Sicherheitskräfte gebraucht werden, um ein Land zu stabilisieren.[30] Der tatsächliche historische Durchschnitt (d. h. wie viele Soldaten wurden in den vergangenen Jahrzehnten tatsächlich entsandt) für Missionen dieser Art liegt bei 13,26: 1.000.[31] Dobbins und Jones stellten in diesem Zusammenhang fest: “High levels of forces have generally tended to correlate with high levels of security and order and low levels of casualties. Failure to deploy sufficient numbers in a peace enforcement operation can lead to incipient local resistance taking organized and violent form […].”[32] Eine Betrachtung der entsprechenden Zahlen für Afghanistan in den Jahren bis 2009, lässt erkennen wie groß die Defizite waren.

Im Jahr 2008, also zwei Jahre nachdem die Aufstandsbewegung ihre volle Kraft entfaltet hatte, stand es um die numerische Stärke aller Sicherheitskräfte in Afghanistan wie folgt:[33]

Tab. 2:

Anzahl der Koalitionstruppen und ANSF 2008

ISAF Truppen

~ 50.000

OEF Truppen

~ 20.000

Afghanische Armee

~ 70.000

Afghanische Polizeikräfte

~ 80.000

Summe

~ 220.000

Afghanistan hatte 2010 etwa 33,6 Millionen Einwohner. Das Verhältnis der Anzahl der 220.000 Sicherheitskräfte (ausländische sowie inländische) zu der Bevölkerung lag demnach bei gerade einmal 6,5: 1.000. Zum Vergleich: Nach dem von General David Petraeus durchgesetzten Troop Surge von 2007 und verstärkten Anstrengungen der Amerikaner beim Aufbau der irakischen Sicherheitskräfte lag diese Verhältniszahl im flächenmäßig kleineren Irak bei etwa 18: 1.000, also sogar deutlich über dem historischen Durchschnitt.[34] Auch bei den Stabilisierungseinsätzen auf dem Balkan in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo, die von der Fläche einen Bruchteil Afghanistans ausmachten, war das Verhältnis der Sicherheitskräfte zu der Bevölkerung deutlich höher. Die signifikant aufgestockten Truppen im Irak und die – noch besser – von vornherein verhältnismäßig hohe Truppenpräsenz in Bosnien und in Kosovo wirkten sich positiv auf die jeweilige Sicherheitslage aus.

Neben der unzureichenden Anzahl an Bodentruppen litt die Koalition auch lange unter materiellen Engpässen. Als prominentes Beispiel für Mangelgüter der ISAF sollen hier Hubschrauber und gegen Sprengfallen geschützte Fahrzeuge genannt werden. Helikopter ermöglichen den schnellen Transport von Soldaten und Material über große Distanzen. Diese Fähigkeit ist gerade angesichts des unwegsamen Geländes und der weiterverstreuten Siedlungen in Afghanistan entscheidend. Darüber hinaus sichern Luftrettungsfähigkeiten die Option der schnellen Evakuierung und medizinischen Versorgung von Soldaten, damit diese auch in größerer Distanz zum Feldlager operieren können. Kampfhubschrauber – wie der von den französischen Streitkräften erfolgreich in Afghanistan eingesetzte Eurocopter Tiger – können präzise und im Gegensatz zu Kampflugzeugen besser „dosierte“ Luftnahunterstützung geben. Auch sind sie häufig eine effektive Abschreckung gegen Hinterhalte. In vielen Operationsgebieten der ISAF herrschte ein Mangel an allen drei genannten Fähigkeiten aufgrund einer ungenügenden Anzahl an Helikoptern. Neben Helikoptern fehlte es, vor dem Hintergrund der rapide zunehmenden IED-Anschläge, an ausreichend geschützten Fahrzeugen. Dies minderte ebenfalls die für den Auftrag dringend erforderliche Mobilität der ISAF-Kräfte.

3.2 Afghanische Sicherheitskräfte

Fähige afghanische Sicherheitskräfte waren die Grundvoraussetzung für die Reduzierung der ISAF-Präsenz und waren unerlässlich, um Räume nachhaltig zu sichern, aus denen die Aufständischen verdrängt wurden. Von 2002 bis 2007 ging der Aufbau der ANA und der Polizeikräfte (ANP) bestehend aus Afghan Border Police, Afghan Unifomed Police (AUB) und Afghan National Civil Order Police (ANCOP) deutlich zu langsam voran. 2007 besaß die ANA eine Gesamtstärke von 50.000 Soldaten und dem Innenministerium unterstanden etwa 75.000 Polizisten. Angesichts des dringenden Bedarfs an Sicherheitskräften zum Schutz der Bevölkerung war dies zu wenig. Darüber hinaus war die Leistungsfähigkeit der afghanischen Sicherheitskräfte begrenzt, was nicht zuletzt an dem minimalistischen Ausbildungsprogramm lag.

 Rekruten der Afghanischen Nationalarmee

Rekruten der Afghanischen Nationalarmee

Die Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte wurde dadurch erschwert, dass sich ein großer Teil der Polizei- und Armeerekruten auf einem sehr niedrigen Bildungsniveau befanden, das sich unmittelbar auf die persönliche Leistungs- und Lernfähigkeit auswirkte. Es bestand eine hohe Analphabeten-Rate und viele Rekruten waren bildungsfern und hatten nur ein geringes Konzentrations- und Aufnahmevermögen.

Der schleppende Aufbau von ANA und ANP bis 2007 ist aber auch maßgeblich auf zwei Versäumnisse der Koalition zurückzuführen. Erstens standen auch hier zu wenige Ressourcen bereit. Es mangelte an Ausbildern, Trainingseinrichtungen sowie an Ausrüstung für die neuausgebildeten Soldaten und Polizisten. Die Notwendigkeit mit den geringen Ressourcen dennoch eine möglichst große Anzahl an Sicherheitskräften auszubilden und schnell in den Einsatz zu schicken führte dazu, dass die meisten Soldaten nur eine äußerst dürftige Grundausbildung erhielten. Oft unmittelbar danach mussten sich die Sicherheitskräfte, zumeist nur mit dem Nötigsten ausgerüstet, im Gefecht bewähren.

Als zweites Problem muss der Mangel an Koordination und Führung bei den Ausbildungsmaßnahmen genannt werden. Die Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte erfolgte durch von unterschiedlichen Nationen sowie von privaten Akteuren betriebene Einrichtungen. Die Folge waren starke Variationen bei den Ausbildungsstandards.

Im Vergleich zu den afghanischen Polizeikräften schnitten die Streitkräfte (ANA) deutlich besser ab. Dies lag zu einen daran, dass das Aufgabenprofil der Polizei grundsätzlich herausfordernder ist. Während die Armee primär dafür zuständig war, Aufständische aus bestimmten Gebieten zu verdrängen und anschließend deren Rückkehr zu verhindern, musste die Polizei durch permanente Präsenz in der Bevölkerung nachhaltig Recht und Ordnung herstellen. Die Arbeit eines Polizisten in Afghanistan war daher komplexer als die eines einfachen Soldaten und erforderte eine gründliche Ausbildung, die oftmals mit dem Erlernen der Lese- und Schreibfähigkeit beginnen musste. Gleichzeitig mussten die Polizisten aber auch in schweren Feuergefechten bestehen. Die Diskrepanz zwischen den Ansprüchen, die der Westen lange Zeit an die afghanische Polizei stellte, und den für die entsprechende Ausbildung bereit gestellten Ressourcen war erschreckend.

Allerdings muss die Leistungsschwäche der ANP auch auf die weitverbreitete Korruption zurückgeführt werden. Dass Korruption ein größeres Problem innerhalb der Polizei als in der afghanischen Armee darstellte, lag daran, dass der generelle Zuständigkeitsbereich der Polizei und der tägliche Kontakt zur Bevölkerung wesentlich mehr Gelegenheit zum Amtsmissbrauch boten. Somit wurde die permanente Präsenz der Polizei in der Bevölkerung, die erforderlich war, um die Menschen zu schützen, Vertrauen aufzubauen und Informationen über die Aktivitäten der Aufständischen zu erhalten, auch zu einem Katalysator für Korruption. Darüber hinaus waren die afghanischen Polizeikräfte aufgrund der schwachen staatlichen Präsenz auf Distrikt- und Provinz-Ebene oftmals loyaler gegenüber lokalen Machthabern als gegenüber der Regierung in Kabul. Aus diesen Gründen hatte die Polizei im Gegensatz zur Armee vielerorts einen schlechten Ruf und wurde ihrer Schlüsselrolle in der Aufstandsbekämpfung oft nicht gerecht.

3.3 Entwicklungshelfer und zivile Ressourcen

Die Erfahrungen im Irak, in Afghanistan, Somalia, etc. haben gezeigt, dass Wiederaufbau ohne Sicherheit nicht möglich ist. Gleichsam bedarf es aber auch einer sichtbaren und nachhaltigen Verbesserung der Lebensumstände der lokalen Bevölkerung, nachdem die Sicherheit in einem Gebiet hergestellt worden ist. Der (Wieder-) Aufbauprozess sollte unmittelbar im Anschluss an die Kampfhandlungen folgen, dabei war ungeplanter Aktionismus zu vermeiden. Diese theoretisch leicht nachvollziehbaren Grundsätze haben sich in Afghanistan als in der Praxis schwierig umsetzbar erwiesen.

Die wesentliche Ursache dafür, dass der zivile Aufbau in Afghanistan nicht vorankamen, war der Mangel an finanziellen Ressourcen, an zivilem Fachpersonal und vor allem an der notwendigen Koordination und Leitung.

Die finanziellen Ressourcen erscheinen auf den ersten Blick gar nicht mal so knapp. Immerhin erhielt Afghanistan zwischen 2005 und 2007 3,2 Milliarden Dollar an internationaler Aufbauhilfe. Dieser Betrag war zu diesem Zeitpunkt jedoch nur ein Viertel der Summe, welche die internationale Gemeinschaft gleichzeitig dem Irak bereitstellte.[35] Diese Diskrepanz war umso bedeutsamer, weil der Irak in allen Bereichen (Wirtschaft, Infrastruktur, Verwaltung, etc.) von vornherein erheblich besser entwickelt war als Afghanistan. Darüber hinaus flossen viele Gelder unkoordiniert an die afghanische Zentralregierung und in die Provinzen, ohne dass die sinnvolle und ordnungsgemäße Verwendung der Mittel ausreichend überprüft werden konnte. Dieses Geld war vermutlich ein weiterer Katalysator für Korruption, verfestigte Machtstrukturen und endete nicht selten auf Umwegen auch bei den Aufständischen, deren Netzwerke weit in die afghanische Politik und Wirtschaft reichten. Auf Distriktebene wiederum erzeugten Entwicklungsprojekte, die ohne genauere Beachtung der komplexen lokalen Machtstrukturen durchgeführt wurden, oft neue Kleinkonflikte zwischen Afghanen, die von den Aufständischen zu eigenen Gunsten ausgenutzt werden konnten.

Der Personalmangel im zivilen Sektor führte dazu, dass selbst wenn materielle und finanzielle Ressourcen für Entwicklungs- und Wiederaufbauprojekte vorhanden waren, diese nicht durch ausreichende zivile Fachkräfte betreut werden konnten. Dadurch wurden Projekte stark verzögert, ausgesetzt oder mussten von militärischem Personal durchgeführt werden. Im letzteren Fall führte dies jedoch zu der – begründbaren – Kritik, dass Entwicklungshilfe nicht (langfristig) militarisiert werden darf. Oft wurde solche Kritik von Akteuren geäußert, die eigentlich die Betreuung solcher Projekte hätten übernehmen sollen, dieses aber wegen der damit verbundenen Gefahren ablehnten. Zu dem nicht ausreichend vorhandenen zivilen Personal zählten Experten für den Aufbau von Verwaltungsapparaten, Juristen, Agrarexperten, etc.

Das Missverhältnis zwischen zivilen und militärischen Kräften wird am Beispiel des von den Vereinigten Staaten im Jahr 2008 nach Afghanistan entsandten Personal deutlich: Auf mehr als 30.000 Soldaten kamen weniger als 300 zivile Regierungsmitarbeiter.[36] Auch wenn dieses Missverhältnis bei den anderen ISAF-Nationen nicht so drastisch ausfiel, da diese generell weniger Truppen im Einsatz hatten, so war auch hier der Anteil an Mitarbeitern von zivilen Ministerien relativ gering. Die als zivil-militärische Gemeinschaftsprojekte konzipierten PRTs blieben hinsichtlich der zivilen Personalstärke häufig unausgewogen.

Neben finanziellen Engpässen und Personalmangel zeigte sich auch, dass das Verhältnis zwischen zivilen Akteuren und dem Militär teilweise sehr belastet war. Während Militärs in der Regel versuchten, sich mit anderen beteiligten Akteuren abzustimmen, war die entsprechende Bereitschaft bei zivilen Akteuren nicht immer hoch. Nichtregierungsorganisationen (NGOs), Internationale Organisationen, aber auch zivile Ressorts einiger Staaten mieden häufig jeglichen Kontakt zum Militär. Dies wurde zumeist damit begründet, dass die Präsenz des Militärs eine Gefährdung für die Zivilisten darstelle, weil diese von den Aufständischen als Verbündete des Militärs angesehen würden. Nicht selten stand dahinter aber auch ein falsch verstandener Pazifismus oder gar ideologisch motivierter Anti-Militarismus. Die Folge ist, dass zivile Akteure genau in den Gebieten fehlten, wo sie am dringendsten gebraucht werden. Die Aktivitäten der meisten NGOs blieben in Afghanistan auf Kabul und die anderen Provinzhauptstädte beschränkt. Aber auch afghanische Regierungsvertreter waren oft nicht bereit, in unruhigen Provinzen zu arbeiten, was jedoch auch daran lag, dass Repräsentanten des Staates primäre Ziele von terroristischen Anschlägen waren.

Nicht zuletzt spiegelten sich die Differenzen zwischen zivilen und militärischen Akteuren auch im Verhältnis zwischen den beiden wichtigsten in Afghanistan aktiven internationalen Organisationen wider. Vertreter der UNAMA als auch der NATO klagten über mangelnde Kooperation aber auch über Zuständigkeitskonflikte. So kritisierte die NATO, dass die eigentlich für die übergeordnete Koordinierung aller Statebuilding Maßnahmen in Afghanistan verantwortliche UNAMA mit ihrer Aufgabe überfordert sei. Die UNAMA hingegen beanstandete, dass die NATO und die an ISAF beteiligten Staaten, deren militärische Mission aufgrund der Sicherheitslage ein immer größeres Ausmaß angenommen hat, die zivile Mission der Vereinten Nationen an den Rand des Geschehens drängen. Vielversprechende Pläne des NATO Allied Joint Force Command und des UNAMA Sonderbeauftragten Tom Koenigs (2006–2007), gemeinsam diese Probleme zu lösen und eine bessere Koordination und Kooperation zwischen den beiden Missionen herzustellen, wurden 2008 von Koenigs Nachfolger wieder verworfen.

3.4 Strategie und einheitliches Handeln

An der Herstellung von Sicherheit und dem Wiederaufbau von Staatlichkeit in Afghanistan waren zahlreiche internationale staatliche und nicht-staatliche Akteure sowie die afghanische Regierung selbst beteiligt. Die oben umrissenen grundsätzlichen Probleme der Kooperation zwischen zivilen und militärischen Akteuren, die Koordinationsschwierigkeiten bei der Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte, sowie die auf höchster politischer Ebene ausgetragenen Differenzen zwischen den ISAF-Staaten hinsichtlich der Bereitschaft, Truppen für den Kampf zu stellen, demonstrierten, dass die in Afghanistan präsente Koalition bei Weitem nicht einheitlich handelte.

Die militärischen Maßnahmen zur Aufstandsbekämpfung litten auch unter der Problematik, dass weder das ISAF-Mandat noch das OEF-Mandat für Counterinsurgency ausgelegt waren. Bei der Konzipierung der ISAF-Mission zur Absicherung des Wiederaufbauprozesses wurde die Gefahr einer Insurgency zwar nicht ausgeschlossen, aber die damit verbundenen Implikationen wurden massiv unterschätzt. Das OEF-Mandat hatte von vornherein nicht die militärische Unterstützung der afghanischen Regierung zum Ziel, sondern nur die Zerschlagung von Al-Qaida. Während die beiden Missionen in der Realität im Einsatzgebiet schon ab 2006 miteinander de-facto zu einer gemeinsamen Counterinsurgency-Kampagne verschmolzen, wurde auf den oberen militärischen Führungsebenen zu lange und zu strikt an der Trennung der beiden Missionen festgehalten. Verschiedene Kommandostrukturen, verschiedene Stäbe und verschiedene Kommunikationslinien verursachten Effizienzverluste.

Als General Dan McNeil im Februar 2007 das Kommando beider Missionen übertragen bekam, war die Schaffung dieses „Doppel-Huts“ ein wichtiger Fortschritt. Die Truppen und PRTs der einzelnen Nationen operierten jedoch weiterhin hauptsächlich gemäß den eigenen Einsatzrichtlinien und Strategien. Dies verhinderte weitgehend die Umsetzung einer auf die Gesamtsituation in Afghanistan angepassten, kohärenten Strategie. Eine der Sicherheitslage angemessene Strategie hätte schon frühzeitig die Aufständischen landesweit gleichmäßig unter Druck setzen können und die Ausdehnung der Insurgency zumindest eingedämmt.

4 Die ISAF-Counterinsurgency-Strategie ab 2009

Es lässt sich festhalten, dass zwischen 2006 und 2009 in den Streitkräften aller NATO-Partnernationen Counterinsurgency als zentrale Herausforderung der Koalition erkannt worden war. Bottom-up-Initiativen wie etwa der Aufbau eines Counterinsurgency Training Center Afghanistan (CTC-A) ab 2006, aber besonders die – im Rahmen des Möglichen – eigenständigen taktischen Anpassung der Einsatzkontingente vor Ort machten dies deutlich. Die wachsende Erfahrung in der Aufstandsbekämpfung sowie die Einführung der einflussreichen amerikanischen COIN-Doktrin prägten das Verständnis der Koalitionsstreitkräfte für Counterinsurgency. Auch eine zunehmende Anzahl von zuvor skeptischen zivilen Akteuren begann zu realisieren, dass kein Wiederaufbau ohne die vorherige Herstellung von Sicherheit möglich ist. Dennoch verhinderten die militärische Auslastung der Vereinigten Staaten im Irak und der politische Unwille der europäischen Bündnispartner, dass die für die Umsetzung einer effektiven Counterinsurgency-Strategie notwendigen Ressourcen bereitgestellt wurden.

Die Notwendigkeit einer strategischen Neuausrichtung der ISAF-Mission war spätestens ab 2008 erkannt und wurde von zahlreichen Stimmen gefordert. Der entscheidende politische und militärische Impuls dazu musste von Washington ausgehen. Dafür standen die Bedingungen anfangs nicht sehr gut. Aufgrund der Lage im Irak und der dortigen Truppenaufstockung Anfang 2007 fehlten den Vereinigten Staaten hierfür in den beiden Folgejahren die militärischen Ressourcen. Darüber hinaus war US-Präsident George W. Bush nicht mehr gewillt, kurz vor dem Ende seiner zweiten Amtsperiode und inmitten der globalen Finanzkrise, die schwerwiegende außenpolitische Entscheidung einer Strategieänderung in Afghanistan zu fällen. Die strategische Neuausrichtung der ISAF-Mission begann daher erst mit Amtsantritt des neu-gewählten US-Präsidenten Barack Obama Anfang 2009. Obama hatte schon während seines Wahlkampfes deutlich gemacht, dass die Bekämpfung des Terrorismus in Afghanistan und Pakistan zu seinen außenpolitischen Primärzielen gehöre. Er wies mehrfach darauf hin, dass sich die Basen der radikal-islamistischen Terroristen, welche die verheerenden Anschläge vom 11. September 2001 organisiert hatten, in Afghanistan und nicht im Irak befänden. Obama hatte seinen Amtsvorgänger George W. Bush mehrfach scharf dafür kritisiert, dass dieser ein außenpolitisches Abenteuer im Irak einleitete, welches enorme Ressourcen verschlang, während der Kampf gegen die Taliban und Osama Bin-Ladens Al-Qaida in Afghanistan sträflich vernachlässigt wurde.[37]

4.1 Politische Weichenstellungen

Am 27. März 2009 stellte Obama offiziell seine Grand Strategy für Afghanistan und Pakistan vor. Die neue Af-Pak-Strategie war primär eine amerikanische Strategie, die auf amerikanischen zivilen und militärischen Ressourcen beruhte. Es handelte sich um eine regionale Strategie im Kampf gegen den Terrorismus, die nicht allein auf Afghanistan fokussiert war, sondern auch auf die angrenzenden Staaten einbezog. Insbesondere Pakistan und die nördlichen Nachbarstaaten sollen dabei stärker involviert werden, um politische Lösungen bei der Stabilisierung der gesamten Region zu finden. Trotz dieses dezidiert regionalen Ansatzes stand Afghanistan im Mittelpunkt der Af-Pak-Strategie.

Vom ersten Tag seiner Präsidentschaft an stand Obama unter starkem politischen Druck, Erfolge in Afghanistan vorzuweisen und auf ein Ende des kostspieligen Militäreinsatzes in möglichst absehbarer Zeit hinzuarbeiten. Der Abzug der Koalitionstruppen setzte die Übergabe der Verantwortung für die Sicherheit an die afghanische Regierung voraus. Der neuen US-Regierung war bewusst, dass diese Verantwortungsübergabe nur dann möglich war, wenn das Momentum der Aufständischen gebrochen werden kann. Vor diesem Hintergrund sollte die Bekämpfung der Aufstandsbewegung den Schwerpunkt aller militärischen wie auch zivilen Maßnahmen bilden.[38]

Im Juni 2009 übernahm General Stanley McChrystal das Kommando über die ISAF und alle weiteren amerikanischen Truppen in Afghanistan. Der vorherige Kommandeur David McKiernan wurde vorzeitig abgelöst.[39] Durch diese Personalentscheidung markierte US-Präsident Obama deutlich den Bruch mit der alten Afghanistan-Politik. McChrystal war aufgrund seiner Erfahrung im Bereich Counterinsurgency handverlesen worden, um eine Aufstandsbekämpfungsstrategie für Afghanistan zu entwickeln, militärisch zu planen und operativ umzusetzen. In den ersten zwei Monaten nach Übernahme des ISAF-Kommandos verschaffte sich McChrystal mit einem Team von zivilen und militärischen Experten ein umfassendes Lagebild. Nach eingehender Analyse und Bewertung der Situation wurden im August zwei Strategiedokumente veröffentlicht:

 US-Präsident Barack Obama und General Stanley McChrystal

US-Präsident Barack Obama und General Stanley McChrystal

Am 10. August 2009 legten McChrystal[40] und Botschafter Karl Eikenberry, der damalige Vertreter der Vereinigten Staaten in Kabul, den Integrated Civilian-Military Campaign Plan for Support to Afghanistan als offizielles Strategiedokument der US-Regierung vor. Der Schutz der Bevölkerung sowie die ressortübergreifende zivil-militärische Kooperation auf allen Ebenen (Unity of Effort) auf Basis der US-COIN Doktrin wie auch die forcierte Förderung von afghanischer Verantwortungsübernahme waren die zentralen Inhalte dieser neuen integrierten zivil-militärischen Afghanistan-Strategie der Vereinigten Staaten. Dabei wurden für ganz Afghanistan strategisch relevante Gebiete ausgemacht und festgelegt, die auch Räume außerhalb des bisherigen Präsenzraums von US-Truppen, wie etwa den Kunduz-Baghlan Korridor im RC-N, umfassten. So wurde der Integrated Civilian-Military Campaign Plan zum strategischen Grundlagendokument der Ausdehnung amerikanischer Truppenpräsenz in alle Regionalkommandos. Obwohl es sich um ein rein amerikanisches, d. h. nationales Strategiedokument handelt, wurde betont, dass der Erfolg dieser Strategie von der engen Zusammenarbeit mit den Koalitionspartnern im Rahmen von ISAF und UNAMA abhänge. Dabei wurde die Absicht explizit erwähnt, die Koalitionspartner in die auf der ame-rikanischen COIN-Doktrin basierenden Kampagne einzubinden: „This requires an agreement on how to bring together USG COIN objectives with the approach of many international partners in a mutually supportive and sequenced manner.”[41]

Am 30. August 2009, drei Wochen nach Erscheinen des Intergrated Campaign Plans der amerikanischen Regierung legte McChrystal in seiner Funktion als ISAF-Kommandeur den Commander’s Initial Assessment Report vor, der nach Übernahme des ISAF-Kommandos im Auftrag des NATO-Generalsekretärs und des US-Verteidigungsministers verfasst werden sollte. McChrystals Bericht war weit mehr als eine Lagebeurteilung, sondern vielmehr ein Entwurf für eine ISAF-Counterinsurgency-Strategie. Der Entwurf enthielt dabei alle wesentlichen Elemente der kurz zuvor veröffentlichten nationalen US-Strategie für Afghanistan. McChrystal betonte allerdings, dass nur ein von der gesamten Koalition getragener Wechsel hin zu einer umfassenden zivil-militärischen Counterinsurgency-Strategie, welche mit den dazu erforderlichen Ressourcen unterfüttert werde, der einzige Weg sein könne, in Afghanistan die Initiative zurückzugewinnen. Falls ein solcher Strategiewechsel nicht innerhalb der der nächsten zwölf Monate erfolge, sei es nicht mehr möglich, die Aufständischen zu besiegen.[42] Mit letztgenannter Aussage zeichnete der ISAF-Kommandeur nicht nur ein unmissverständliches Bild von der Lage in Afghanistan, sondern erzeugte auch einen erheblichen politischen Druck.

4.2 Die McChrystal-Strategie – Counterinsurgency als Auftrag der ISAF

Der Fokus der von McChrystal entwickelten neuen ISAF-Strategie lag – wie im Irak – auf der Bevölkerung, die vor der Gewalt der Aufständischen, wie auch vor Korruption und anderem Unrecht, geschützt werden muss, um die Insurgency zu besiegen. Diese Strategie beruhte auf vier Säulen:[43]

  1. Steigerung der Effizienz der afghanischen Sicherheitskräfte durch konsequentes Partnering mit ihnen, insbesondere sollte deren Aufbau massiv vorangetrieben werden.

  2. Verbesserung der Regierungsführung auf allen Ebenen.

  3. Zurückgewinnung der Initiative durch massiven militärischen Druck und unmittelbar nachfolgende und koordinierte zivile Maßnahmen.

  4. Fokussierung der Ressourcen auf strategisch wichtige Schlüsselgebiete, um dort den bestmöglichen Effekt zu erzielen.

Als Grundvoraussetzung zur erfolgreichen Umsetzung dieser vier Punkte forderte McChrystal von den Truppen der ISAF-Koalitionspartner einen Bruch mit deren vorherigem modus operandi und die Übernahme der amerikanischen COIN-Doktrin. Gleichzeitig kündigte der ISAF-Kommandeur eine tiefgreifende Reform der ISAF-Kommandostrukturen an, um die dringend erforderliche Koordination und Kohärenz (Unity of Effort) innerhalb der Koalition herzustellen. Zur Realisierung einer wirkungsvollen Präsenz in der Fläche und zur Unterstützung der Ausbildung afghanischer Kräfte forderte McChrystal mindestens 40.000 zusätzliche Truppen.[44] Insgesamt wurden mit McChrystals Initial Assessment und dem darin geforderten Strategiewechsel alle zentralen Probleme der Koalition deutlich angesprochen.

Die neue Strategie des ISAF-Kommandeurs erfuhr von Beginn an ein hohes Maß an Aufmerksamkeit in den Medien und wurde in kurzer Zeit als „McChrystal-Strategie“ bekannt. In Washington, aber auch in den europäischen Hauptstädten, wurde die McChrystal-Strategie damit zur Grundlage einer intensiven politischen Debatte um einen strategischen Paradigmenwechsel in Afghanistan zu bewirken. Die Frage nach der Anzahl der benötigten Truppen ging Hand in Hand mit McChrystals Forderung, den Fokus auf den Schutz der afghanischen Bevölkerung zu legen. Als ISAF-Kommandeur setzte sich McChrystal energisch dafür ein, dass nicht nur die amerikanischen Truppen in Afghanistan, sondern auch die anderen ISAF-Koalitionspartner die US-COIN-Doktrin verinnerlichen und ihr militärisches und ziviles Vorgehen an seine neue Strategie anpassen sollten.[45] Den meisten sachverständigen Beobachtern war bewusst, dass die dazu notwendige Präsenz in der Fläche eine deutlich höhere Intensität der Kampfoperationen implizierte und die Prämissen der COIN-Doktrin das Risiko für den einzelnen Soldaten erhöhten.

Es ist bezeichnend, dass erst nach über sieben Jahren des internationalen Engagements eine klar identifizierbare und mit einem Namen versehene Strategie für Afghanistan in der Politik und in den Medien diskutiert wurde. Nie zuvor erhielten die Lage am Hindukusch, die Probleme der Soldaten und zivilen Akteure vor Ort, sowie die bekannten strategischen und politischen Fehler, ein vergleichbares Maß an Aufmerksamkeit. In Deutschland hatte der Luftangriff bei Kunduz vom 4. September 2009 in diesem Zusammenhang nochmals einen verstärkenden Effekt. Da die Debatte zur McChrystal-Strategie auf beiden Seiten des Atlantiks stattfand, wurde so auch der Begriff Counterinsurgency bzw. COIN erstmalig in die deutsche Öffentlichkeit getragen.

Im Oktober 2009 stellte General McChrystal auf dem Treffen der NATO-Verteidigungsminister in Bratislava seine Counterinsurgency-Strategie für Afghanistan persönlich vor und stieß dabei auf eine grundsätzliche Befürwortung des neuen Ansatzes.[46] Auch den Europäern waren die kritische Sicherheitslage und die Tatsache, dass ohne zeitnahes und entschlossenes Handeln der Raumgewinn der Aufständischen unumkehrbar werden würde, bewusst. Daher wurde die grundsätzliche Logik einer stärkeren Truppenpräsenz in der Fläche zum Schutz von Bevölkerung und Wiederaufbau nicht mehr in Frage gestellt. Doch solange die US-Regierung sich selbst noch nicht zur Anzahl der Truppen und dem Umfang der Ressourcen, die sie zur Umsetzung der Strategie bereitstellen würde, geäußert hatte, erfolgte auch von Seiten der europäischen Staaten kein offizielles Bekenntnis zur neuen Strategie.

In Washington fiel die Entscheidung über die Truppenverstärkung Ende November 2009. Die von der internationalen Wirtschaftskrise stark getroffenen Vereinigten Staaten waren sich bewusst, dass sie die personelle und finanzielle Hauptlast der neuen Afghanistan-Strategie tragen würden. Die von McChrystal geforderten Ressourcen zur adäquaten Umsetzung einer erfolgversprechenden Counterinsurgency-Strategie waren beträchtlich. Präsident Obama hatte die Afghanistan-Strategie seines Amtsvorgängers eingehend überprüft (Strategic Review) und mit seiner bereits im März 2009 vorgestellten Af-Pak-Strategie und dem U.S. Government Integrated Civilian-Military Campaign Plan for Support to Afghanistan vom 10. August 2010 die politischen Weichen für eine umfassende Counterinsurgency-Strategie gestellt. General McChrystal hatte darauf basierend die militärische (und z. T. zivile) Umsetzung einer solchen Strategie ausgearbeitet. Angesichts der angespannten Haushaltslage und der hohen Kosten unterzog die Obama-Administration ihre selbst eingeleitete Strategie einer zweiten Überprüfung (Second Strategic Review). Dieser Prozess dauerte von September bis Ende November. Der Prozess zog sich deshalb so lange hin, weil es innerhalb der Administration – insbesondere getragen durch Vizepräsident Joseph Biden – eine starke Strömung gab, deren Vertreter den weitgehenden Rückzug aus Afghanistan befürworteten und die sich dafür aussprachen, al-Qaida und andere extremistische Kräfte in der Region mit Drohnen zu bekämpfen. Obama entschied sich nach langem Abwägen gegen diesen Vorschlag.

Am 1. Dezember 2009 verkündigte Präsident Obama an der Militärakademie in Westpoint offiziell seine Entscheidung: 30.000 zusätzliche Soldaten sollten nach Afghanistan entsandt werden. Auch wenn dies nicht den von McChrystal gewünschten 40.000 Soldaten entsprach, hatte Obama mit diesem Troop Surge im Wesentlichen die Voraussetzung für eine größere Präsenz von Kräften in der Fläche geschaffen und sich somit für die von dem ISAF-Kommandeur geforderte „klassische“ Counterinsurgency-Strategie entschieden. Obama betonte bei der Ankündigung des Surge allerdings ausdrücklich, dass die zusätzlichen amerikanischen Truppen bereits 2011 wieder reduziert würden. Der Surge hätte den Zweck, der ISAF die Möglichkeit zu verschaffen um die Initiative zurückzugewinnen. Die massive Präsenz von ISAF-Truppen könne ein zweijähriges Zeitfenster schaffen, in dem der afghanische Staat ausreichend Kapazitäten entwickeln solle, um auf absehbare Zeit ohne aktive Unterstützung der ISAF für ein Mindestmaß an Sicherheit und Ordnung zu sorgen. Vor diesem Hintergrund sollte ein noch nie da gewesener Aufwand in der ANSF-Ausbildung betrieben werden. Der Aufbau belastbarer staatlicher Strukturen müsse dabei u. a. durch eine Aufstockung an zivilen Entwicklungshelfern (Civilan Surge) stärker als zuvor unterstützt werden. Im Zuge der für Ende 2011 angekündigten Truppenreduzierung könne dann bereits die Übergabe der Sicherheitsverantwortung an die Afghanen einsetzen. Afghan Ownership wurde damit gleichzeitig Mittel und Zweck der neuen zivil-militärischen Strategie.

Bereits drei Tage nachdem Präsident Obama die amerikanische Truppenaufstockung in Westpoint bekanntgegeben hatte, einigten sich die NATO-Verteidigungsminister (am 4. Dezember 2009) in Brüssel darauf, General McChrystals Counterinsurgency-Strategie für die gesamte ISAF als NATO-Strategie zu übernehmen. Die europäischen Staaten kündigten dabei an, ebenfalls ca. 7.000 zusätzliche Soldaten für den Surge bereitzustellen.[47] Damit erreichte die ISAF fortan eine Personalstärke von über 130.000.

4.4 Verantwortungsübergabe als Ziel aller militärischen und zivilen Anstrengungen

Der neue Ansatz in der amerikanischen Afghanistan-Politik spiegelte sich klar in den wichtigsten internationalen Konferenzen zu Afghanistan wider, die nach Amtsantritt der Obama-Regierung abgehalten wurden. Hier erreichten es die Vereinigten Staaten, schrittweise einen breiten Konsens innerhalb der Koalition für eine gemeinsame, umfassende und kohärente zivil-militärische Strategie für Afghanistan zu schaffen. Die Prämissen der COIN-Doktrin wurden dabei zur überzeugenden argumentativen Grundlage der Vereinigten Staaten.

Mit Ausnahme der Bonner Konferenz vom Dezember 2001 lag bis 2009 der inhaltliche Schwerpunkt der von den Geber-Ländern organisierten internationalen Afghanistan-Konferenzen (Tokio 2002, Berlin 2004, London 2006, Rom 2007, Paris 2008) hauptsächlich auf Fragen der zivilen Entwicklungszusammenarbeit während die militärischen Herausforderungen im Rahmen von hochrangigen NATO-Konferenzen diskutiert wurden. Ab 2009 wurden die sicherheitspolitischen und entwicklungspolitischen Probleme Afghanistans nun erstmals systematisch miteinander verknüpft. Dies ermöglichte die Einbeziehung aller relevanten Akteure und Perspektiven auf höchster politischer Ebene. Die amerikanische COIN-Doktrin als konzeptionelle Basis für eine zivil-militärische Aufstandsbekämpfung gelangte so auch in europäischen Regierungskreisen auf die politische Agenda.

Bei einer inhaltlichen Zusammenfassung der wichtigsten Konferenzen seit 2009 wurde die schrittweise erfolgende Konkretisierung eines strategischen Konsenses innerhalb der internationalen Koalition deutlich:

Nach mehreren Monaten der politischen Vorbereitung markierte die Londoner Afghanistan-Konferenz vom Januar 2010 den Zeitpunkt des offiziellen Strategiewechsels der gesamten internationalen Koalition. Dabei einigten sich die teilnehmenden Staaten auf einen – zeitlich begrenzten – militärischen und zivilen Kraftaufwand, der es ermöglichen sollte, in absehbarer Zeit die Rahmenbedingungen für einen Abzug der ISAF zu schaffen. Die am 28. Januar 2010 durch Regierungsvertreter der internationalen Koalition in London beschlossenen Maßnahmen wurden im Juli 2010 auf der Kabuler Konferenz bekräftigt und z. T. noch weiter konkretisiert. Vor allem wurde mit „Ende 2014“ ein Datum für die vollständige Übergabe der Sicherheitsverantwortung an die Afghanen und den Abzug aller internationalen Kampftruppen festgelegt. Die Regierungen der NATO-Staaten, die afghanische Regierung – aber auch die Aufständischen – konnten nun mit einem Abzugsdatum arbeiten. Der Zeitraum, welcher der ISAF verblieb, um die Sicherheitslage mit dem großflächigen Einsatz eigener Kräfte zu verbessern, war nun klar definiert.

Die Londoner Konferenz leitete nicht nur den Beginn der schrittweisen Übergabe der Sicherheitsverantwortung an die afghanische Regierung ein, sondern repräsentierte nach neun Jahren erstmalig eine kohärente Strategie für Afghanistan. Das gemeinsame politische Bekenntnis zum Schutz der Bevölkerung durch das Zusammenwirken der ISAF mit den afghanischen Sicherheitskräften „in der Fläche“ sowie die Einsicht zur Notwendigkeit einer effektiven Zusammenarbeit zwischen zivilen und militärischen Akteuren ließen damit die Grundannahmen der amerikanischen COIN-Doktrin zum politischen Konsens innerhalb der Koalition werden. Damit wurde die von den Amerikanern und einigen anderen NATO-Staaten faktisch längst erfolgte Fokussierung auf Counterinsurgency nun – unter Berücksichtigung nationaler Einsatzvorbehalte – endgültig zum strategischen Gesamtkonzept der ISAF.

Die in London beschlossene Strategie ließ sich wie folgt zusammenfassen:

  1. Ausgehend von der Grundannahme, dass der Schutz der Bevölkerung in der Aufstandsbekämpfung entscheidend ist, wurde die ISAF durch den Troop Surge auf ca. 130.000 Männer und Frauen vergrößert. Mit den zusätzlichen ISAF-Kräften sollte eine deutlich größere Präsenz in der Fläche erzeugt werden, um so Räume nachhaltig zu sichern.

  2. Das direkte Zusammenwirken mit afghanischen Sicherheitskräften (Partnering) sollte eine kohärentere Operationsführung zwischen Afghanen und der ISAF ermöglichen. Gleichzeitig sollte das stetige Partnering in laufenden Einsätzen die Leistungsfähigkeit von ANA und ANP erhöhen und auf die eigenverantwortliche Durchführung von Missionen vorbereiten.

  3. Zur Gewährleistung einer ausreichenden Präsenz von gut ausgebildeten afghanischen Sicherheitskräften, vor allem im Hinblick auf die Einleitung der schrittweisen Übergabe von Sicherheitsverantwortung an die Afghanen ab 2011, sollten die ANA auf 171.000 Mann und die afghanischen Polizeikräfte auf 134.000 Mann vergrößert werden. Um dieses quantitative Ziel zu erreichen und gleichzeitig eine bessere Qualität in der Ausbildung zu erzielen, sollten die dafür notwendigen personellen und materiellen Ressourcen bereitgestellt werden.

  4. Das deutlich vergrößerte Kräfteaufgebot sollte die Aufständischen massiv unter Druck setzen und so eine Verbesserung der Sicherheitslage für die Umsetzung der nachfolgenden Punkte schaffen.

  5. Die Entwicklungszusammenarbeit mit der afghanischen Regierung sollte erheblich gefördert werden. Neben einer Aufstockung ziviler Entwicklungshelfer (Civilian Surge) wurden die von der internationalen Gemeinschaft zur Verfügung gestellten finanziellen Ressourcen zur Unterstützung des State-building-Prozesses nahezu verdoppelt.

  6. Die Stärkung und Fähigkeitsbildung staatlicher Institutionen in Afghanistan wurde zum Primärziel der Entwicklungsmaßnahmen erklärt. Im Rahmen der Förderung von Eigenverantwortlichkeit sollte zukünftig ein erheblich größerer Anteil der Entwicklungsgelder direkt durch die afghanische Regierung verwaltet werden (auf der Kabuler Konferenz wurde dieser Anteil auf mindestens 50 % festgelegt). Nicht nur die Zentralregierung, sondern auch die Regierungs- und Verwaltungsstrukturen auf der Provinzebene sollten gezielt gefördert werden.

  7. Die Eigenverwaltung von Entwicklungsgeldern durch die afghanische Regierung wurde an die Korruptionsbekämpfung gekoppelt. Anti-Korruptionsmaßnahmen sollten landesweit gestärkt werden.

  8. Alle Counterinsurgency-Maßnahmen hatten das Ziel, Aufständischen die friedliche Reintegration in die Gesellschaft zu ermöglichen. Militärischer Druck (nicht zuletzt durch die vermehrte Durchführung von Zugriffen durch Spezialeinheiten) sollte einhergehen mit Reintegrationsprogrammen, die den Aufständischen Anreize boten, den bewaffneten Kampf aufzugeben. Die von der afghanischen Regierung geführten Reintegrationsprogramme enthielten vor allem Arbeitsplätze und Ausbildungsmaßnahmen. Gleichzeitig sollte auf politischer Ebene eine friedliche Konfliktlösung mit der militanten Opposition gesucht werden (Reconciliation).

5 Reform der militärischen Organisationsstrukturen

Einheitliche Führung und klare Kommandostrukturen, welche bestmögliche Kontrolle und Koordination ermöglichen, sind entscheidende Voraussetzungen für die erfolgreiche Umsetzung einer Counterinsurgency-Strategie. In Afghanistan war genau dies nicht gegeben. Die Reform der ISAF-Organisationstrukturen war daher – neben der konsequenten Implementierung der COIN-Doktrin – die zweite bedeutende Maßnahme, die von General McChrystal nach seiner Kommandoübernahme getroffen wurde.

Die Neustrukturierung der ISAF unter General McChrystal spiegelte dabei die zunehmende „Amerikanisierung“ der NATO-Mission wider. Durch eine „Doppelhut“-Regelung hatte der ISAF-Kommandeur (COMISAF) auch das Kommando über die United States Forces-Afghanistan (USFOR-A),[48] in dem auch die unter OEF-Mandat operierenden Kräfte integriert sind, wodurch ISAF-Truppen und OEF-Truppen auf operativer Ebene bereits faktisch miteinander verschmolzen waren. Unter McChrystal wurde nun der weitaus größte Teil der zuvor im Rahmen von OEF operierenden Truppen (ca. 20.00 Soldaten) unmittelbar in die ISAF eingegliedert.[49] Damit waren viele Probleme innerhalb der Koalition, die durch die vorherigen doppelten Kommandostrukturen verursacht worden waren, endgültig behoben. Gleichzeitig vergrößerte sich der Anteil amerikanischer Truppen an der ISAF noch einmal zusätzlich.

Zwischen 2009 und 2010 erfolgte eine grundlegende Neugliederung der ISAF-Kommandostrukturen unter General McChrystal. Ziel dabei war die Schaffung zentralisierter, einheitlicher und klar definierter Strukturen, die dem ISAF-Kommandeur die bestmögliche Kontrolle und Übersicht bei der Umsetzung der Counterinsurgency-Strategie gewähren. Zu diesem Zweck wurde die ISAF in folgende drei Elemente unterteilt, die unter dem ISAF-Kommandeur zusammenlaufen:

  • ISAF Joint Command (IJC)

  • NATO Training Mission – Afghanistan (NTM-A)

  • Special Operations Element (SOE)

Diese Aufteilung repräsentierte faktisch drei eigenständige Missionen, die im Rahmen der neuen umfassenden Strategie unter einem Kommandeur vereint wurden. Der von Counterinsurgency-Theoretikern stets geforderten Unity of Command und Unity of Effort wurde hier Rechnung getragen.

Im Rahmen der neuen Counterinsurgency-Strategie stieg die Anzahl der ISAF-Truppen nicht nur beträchtlich an, sondern es erfolgte auch in allen ISAF-Regionalkommandos eine Zunahme an komplexen Operationen bei einem deutlich erhöhten Operationstempo. Das ISAF Joint Command (IJC) wurde daher als übergeordnetes zentrales Kommando geschaffen, um die Operationsführung der Regionalkommandos zu koordinieren. Das IJC sollte somit gewährleisten, dass die ISAF-Counterinsurgency-Strategie auf operativer Ebene im gesamten Einsatzgebiet der ISAF planmäßig umgesetzt wird. Dies diente nicht nur der strategischen Kohärenz, sondern sollte auch den ISAF-Kommandeur entlasten. Die Übergabe des operativen „Tagesgeschäfts“ an den IJC-Kommandeur, einen amerikanischen Drei-Sterne-General, ermöglichte dem ISAF-Kommandeur, die Übersicht über den Gesamtverlauf der Mission zu behalten, den Fokus auf strategische Fragen zu wahren und seinen politisch-diplomatischen Verpflichtungen nachzukommen.

Darüber hinaus wurden in der Joint Operation Planning Group des IJC erstmalig auch afghanische Offiziere und zivile Führungskräfte in den Operationsplanungsprozess der ISAF integriert. Dies war ein wichtiger Schritt in der Kooperation zwischen ISAF und ANSF. Die Einbindung der Afghanen in den IJC Planungsprozess signalisierte, dass man auch auf dieser Ebene das Partnering ernst nahm und den Afghanen schrittweise die Führung überlassen wollte. Gleichzeitig profitierte auch ISAF von der Einbringung afghanischer Perspektiven und Lageeinschätzungen bei der Operationsplanung.

5.1 NATO Training Mission Afghanistan

Der schnelle und massive Aufbau afghanischer Sicherheitskräfte war ein Kernelement der ISAF-Counterinsurgency-Strategie. Die unkoordinierten und in Qualität und Quantität stark variierenden ANSF-Ausbildungsprogramme im Rahmen verschiedener nationaler PRT-Strukturen hatten sich – wie bereits ausführlicher dargestellt – als extrem ineffektiv erwiesen. Um sowohl die ANA als auch die ANP in kurzer Zeit zu vergrößern, ohne dabei einen Mindeststandard an Qualität einzubüßen, bedurfte es effektiverer Ausbildungsstrukturen. Vor diesem Hintergrund beschlossen die NATO-Mitgliedstaaten bereits auf dem Gipfel in Straßburg/Kehl den Aufbau der afghanischen Kräfte gemeinsam und koordiniert voranzutreiben. Dies sollte im Rahmen eines eigenen NATO-Kommandos im Rahmen der ISAF-Strukturen geschehen. Am 21. November 2011 wurde daher die NATO Training Mission – Afghanistan (NTM-A) als gemeinsames Ausbildungsprogramm der Koalitionspartner gegründet.

Unter NTM-A Flagge fusionierte die neue NATO-Ausbildungsmission dabei mit dem bereits bestehenden amerikanischen Combined Security Transition Command-Afghanistan (CSTC-A), dem bis dahin größten Ausbildungsprogramm für afghanische Sicherheitskräfte. Der Kommandeur der NTM-A, ein amerikanischer Drei-Sterne-General, trug einen „Doppel-Hut“, denn er war gleichzeitig Kommandeur des CSTC-A, welches in den nationalen amerikanischen Kommandostrukturen weiterbestand. Das Ziel der NTM-A wurde klar formuliert: „to grow the force, increase the quality of the force, and build the foundation to professionalize the force.”[50] Die NTM-A stellte einen einheitlichen Ansatz zum Aufbau afghanischer Sicherheitskräfte dar, der die unterschiedlichen, häufig von Mandatsvorbehalten behinderten nationalen Ausbildungsprogramme ablöste.

5.2 Special Operations Element

Ein zentrales operatives Element der von General McChrystal entworfenen Counterinsurgency-Strategie war die gezielte Ausschaltung der Führungsstrukturen der Aufständischen durch zumeist nächtlich erfolgende Kommandooperationen. Dadurch gewannen Spezialkräfte an zusätzlicher Bedeutung. Spezialkräfte in Afghanistan führten oft hochsensible Operationen in einem zivilen Umfeld durch. Jeder Fehlschlag einer solchen Operation oder die Verursachung von zivilen Opfern konnten dabei weitreichende Konsequenzen haben. Die hohe Geheimhaltungsstufe von Kommandooperationen sowie oft undurchsichtige Befehlsstrukturen bewirkten bis 2009 allerdings, dass viele Aktivitäten von Spezialeinheiten nur unzureichend durch das ISAF-Hauptquartier kontrolliert werden konnten. McChrystal reagierte auf diesen Missstand, in dem er neben dem IJC und der NTM-A das Special Operations Element (SOE) als eine dritte Kommandostruktur für Spezialkräfte aufbaute. Das SOE war dem ISAF-Kommandeur ebenfalls direkt unterstellt, so dass dieser die unmittelbare Kontrolle über den Einsatz aller in Afghanistan operierenden Spezialkräfte hatte. Gemäß der in der COIN-Doktrin enthaltenen Prämisse first do no harm, konnte der ISAF-Kommandeur in kritischen Fällen persönlich entscheiden, ob ein riskanter Zugriff durchgeführt werden soll oder nicht. Dies galt im Übrigen auch für andere taktische Entscheidungen, wie etwa die Durchführung eines Luftangriffs.[51]

Die Reform der ISAF-Kommandostrukturen durch den neuen Kommandeur McChrystal war in ihrem Ausmaß bemerkenswert. Es handelte sich hierbei aber um einen längst überfälligen Schritt. Die ISAF-Mission hatte sich in Zielsetzung und Umfang stetig weiterentwickelt, während eine den Erfordernissen gerecht werdende Anpassung der Organisationsstrukturen stets hinterherhinkte.

5.3 Fokussierung auf die strategisch wichtigen Distrikte

Im Zuge der im Commander‘s Initial Assement von General McChrystal geforderten Fokussierung der Ressourcen erfolgte erstmalige eine klare Definition strategisch wichtiger Gebiete auf welche die ISAF ihren operativen Schwerpunkt legt. Ende 2009 identifizierte das IJC gemeinsam mit der afghanischen Regierung aus der Masse der insgesamt 400 afghanischen Distrikte 80 sogenannte Key Terrain Districts und 41 Area of Interest Districts.

Bei den Key Terrain Districts handelte es sich um neuralgische Gebiete, welche demjenigen der sie kontrolliert, einen klaren strategischen Vorteil im Rahmen einer militärischen Kampagne bringen. Da es sich bei der ISAF-Counterinsurgency-Strategie um eine auf die Bevölkerung ausgerichtete Strategie (population centric strategy) handelte, befanden sich in den 80 ausgewählten Key Terrain Districts Bevölkerungszentren, kritische Infrastrukturen oder bedeutende Verkehrsverbindungen. Die Key Terrain Districts folgten daher grob dem Verlauf der drei wichtigsten Hauptstraßen Afghanistans, welche die am dichtesten besiedelten Regionen miteinander verbinden.[52] Darüber hinaus wurden die Distrikte mit den wichtigsten Grenzübergängen ebenfalls als Key Terrain Districts definiert. Die Herstellung von Sicherheit und Ordnung in diesen neuralgischen Gebieten wurde als entscheidend angesehen, um die afghanische Regierung nachhaltig in die Lage zu versetzen, die Kontrolle über das gesamte Land etablieren zu können.

Die Festlegung der Key Terrain Districts hatte zu einer klaren Eingrenzung des Operationsgebiets der ISAF geführt. Nachdem im Dezember 2009 auf beiden Seiten des Atlantiks die politische Entscheidung über die Höhe der Truppenaufstockung gefallen war, überprüfte das IJC die Optionen zum effektivsten Einsatz der zukünftig etwa 130.000 Soldaten umfassenden ISAF. Dabei kam es zu dem Schluss, dass die vorhandenen Ressourcen den massiven Einsatz von Kräften zur idealen Umsetzung von Counterinsurgency-Operationen nur in etwa der Hälfte der 80 Key Terrain Districts erlaubten.[53] Da die US-Regierung allerdings deutlich betont hatte, dass 2011 die 30.000 Surge-Truppen bereits wieder abgezogen werden, war die ISAF mit einem klar definierten Zeitfenster konfrontiert. Die Ressourcen mussten aus diesem Grund effizient aufgeteilt werden, um gleichzeitig in den 80 Key Terrain Districts eine möglichst hohe Wirkung zu erzielen.

Auf Südafghanistan wurde der operative Hauptfokus gelegt. Da gerade die Provinzen Kandahar und Helmand als Hochburgen der Aufständischen galten, sollte das Momentum der Insurgency hier gebrochen werden, wodurch ein Ausstrahlungseffekt auf den Rest des Landes erwartet wurde. Um die Operationsführung vor dem Hintergrund der massiv angewachsen Anzahl an Truppen zu erleichtern wurde das Regionalkommando Süd (RC-S), das bis dahin unter dem rotierenden Kommando der Briten, Kanadier und Niederländer stand, im Juni 2010 zweigeteilt. Die Provinzen Nimruz und Helmand wurden dabei zu einem eigenständigen sechsten Regionalkommando, dem Regionalkommando Südwest (RC-SW).[54] Da im Zuge des Surge im Süden Afghanistans nun der weitaus größte Teil der ISAF-Truppen von den Vereinigten Staaten gestellt wurde, wurden sowohl das RC-SW als auch das RC-S unter amerikanische Führung gestellt. Den östlichen Provinzen entlang der pakistanischen Grenze wurde die zweite Priorität eingeräumt. Hier sollten vor allem grenzübergreifende Operationen der Aufständischen reduziert werden.

In der Provinz Badghis inklusive des angrenzenden Distrikts Ghormach sowie den Provinzen Kunduz und Baghlan fielen die vorgesehenen Operationen unter das Economy-of-Force-Prinzip. Daher wurde als Verstärkung der ISAF-Kräfte im Norden nur eine verhältnismäßig geringe Anzahl an zusätzlichen Truppen entsendet, welche im Süden und Osten abkömmlich war, ohne dabei den Erfolg der dortigen Operationen zu gefährden.

6 Zivile Strategieelemente und Reformen in den zivilen Organisationsstrukturen

Die von der Koalition beschlossene dezidiert zivil-militärische Counterinsurgency-Strategie in Afghanistan reflektierte zahlreiche lessons learned hinsichtlich der Interaktion zwischen zivilen und militärischen Akteuren. Dass Sicherheit und Entwicklung sich gegenseitig bedingen war lange postuliert worden. Die logische Schlussfolgerung, dass das Militär und zivile Akteure dementsprechend kooperieren und ihre Aktivitäten im Rahmen einer gemeinsamen Strategie koordinieren müssen, wurde in der Praxis bis 2009 jedoch nur unzureichend umgesetzt. Es war vor allem die Erkenntnis, dass die Insurgency nicht nur das Produkt eines faktischen Sicherheitsvakuums in großen Teilen des Landes, sondern auch das Ergebnis eines in vielen Aspekten gescheiterten Aufbaus staatlicher Strukturen war. Schlechte Regierungsführung, das Ausbleiben staatlicher Dienstleistungen und raubtierhafte Korruption seitens des afghanischen Staates motivierten grundsätzlich mehr Afghanen, sich den Aufständischen anzuschließen als religiöser Extremismus.[55] Während die negative Sicherheitslage militärischer Maßnahmen bedurfte, erforderte die ernüchternde Leistungsbilanz der afghanischen Regierung neue Ansätze von ziviler Seite. Um beide Probleme wirksam zu adressieren, forderte die neue Counterinsurgency-Strategie Koordination und Kooperation zwischen zivilen und militärischen Akteuren auf allen Ebenen.

 Große Einigkeit auf der Londoner Afghanistan-Konferenz Ende Januar 2010

Große Einigkeit auf der Londoner Afghanistan-Konferenz Ende Januar 2010

Die im Jahre 2009 identifizierten und Anfang 2010 auf der Londoner Konferenz politisch beschlossenen zivilen Elemente der ISAF-Counterinsurgency-Strategie ließen sich grob in die nachfolgenden Bereiche unterteilen:

  1. die bessere Koordinierung der zivilen und militärischen Akteure in Afghanistan;

  2. die grundsätzliche Aufstockung ziviler Ressourcen;

  3. der effizientere Einsatz der finanziellen Mittel;

  4. die konsequente Förderung des zivilen Transition-Prozesses;

  5. eine entschlossene und effektive Korruptionsbekämpfung;

  6. Verbesserung der Regierungsführung; und

  7. die Einleitung eines gesellschaftlichen Aussöhnungsprozesses.

Alle hier genannten zivilen Elemente der Counterinsurgency-Strategie befanden sich im Rahmen des Shape, Clear, Hold, Build-Ansatzes. Sie waren Teil der Build-Phase und somit ein wesentlicher Bestandteil der zivil-militärischen Gesamtstrategie.

Eine besser koordinierte Zusammenarbeit zwischen zivilen und militärischen Akteuren sollte durch die Aufwertung des NATO Senior Civilian Representative (NATO SCR) erfolgen, der als oberster ziviler Repräsentant der NATO in Afghanistan die ISAF nach außen vertrat. In seiner Position mit dem militärischen ISAF-Kommandeur gleichrangig, koordinierte er das Handeln der ISAF mit der afghanischen Regierung, der UNAMA und den nationalen Botschaften in Kabul. Der NATO SCR vertrat ISAF dabei in zentralen permanenten Gremien wie dem Joint Coordination and Monitoring Board (JCMB) zur Koordinierung der Entwicklungshilfe sowie dem Joint Afghan-NATO Inteqal Board (JANIB) welches den Prozess der Verantwortungsübergabe an die Afghanen überwachte.

Im Jahr 2010 wurde das Prinzip des SCR auf der Ebene der Regionalkommandos eingeführt. Dadurch erhielten auch die Kommandeure der Regionalkommandos einen zivilen Gegenpart, der auf dieser Ebene, auf Basis täglicher Besprechungen mit dem militärischen Stab, eine sinnvolle Abstimmung militärischer und ziviler Aktivitäten unterstützen sollte. Auch wurde auf der PRT-Ebene die Zusammenarbeit zwischen Militär und den Vertretern der zivilen Ressorts verstärkt. Dies geschah sowohl durch eine Aufstockung des zivilen Personals als auch durch neue Koordinierungsmechanismen.

Die Bundesregierung legte 2010 im Zuge der neuen Counterinsurgency-Strategie fest, dass Entwicklungsprojekte grundsätzlich mit den ISAF-Operationen abzustimmen seien und somit – wenn erforderlich – an das Clear-Hold-Build-Konzept zu koppeln wären. Zuvor waren der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan und die deutsche Entwicklungshilfe zwei weitgehend voneinander abgeschottete Prozesse. Dadurch fanden Wiederaufbauprojekte an Orten häufig nicht statt, wo konzentrierte Entwicklungshilfe zweifellos einen positiven Einfluss auf die Sicherheitslage gehabt hätte, insbesondere in der Provinz Kunduz. Durch die politische Neureglung der Zusammenarbeit zwischen den Ressorts sollte dieser Missstand aufgehoben werden.

Es kam auch ab 2009 zu einer beträchtlichen Aufstockung der zivilen Ressourcen. Die im Jahre 2009 durch die internationale Gemeinschaft für Afghanistan ausgezahlte finanzielle Entwicklungshilfe betrug insgesamt ca. 6,2 Milliarden US-Dollar.[56] Für die im Rahmen der Counterinsurgency-Strategie beschlossenen zivilen Ressourcen stellten einige ISAF-Nationen nun noch einmal zusätzliche Mittel bereit. Allen voran die Vereinigten Staaten: Als ohnehin schon mit Abstand größte Gebernation für Afghanistan wurde die Entwicklungshilfe von 9,26 Milliarden US-Dollar auf 14,65 Milliarden US-Dollar erhöht.[57] Auch die Bundesregierung erhöhte ihr finanzielles Engagement in Afghanistan, welches im europäischen Vergleich bereits zuvor einen Spitzenplatz einnahm. Im Vorfeld der Londoner Konferenz kündigte die Bundesregierung eine „Entwicklungsoffensive“ an, bei der die für Afghanistan jährlich bereitgestellten finanziellen Mittel auf 430 Millionen Euro verdoppelt wurden. Im Sinne der bereits dargestellten Bestrebung, zivile Entwicklungshilfe mit militärischen Aktivitäten zu koordinieren, wurden die zusätzlichen Entwicklungsgelder ausdrücklich für den Norden vorgesehen.[58] Die Vereinigten Staaten stockten ihr ziviles Personal zwischen 2009 und 2010 auf 1.110 Personen auf, was einer Verdoppelung entsprach.

Zur Koordinierung der finanziellen Mittel zum Wiederaufbau Afghanistans wurde bereits 2006 das Joint Coordination and Monitoring Board (JCMB) geschaffen. Der Einsatz der Mittel aus gemeinsamen Fonds wie dem Afghan Reconstruction Trust Fund der Weltbank sowie bilateralen Entwicklungshilfeprogrammen wurden hier koordiniert. Im JCMB waren u. a. die afghanische Regierung, die UNAMA und die bedeutendsten ISAF-Nationen sowie auch der NATO-SCR vertreten. Die Koordinierung der Entwicklungshilfe richtete sich ab 2008 nach der im selben Jahr von der afghanischen Regierung vorgelegten Afghan National Development Strategy (ANDS). Trotz der engen Zusammenarbeit mit der afghanischen Regierung wurden bis 2009 aber nur etwa 20 Prozent der Gelder direkt von den afghanischen Institutionen in Kabul verwaltet.[59]

Die zivil-militärische Strategie der Koalition zielte auch darauf ab, die Entwicklung der Provinzen voranzubringen. Bis 2009 hatten sich die Entwicklungshilfe zu einem unverhältnismäßig hohen Anteil auf die Region Kabul und die dortige Zentralregierung konzentriert. Die Entwicklung der Provinzen, insbesondere der Aufbau von Regierungs- und Verwaltungsstrukturen auf Provinzebene, war hingegen vernachlässigt worden. Ab 2010 wurden Fonds bereitgestellt, aus denen sich Programme finanzieren, die unmittelbar den Provinzen und Distrikten zugutekommen und den Aufbau lokaler Verwaltungs- und Wirtschaftsstrukturen gezielt fördern sollten.

Der Einsatz aller für Afghanistan bereitgestellten finanziellen Mittel sollte Grundlagen schaffen, die es den Afghanen ermöglichten, zukünftig ohne direkte Unterstützung der internationalen Gemeinschaft auszukommen. Auf der Kabuler Konferenz im Juli 2010 wurde unter dem Schlagwort Inteqal84 die schrittweise erfolgende Verantwortungsübergabe ab 2011 beschlossen. Dabei wurde mit dem Joint Afghan NATO Inteqal Board (JANIB) ein institutioneller Rahmen für diesen Übergang geschaffen. Der Inteqal-Prozess beschränkte sich nicht allein auf die Übergabe der Sicherheitsverantwortung. Das Ziel des Inteqal-Prozesses war viel mehr “[…] to strengthen Afghan ownership and leadership across all the functions of government and throughout the territory of Afghanistan.”[60]

Um die afghanische Regierung und Verwaltung sowohl auf nationaler wie auch auf lokaler Ebene zu stärken, wurden Programme und Institutionen geschaffen, die hierbei unterstützend wirken sollen. Dazu gehören institutionalisierte Job Fairs zur Rekrutierung von Beamten und Verwaltungspersonal sowie die verstärkte Ausbildung von Fachpersonal im Staatsdienst. Die Independent Administrative Reform and Civil Service Commission (IARCSC) spielte hierbei eine Schlüsselrolle. Die IARSC förderte die Rekrutierung von Staatsbediensteten, welche auf der Basis persönlicher Qualifikation und nicht aufgrund von persönlichen Beziehungen eingestellt wurden. Dadurch sollte das Patronage-System innerhalb des afghanischen Staatsapparates aufgebrochen werden, welches eine Hauptursache für Korruption und Misswirtschaft war.[61]

Auch die Präsenz von Beratern in den Ministerien wurde erhöht. Besonders in den für die Sicherheit zuständigen afghanischen Ressorts, dem Verteidigungsministerium und dem Innenministerium, wurden 2010 Zellen eingerichtet in denen NTM-A Personal sowie zivile Experten als Berater und Liaison-Personal tätig waren. Dabei sollte auch die Transparenz und Regelkonformität der Aktivitäten innerhalb der Ministerien überwacht werden.

Im Jahr 2010 wurden sechs Entwicklungsprogramme ins Leben gerufen, die in den Bereichen Verwaltung, Wirtschaft, Infrastruktur und Bildung die Lebensqualität der Menschen in den Distrikten verbessern sollten.[62] Die Umsetzung dieser Programme zielte auf einen Vertrauensgewinn in die (lokale) Regierung sowie die Akzeptanz und Unterstützung des Staates seitens der lokalen Bevölkerung ab. Alle sechs Programme standen unter der Aufsicht des Independent Directorate of Local Governance (IDLG), das bereits 2007 als Reaktion auf die in vielen Distrikten kaum vorhandene Präsenz des Staates geschaffen wurde.

Ein weiterer Schritt zur Unterstützung des zivilen Transition-Prozesses war die im April 2010 durch die NATO beschlossene Afghan First Policy. Diese verpflichtete die ISAF-Nationen, wann immer möglich, afghanische Dienstleiter bei der Durchführung von (Wieder-)Aufbauprojekten und sonstigen Aufträgen für die ISAF selbst einzusetzen.[63] Aufgaben, die zuvor oft von ausländischen Dienstleistern übernommen wurden, sollten an Afghanen übergeben werden. Diese Regelung sollte gleichzeitig Arbeitsplätze schaffen, die Wirtschaft stimulieren und den Aufständischen Unterstützung entziehen.

Die zivil-militärische Strategie der Koalition hatte auch die Korruptionsbekämpfung zum Ziel. Kontrollmaßnahmen wurden verstärkt und die Übertragung von Geldern in die Verantwortung der afghanischen Regierung wurden stärker als zuvor von der Einhaltung von Transparenz abhängig gemacht. Mit afghanischen Akteuren, die nachweisbar Gelder veruntreuen, sollte nicht kooperiert werden. Dies galt sowohl für die Zentralregierung als auch für die Provinzregierungen und afghanische Unterauftragsnehmer in der Wirtschaft.[64]

Zur Realisierung einer konsequenteren Verfolgung von Korruption wurde 2010 die Combined Joint Interagency Task Force (CJIATF) – Shafafiyat gegründet.[65] CJIATF Shafafiyat setzte sich aus Personal ziviler und militärischer Ressorts der ISAF-Staaten zusammen und koordinierte die Arbeit dreier untergeordneter Institutionen zur Korruptionsbekämpfung. Diese waren Task Force 2010, Task Force Spotlight und die Combined Joint Interagency Task Force (CJIATF) – Nexus. Task Force 2010 und Task Force Spotlight überwachten den Verbleib und die zweckgemäße Verwendung internationaler Gelder durch afghanische staatliche Institutionen und privatwirtschaftliche Auftragnehmer. CJIATF-Nexus konzentrierte sich auf Netzwerke, welche die Insurgency mit der Drogenwirtschaft und korrupten Amtsträgern verknüpften.[66] Zuletzt muss als Organ zur Koordination aller an der Korruptionsbekämpfung beteiligten Akteure die International Community Transparency and Accountability Working Group genannt werden. Hier konsultierten sich die ISAF, die UNAMA, die Botschaften und NGOs, um Anti-Korruptions-Maßnahmen im Sinne strategischer Kohärenz miteinander abzusprechen.

Die vielleicht „radikalste“ Neuerung hinsichtlich der ISAF-Counterinsurgency-Strategie war die explizite Bereitschaft, mit den Aufständischen in einen Friedensdialog zu treten und einen inner-afghanischen gesellschaftlichen Aussöhnungsprozess aktiv zu unterstützen. Aufgrund der Einsicht, dass es unmöglich sei, die Aufständischen militärisch zu besiegen, wollte man gemäßigten Taliban und anderen gesprächsbereiten Aufständischen die Möglichkeit geben, sich wieder in die afghanische Gesellschaft zu reintegrieren. Auf der London-Konferenz wurde daher zusammen mit der afghanischen Regierung beschlossen, einen durch Kabul verwalteten Peace and Reintegation Trust Fund einzurichten, mit dessen Mittel Ausstiegsprogramme für die Aufständischen finanziert werden sollen.

Im Juli 2010 wurde das Afghanistan Peace and Reintegration Program (APRP) gegründet. Das Programm wurde durch den High Peace Council geleitet, dessen Vorsitz Burhanuddin Rabbani innehatte.[67] Das APRP teilte sich in drei Phasen auf: Dialogaufnahme, Demobilisierung und Friedenskonsolidierung. Die vom APRP gebotenen Ausstiegsanreize umfassten die Unterbringung der Re-integrationswilligen an sicheren Orten sowie die Bereitstellung von Ausbildungs- und Arbeitsplätzen. Eine hoch umstrittene Maßnahme war die Aufnahme von ehemaligen Aufständischen in das Afghan Local Police (ALP) Programm.

7 Die Umsetzung der Beschlüsse von 2009 und 2010

Die von der Koalition am 28. Januar 2010 vereinbarte Strategie sollte die Wende in Afghanistan bringen. Viele Probleme, die in den vorangehenden Jahren zum Vorschein gekommen waren, wurden jetzt angegangen. Allerdings führte vieles, was in der Theorie gut erschien, bei der Umsetzung in die Praxis nicht zu den gewünschten Ergebnissen. Zwischen 2010 und 2012, dem Zeitrahmen für die Aufstockung der Kampftruppen, verbesserte sich die Lage in einigen Teilen Afghanistans, aber viele Ziele konnten nicht erreicht werden, und außerdem blieb die Nachhaltigkeit des Erreichten unklar. Die Fortschritte im Bereich der Sicherheit konnten nur selten durch Verbesserungen im Bereich der Governance stabilisiert werden. So zeigte sich sehr bald, dass die Counterinsurgency-Strategie der ISAF einer ihrer beiden Säulen beraubt war. Dies und fiskalische Zwänge veranlassten die US-Regierung, am 22. Juni 2011 die Reduzierung der zusätzlich entsandten Truppenkontingente für einen früheren als den ursprünglich geplanten Zeitpunkt anzukündigen.[68] Während der ANSF zunehmend die Verantwortung für die Sicherheit übertragen wurde und die ISAF – allenfalls – in der zweiten Reihe stand, stützten sich die Vereinigten Staaten verstärkt auf Taktiken der Terrorismusbekämpfung, wie nächtliche Razzien und gezielte Luftschläge auf Basis nachrichtendienstlicher Erkenntnisse.

7.1 Sicherheit

In ganz Afghanistan gelang es durch die Beschleunigung der Einsätze und die deutlich erhöhte Zahl von Kampftruppen, die Aufständischen weiter von den Bevölkerungszentren fernzuhalten. Innerhalb der Key Terrain Districts konnten die afghanischen und die Koalitionsstreitkräfte auf den Hauptstraßen die Bewegungsfreiheit gewährleisten, indem sie ständig patrouillierten, ein Netzwerk von Kontrollpunkten und Gefechtsvorposten errichteten und unentwegt Straßen von IEDs räumten. Verschwunden waren die Aufständischen damit allerdings nicht. Auch wenn Angriffe nun weiter entfernt vom Zentrum der Schlüsseldistrikte stattfanden, ging ihre Gesamtzahl kaum zurück.[69] Überdies reagierten sie auf den starken militärischen Druck, dem sie ausgesetzt waren, mit einer gegen afghanische Führungskräfte gerichteten „Enthauptungskampagne.“

In den südafghanischen Gebieten, die den Schwerpunkt der Einsätze bildeten, besserte sich die Lage zweifellos. Die Aufstockung um über 20.000 Soldaten verfehlte ihre Wirkung nicht. Das Momentum der Aufständischen wurde gebrochen, und sie gerieten in die Defensive.[70] Die meisten Hochburgen der Taliban im Helmand-Tal und in den Gebieten um die Stadt Kandahar konnten erfolgreich gesäubert werden. Die Opferzahlen unter den Aufständischen waren hoch. Das Errichten von Gefechtsvorposten, Polizeistationen und Kontrollpunkten sowie die Besetzung dieser Sicherheitseinrichtungen mit ANSF- und ISAF-Truppen ermöglichte es schließlich, die Gebiete zu halten und den Menschen Sicherheit zu bringen. Außerdem konnten aufgrund der intensivierten Ausbildungsbemühungen der ANA und ANP mehr afghanische Truppen in die gesäuberten Gebiete einrücken und ihrerseits für Sicherheit sorgen.[71]

Im Zuständigkeitsbereich des Regionalkommandos Ost gelang es nicht, die Sicherheitslage so zu verbessern wie im Süden. Der frühzeitige Abzug der zusätzlichen Truppenkontingente und die Notwendigkeit, die ANSF bei der Konsolidierung der Sicherheit in Helmand und Kandahar zu unterstützen, erlaubten es nicht, einen Großteil der zusätzlichen Truppen nach Osten zu verlegen, sobald diese ihre Aufgabe im Süden erledigt hatten. Angesichts der vergleichsweise geringen Präsenz von Koalitionsstreitkräften im Osten überraschte es wenig, dass die Aufständischen ihre Aktivitäten in den östlichen Provinzen verstärkten. Die Aufstandsbewegung blieb stark beziehungsweise wuchs, nicht nur in den an Pakistan angrenzenden Provinzen Nangarhar, Nuristan, Kunar und Laghman (den sogenannten N2KL), sondern auch in den Provinzen um Kabul. Die Provinz Ghazni wurde ebenfalls ein neues Zentrum der Taliban-Aktivitäten.[72] Dieser Herausforderung waren die ANSF im Osten, die früher als geplant Sicherheitsverantwortung übernehmen mussten, oft nicht gewachsen.

In Nordafghanistan konnte die Sicherheitslage in einigen Key Terrain Districts und entlang der Hauptverbindungswege verbessert werden. Deutsche Truppen, die im Jahr 2010 entschiedener vorzugehen begannen, und US-Verstärkungen sowie afghanische Streitkräfte sicherten erfolgreich Gelände entlang des strategisch bedeutsamen Kunduz-Baghlan-Korridors. Ohne nennenswerte Präsenz von Sicherheitskräften blieb die Lage in den Provinzen und Distrikten allerdings unverändert oder verschlechterte sich sogar infolge der faktisch ungehinderten Aktivitäten der Taliban und der Islamischen Bewegung Usbekistan. Zudem nahm im Norden immer mehr die Gewalt zu, die auf das Konto lokaler Milizen ging. Als die ethnisch vielfältigste Region des Landes war Nordafghanistan Schauplatz zahlreicher Konflikte zwischen ethnischen und politischen Splittergruppen. In diesem komplexen Sicherheitsumfeld gewannen lokale Milizen (arbakis) zusehends an Bedeutung, da sowohl örtliche Machthaber als auch die ISAF sich ihrer bedienten, um Gebiete zu kontrollieren. Einerseits haben diese Milizen die Taliban sehr erfolgreich vertrieben und an der Rückkehr gehindert, andererseits aber nachweislich zahlreiche Verbrechen und Rechtsbrüche begangen. Vor diesem Hintergrund hat das landesweite Programm Afghan Local Police (ALP) unter Führung der USA, das aus lokalen Milizen polizeiliche Hilfskräfte machen sollte, eine ambivalente Rolle gespielt. Normalerweise überprüften und trainierten US-Spezialkräfte im Rahmen sogenannter Village Stability Operations lokale Milizen, die in die ALP aufgenommen werden sollten. ALP-Einheiten, die ihre eigenen Dörfer vor Taliban-Angriffen beschützten, waren nützliche Haltekräfte und entlasteten die ANP und die ANA in entlegenen Gebieten. Das Programm war erfolgreich, insbesondere in ethnisch homogenen Regionen wie dem paschtunischen Süden.[73] Im Norden allerdings trug die ALP zu einer Legalisierung bis dahin illegaler bewaffneter Gruppen bei und verschärfte so die Spannungen.[74]

Die bevölkerungsorientierte Counterinsurgency-Strategie der ISAF ging von Anfang an mit unablässigen Bemühungen einher, die Kampffähigkeit der Aufständischen durch Kill-or-Capture-Einsätze zu schwächen. Luftschläge auf Basis nachrichtendienstlicher Erkenntnisse und nächtliche Razzien durch Spezialkräfte stellten die feindorientierte Seite der Strategie dar. Diese Einsätze gegen mittlere Führungskräfte und wichtige Unterstützer wie etwa IED-Bauer setzten die Aufständischen stark unter Druck und schwächten deren Einsatzfähigkeit. Ihr erheblicher Einfluss auf die Sicherheitslage führte dazu, dass man vermehrt auf nächtliche Razzien setzte. Angesichts der begrenzten Zeit, die der ISAF verblieb, um eine Sicherheitslage herzustellen, die eine vollständige Übergabe an die ANSF erlauben würde, entwickelte sich Kill-or-Capture von einem bloßen Gestaltungselement im Vorfeld konventioneller Einsätze zu einer eigenständigen Strategie.

Die nächtlichen Razzien sollten nicht nur den Gegner militärisch schwächen, sondern zusammen mit Anreizen des Reintegrationsprogramms auch als „großer Knüppel“ der Koalition dienen, um Aufständische die Seiten wechseln zu lassen. Doch trotz ständiger Verluste von Feldkommandeuren und Schlüsselpersonal sowie Anzeichen sinkender Moral wurden die meisten Lücken von neuen Anführern geschlossen.[75] Die Widerstandsfähigkeit der Aufständischen gegen den anhaltenden militärischen Druck bei Tag und Nacht unterstrich die strategische Bedeutung Pakistans. Während sich das Verhältnis zwischen Islamabad und Washington immer weiter verschlechterte, diente Pakistan weiterhin als sicherer Rückzugsort und nicht versiegende Nachschubquelle. Dies erlaubte vielen Aufständischen, die zeitlich begrenzte Truppenaufstockung der ISAF einfach auszusitzen.

7.2 Stabilität und Entwicklung

Mit der Aufstockung der Kampftruppen wollte man nicht nur den Aufbau der ANSF beschleunigen, sondern auch die Kapazitäten des zivilen Sektors verbessern. Es war das erklärte Ziel, das Land durch Stärkung der Governance und Entwicklung der Wirtschaft in gesicherten Gebieten zu stabilisieren. Allerdings wurden diese Bemühungen durch mehrere Faktoren gehemmt.

Zunächst war, wie von Rajiv Chandrasekaran anschaulich beschrieben, die angekündigte Aufstockung an zivilen Entwicklungshelfern (civilian surge) schlecht mit dem military surge synchronisiert.[76] Der Ausbau von zivilem Personal in Afghanistan kam erst in Schwung, als die zusätzlichen militärischen Einheiten bereits abzuziehen begannen. Deswegen konnten die beabsichtigten zivilen Entwicklungsanstrengungen im unmittelbaren Anschluss an die Säuberungseinsätze keinen Beitrag zur lokalen Stabilisierung leisten. Grund für diese Verzögerung war schlichtweg die Tatsache, dass es nur wenige Zivilisten gab, die man kurzfristig in eine Konfliktzone wie Afghanistan entsenden konnte. Im Gegensatz zum Militär, das – je nach Nation – in kürzester Zeit Hunderte oder Tausende von Soldaten verlegen kann, gab es keine Organisation, die dies bei zivilen Entwicklungsexperten tun konnte. Daher dauerte es viele Monate, Personal zu rekrutieren. Bürokratischer Schlendrian trug ebenfalls zu dieser Verzögerung bei. Als die Repräsentanten des civilian surge in Afghanistan eintrafen, landeten viele von ihnen in Kabul, statt in die Provinzen und Distrikte entsandt zu werden, wo sie etwas bewirken sollten. Einschränkungen aufgrund von Sicherheitsbedenken, die manchmal stark überzogen waren, verhinderten gleichfalls eine größere Präsenz ziviler Entwicklungshelfer auf dem Land.[77]

Trotz der Bemühungen, die Anzahl ziviler Mitarbeiter zu erhöhen, blieb der civilian surge schließlich vor allem eine Aufstockung finanzieller Hilfen. Das wiederum verschlimmerte die bereits bestehenden Probleme bei der verantwortungsvollen Verwendung der stattlichen Geldbeträge, die die internationale Gemeinschaft bereitgestellt hatte. Obgleich die Sensibilität in Sachen Korruption gewachsen war, handelte die Koalition nicht in Einklang mit dem Do-No-Harm-Prinzip. Entwicklungsorganisationen waren gezwungen, finanzielle Mittel in beispielloser Höhe auszugeben, ob sinnvoll oder nicht. Auf diese Weise förderte die internationale Hilfe die Korruption, stärkte die Position lokaler Machthaber, weil diese keiner politischen Kontrolle unterlagen, und begünstigte damit verbundene Konflikte. Zudem schürte die ungleiche Verteilung von Entwicklungsprojekten zunehmend Neid und Ressentiments zwischen lokalen Gemeinschaften. Und das Wetteifern um möglichst große Anteile an den für Stabilisierungsprojekte vorgesehenen Geldern animierte in vielen Fällen Gemeinschaften, dafür zu sorgen, dass ihre Region instabil blieb oder gar wurde.[78] Der Koalition gelang es oftmals nicht, die Quellen der Instabilität zu identifizieren und angemessen zu reagieren.[79] Aber selbst wenn die Quellen bekannt waren und potenziell mit zivilen Mitteln beseitigt werden konnten, bestimmte das nicht unbedingt die militärische Planung. Anders als im Irak hingen militärische Einsätze in Afghanistan meist nicht ab von konkreten zivilen Forderungen, die für die Umsetzung eines Stabilisierungsprojekts Sicherheit in einem bestimmten Gebiet verlangten.[80] Zivile Stabilisierungsbemühungen waren wenig erfolgsorientiert, sondern glichen eher Gütern, die auf den Wunschlisten afghanischer Gemeinschaften standen und anschließend geliefert wurden. Das Ausgeben von zivilen Mitteln wurde zu einer eigenständigen Strategie. Zivile Auftragnehmer, die die Projekte umsetzten, störte das nicht, bestand ihr vorrangiges Ziel doch darin, das gesamte von ihrem Aufraggeber – also nationalen Regierungen – bereitgestellte Budget zu verbrauchen, um einen Anschlussauftrag zu erhalten.[81] Anders ausgedrückt: die gigantischen Summen an internationaler Entwicklungshilfe warfen eine äußerst geringe „Rendite“ ab. Insbesondere in unsicheren Gebieten, in denen ISAF und ANSF kein Gewaltmonopol errichten konnten, gab es zahlreiche Hinweise darauf, dass zivile Hilfe eher destabilisierend als stabilisierend wirkte.[82]

Auch für das Ziel, die Governance in den Provinzen und Distrikten zu stärken und zu verbessern, schuf das oben beschriebene Ausmaß an Korruption schlechte Voraussetzungen. Die Haltung der Afghanen zur Regierung bewegte sich zwischen Gleichgültigkeit, Skepsis und unverhohlener Ablehnung. Korruption im Alltag und Amtsvergehen sowie bedeutende Ereignisse wie die Präsidentschaftswahl von 2009, die mit Wahlfälschungen in erheblichem Umfang einherging, oder der Kabuler Bankenskandal von 2010, ausgelöst durch Veruntreuung von vielen Millionen Dollar, trugen nicht dazu bei, dieses Misstrauen zu verringern. Schlechte Regierungsführung blieb eine der wichtigsten Quellen von Instabilität. Waren die Möglichkeiten der Koalition, gegen solche Missstände vorzugehen, schon 2010 recht gering, so nahmen sie im Zuge des Übergangsprozesses noch weiter ab.

Die öffentliche Verwaltung litt ebenfalls unter den Folgen der Unsicherheit. Die „Enthauptungskampagne“ der Aufständischen entfachte eine Reihe von Mord- und Bombenanschlägen auf Amtsträger. Ungeachtet gut bewachter Bürogebäude, ständiger Begleitung durch Personenschützer etc. fanden Aufständische oft Mittel und Wege, Regierungsvertreter umzubringen, wenn auch erst nach mehreren Anläufen.[83] Derart eingeschüchtert, verkrochen sich viele Staatsbedienstete weitgehend passiv in ihren Amtsstuben. In einigen Distrikten traf man mit informellen Powerbrokern und Aufständischen stillschweigende Vereinbarungen über die jeweiligen Interessenssphären. Frisch ausgebildete öffentliche Bedienstete blieben lieber in Kabul, statt eine Stelle in gefährlichen Provinzen anzunehmen. Aktive Gouverneure oder Polizeichefs einer Provinz oder eines Distrikts machten sich, zum Ausgleich für die Risiken, die sie eingingen, die zahlreichen Gelegenheiten zur Selbstbereicherung zunutze. Dies hatte natürlich zur Folge, dass die Entfremdung zwischen der lokalen Bevölkerung und der Regierung fortbestand.[84]

Ungeachtet aller ernüchternden Resultate konnte die zivile Komponente der Koalitionsstrategie einige bemerkenswerte Erfolge für sich beanspruchen. Die verstärkten Maßnahmen zur Wirtschaftsförderung in Schlüsseldistrikten etwa wurden von den Afghanen durchaus begrüßt, schufen die zahlreichen Projekte doch neue Arbeitsplätze und Geschäftsmöglichkeiten. Zusammen mit der Bewegungsfreiheit aufgrund von Fortschritten im Sicherheitsbereich förderten insbesondere Straßen- und Infrastrukturprojekte die lokale Wirtschaft. Diese Anstrengungen verbesserten die allgemeinen Lebensbedingungen in vielen Teilen des Landes deutlich. Auf subnationaler Ebene konnten aufgrund der besseren Sicherheitslage und staatlichen Infrastruktur einige sehr tüchtige und pflichtbewusste Staatsbedienstete hervorragende Arbeit leisten. Trotz erheblicher Herausforderungen und Risiken versuchten sie die Verhältnisse in den Provinzen oder Distrikten, für die sie verantwortlich waren, zu optimieren. Die Bestrebungen zur Stärkung der Governance und öffentlicher Dienstleistungen außerhalb urbaner Zentren bewirkten also an einigen Orten spürbar Gutes. Positiv nahm die Bevölkerung vor allem die Ausweitung öffentlicher Leistungen im Gesundheits- und Bildungswesen auf.

7.3 Der Übergabe-Prozess

Im Jahr 2011 begann man mit der Übergabe der Sicherheitsverantwortung, die in fünf Phasen bzw. Tranchen ablaufen sollte. Jede Phase deckte eine Reihe von Provinzen und Distrikten ab, in denen die Sicherheits- und Verwaltungsverantwortung vollständig von der ISAF auf die afghanischen Behörden überging. Die JANIB wählte die Provinzen und Distrikte auf Grundlage vorausgehender Lageeinschätzungen für eine Tranche aus, wobei sich die Beurteilung auf Sicherheits-, Governance- und wirtschaftliche Faktoren stützte.

Die erste Transition-Phase wurde im März 2011 angekündigt und umfasste die vergleichsweise sicheren Bevölkerungszentren Kabul, Herat, Mazar-e Sharif und Lashkar Gah sowie die Provinzen Bamyan und Pandschir. Im November 2011 kündigte Präsident Karsai die zweite Phase an, die rund ein Drittel des Hoheitsgebiets Afghanistans abdeckte. Abgesehen von der südwestlichen Nimroz-Provinz und Teilen der Provinzen Farah und Helmand lagen die meisten der Phase-Zwei-Distrikte im Westen und im Norden. Mit dem Abschluss dieser Phase hatte die afghanische Regierung die Sicherheitsverantwortung für fünfzig Prozent ihrer Bürger übernommen. Mit Phase Drei, die im Mai 2012 startete, begann die afghanische Regierung die Sicherheitsverantwortung in volatileren Provinzen und Distrikten wie Kunduz und Baghlan im Norden, in der südlichen Provinz Uruzgan, weiteren Distrikten der Provinz Helmand, in der Umgebung der Stadt Kandahar sowie in mehreren Distrikten im Osten zu übernehmen. 75 Prozent der Afghanen lebten 2011 in Gebieten, die der Sicherheitsverantwortung der afghanischen Behörden unterstanden. In jeder der 34 Provinzen Afghanistans hatte der Transition-Prozess begonnen, der sämtliche Provinzhauptstädte einschloss. Die vierte Phase wurde für Ende 2012 angekündigt und erstreckte sich auf alle verbliebenen Distrikte außer jenen, in denen nach wie vor ein hohes Maß an Gewalt herrschte. Letzteres galt für den Norden Helmands, den größten Teil der Provinz Kandahar und die Gebirgsdistrikte im Osten, die direkt an Pakistan grenzen. Die fünfte und letzte Phase des Transition-Prozesses setzte Mitte 2013 ein.

Die Fähigkeiten der ANSF waren der Schlüssel für eine erfolgreiche Übertragung der Sicherheitsverantwortung an afghanische Behörden. In jeder Übergangs-Phase vollzog sich die Verantwortungsübergabe nach einem Vier-Stufen-Plan. Hatten die ANSF-Einheiten davor in partnerschaftlichen Einsätzen gemeinsam mit Koalitionsstreitkräften unter Führung der ISAF operiert, spielten die ISAF-Truppen auf Stufe 1 die Rolle von Mentoren. Auf Stufe 2 wurden zwei Einsätze unter afghanischer Führung und taktischer Aufsicht eines ISAF-Beraters durchgeführt. Auf Stufe 3 begrenzte ISAF ihre Aufsicht auf die operative Ebene, um sich auf Stufe 4 auf strategische Beratung zu beschränken. Aber entgegen den Erwartungen offenbarten die ANSF erhebliche Schwächen auch in Gebieten, in denen die Verantwortung vollständig übergeben worden war. Während die ANSF Aufständische im Feld einigermaßen erfolgreich bekämpften, blieben bei der logistischen, operativen und strategischen Planung zahlreiche Probleme ungelöst. Faktoren wie unerlaubtes Fernbleiben, Korruption und Nepotismus verursachten ernsthafte Schwierigkeiten, die von gestörten Lieferketten bis zur Rekrutierung von Führungspersonal reichten, die darunter litt, dass Beförderungen kaum auf Leistungsbasis erfolgten.[85]

Die Entscheidung von Präsident Obama, den Abzug von US-Streitkräften zu beschleunigen, führte zu einer noch zügigeren Verantwortungsübergabe als ursprünglich geplant: Mitte 2013 sollte im gesamten Land die Führung der ANSF obliegen, die Rolle der ISAF dagegen sich fast vollständig auf Ausbildung, Beratung und Unterstützung beschränken.[86] Diese strategische Entscheidung hatte politische und militärische Gründe. Erstens sandte sie ein klares Signal an die afghanische Regierung, dass der Kampfeinsatz der ISAF nun tatsächlich an sein Ende kam und die Sicherheit des Landes fortan in den Händen der ANSF läge. Die gleiche politische Botschaft sandte sie an die kriegsmüden Bevölkerungen der Koalitionsstaaten. Militärisch gesehen erlaubte die Übertragung der vollständigen Sicherheitsverantwortung im Jahr 2013 der ISAF, die Stärken und Schwächen der ANSF unter Post-2014-Bedingungen sorgfältig zu bewerten. Auf diese Weise konnte die Koalition ihre Ausbildungs- und Beratungsbemühungen auf die dringendsten Bedürfnisse und Defizite der ANSF konzentrieren.

8 Das Scheitern des vernetzten Ansatzes

McChrystals Strategie räumte viele Defizite und Fehlentscheidungen der Vorjahre offen ein und machte Lösungsvorschläge. Ungeachtet sinnvoller und notwendiger Modifizierungen der Strategie waren die Ergebnisse der immensen Anstrengungen der Koalition jedoch ziemlich ernüchternd. Zweifellos verbesserte sich die Sicherheitslage ganz erheblich. Allerdings war die allgemeine Lage in Afghanistan Ende 2013 immer noch alles andere als stabil:

  • Erstens konterkarierte die mangelnde Bereitschaft vieler Akteure innerhalb der afghanischen Regierung, Korruption zu bekämpfen, jeden ernsthaften Reformversuch. Schließlich muss die Regierung eines Aufnahmestaats ein engagierter strategischer Partner sein, nicht nur auf dem Gebiet der Sicherheit, sondern auch auf dem der Governance-Reform. Wird die Legitimität der Regierung durch Amtsmissbrauch ihrer Vertreter in einem fort untergraben, ist eine Stabilisierung nicht möglich.

  • Zweitens wurde auch das Ziel der regionalen „Af-Pak“-Strategie, im Kampf gegen die grenzüberschreitenden Aktivitäten der Aufständischen Pakistans Unterstützung zu gewinnen, nicht erreicht. Weil in Pakistan weiterhin sichere Rückzugsorte existierten, ließ sich die Gewalt in Afghanistan nicht stoppen.

  • Drittens fiel es der Koalition selbst nach zehnjährigem Einsatz in Afghanistan schwer, die afghanische Gesellschaft und Konfliktdynamik zu verstehen. Dies zeigte sich besonders deutlich in der Annahme, man müsse nur hinlänglich hohe Hilfsgelder auszahlen, um die Interessen maßgeblicher lokaler Akteure mit der Counterinsurgency-Strategie der ISAF in Einklang zu bringen. Allzu oft konnte man verhängnisvolle Fehldeutungen der COIN-Doktrin beobachten. Aber das kann man weder der umfassenden Counterinsurgency-Strategie der ISAF noch der ihr zugrundeliegenden Doktrin zur Last legen, vielmehr haperte es bei der Umsetzung.

Für die Umsetzung der neuen Strategie wurden erhebliche militärische Ressourcen bereitgestellt, auch wenn General McChrystal nicht die angeforderten zusätzlichen Truppenkontingente erhielt und die Aufstockung nur vorübergehend war. Die Erfolge beim Säubern und Halten von Schlüsselgebieten sowie der beschleunigte Aufbau von ANSF-Kapazitäten und -Fähigkeiten durch konsequente Ausbildungs- und Beratungsbemühungen bewiesen, dass die Erhöhung militärischer Ressourcen erhebliche positive Auswirkungen hatte. Hingegen kann man in Bezug auf die finanziellen Mittel, die für die zivilen Stabilisierungsbemühungen bereitgestellt wurden, durchaus behaupten, dass die riesigen Summen in Anbetracht der ungewollt ausgelösten Nebenwirkungen zu hoch waren. Wenn eine zivile Ressource nicht ausreichend zur Verfügung stand, dann nicht Geld, sondern Personal – Personal, welches das Capacity-building im zivilen Sektor unterstützt und vielleicht dafür gesorgt hätte, die Hilfsgelder mehr mit Blick auf ihre tatsächliche Wirkungskraft auszugeben. Doch auch wenn die Strategie der Koalition von 2010 schließlich durch die geforderten militärischen und (zumindest finanziellen) zivilen Ressourcen unterstützt wurde, kam der strategische Neustart sehr spät. Jedes Zeitfenster schließt sich nach einer Weile. Leider waren die politischen Entscheidungsträger erst dann zur Kursänderung bereit, als sich das Scheitern des ISAF-Einsatzes deutlich abzeichnete. Zu einem früheren Zeitpunkt, als der Aufstand noch nicht das ganze Land erfasst hatte, hätten entschlossene Maßnahmen auf Basis einer umfassenden Counterinsurgency-Strategie die Sicherheitslage zweifellos stärker beeinflussen können. Der Handlungsspielraum für die Durchsetzung verantwortungsvoller Governance und Rechtsstaatlichkeit wäre ein größerer gewesen. Und wäre der konsequente und kohärente Aufbau des Sicherheitssektors bereits 2002 in Angriff genommen worden – unterstützt durch ausreichende internationale Kräfte, die das Sicherheitsvakuum nach dem Sturz der Taliban gefüllt und die Entwaffnung der Milizen durchgesetzt hätten, statt diese noch zu stärken –, dann hätte das Errichten eines Gewaltmonopols unter einem weit besseren Stern gestanden.

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Published Online: 2022-03-18
Published in Print: 2022-03-28

© 2022, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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  43. Bildnachweise
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