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Ofer Fridman (Hrsg): Strategiya – The Foundations of the Russian Art of Strategy. Oxford und New York: Oxford University Press, 2021, 336 Seiten

  • Peter Eitel
Published/Copyright: March 18, 2022

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Fridman Ofer Strategiya – The Foundations of the Russian Art of Strategy Oxford und New York Oxford University Press 2021 1 336


Die sicherheits- und verteidigungspolitische Debatte in Deutschland zu Russland ist traditionell stark von Annahmen geprägt. Das liegt zum einen daran, dass die Zahl derer, die über Russland urteilen und gleichzeitig des Russischen fähig sind, zunehmend weniger werden und zum anderen am Verhalten Russlands seit der Annexion der Krim, das den Austausch und Dialog blockiert und verhindert. Den Anfang nahm diese Entwicklungen bereits mit dem Ende des Kalten Krieges – die zahllosen Kremlinologen, Russland-Experten und Analysten schienen plötzlich obsolet. Und so ist es auch nicht verwunderlich, dass westliche Wissenschaftler jahrelang die Überlegungen des russischen Generalstabschefs Gerasimow nicht korrekt würdigten, obwohl dieser das Ergebnis seiner Erforschung des russischen strategischen Denkens und dessen Wert für die heutigen Streitkräfte Russlands genau darlegte.

Ofer Fridman’s Buch Strategiya – The Foundations of the Russian Art of Strategy ist ein Versuch, diesem Missstand abzuhelfen. Der Sammelband enthält sechs ausgewählte Texte russischer strategischer Denker und Autoren aus unterschiedlichen Epochen der Geschichte Russlands, vom Zarenreich bis zur Sowjetunion. Diese wurden ins Englische übersetzt und so einer Vielzahl Lesern zugänglich und erschließbar macht. Dabei wird, wie Lawrence R. Freedman in seinem Vorwort bemerkt, auch die Entwicklung des russischen strategischen Denkens deutlich, die sich, so Freedman und Fridman, immer weiter vom westlichen Kanon strategischen Denkens entfernt hat.

Der erste vorgestellte Autor, Gendrich Leer, ein Theoretiker der Strategie aus der Zarenzeit, orientiert sich noch stark an Clausewitz und Henri de Jomini. Er betrachtet Strategie als komplexe Kunst (glazomer), die weit über das rein militärische hinausgehe. Mit dieser Analyse unterscheidet sich Leer von seinen Zeitgenossen, die, wie Fridman in seiner hilfreichen Einführung darlegt, unter erfolgreicher Strategie eher die korrekte Schlachtordnung verstanden. Der zweite vorgestellte Autor, Evgeny Ivanovich Martynow, ein Autor der späten Zarenzeit, spiegelt in seinen Überlegungen zum Verhältnis von Politik und Strategie einerseits den erstarkenden Nationalismus wider, der auch im Russland des frühen 20. Jahrhunderts präsent ist, und andererseits sein pan-slawistisches Ansinnen, dass sich auch im gegenwärtigen Russland Putins und seiner Orientierung zu einer vermeintlich post-westlichen Welt wiederfindet. Im Mittelpunkt steht dabei die Suche nach dem „russischen“ oder „slawischen“ in Strategie und Kriegführung.

Mit Anton Antonowitsch Kersnowski und Nikolai N. Golowin stellt Fridman zwei Autoren des Russlands vor, das kurz zuvor den Ersten Weltkrieg verloren hatte und durch die Oktoberrevolution vom Zarenreich zur bolschewistischen Sowjetunion wurde. Im verbliebenen Militärapparat gab es bis zu Stalins Säuberungswellen Ende der 1930er Jahre sowohl Vertreter des zaristischen Militärs als auch Vertreter der siegreichen Revolutionäre. Kersnowski ist ein Repräsentant des untergegangenen Zarenreiches, Golowin hingegen der siegreichen Revolutionäre. Noch stärker als bei Michnewitsch sind ihre strategischen Überlegungen politisch-ideologisch verklärt und durchdrungen. So trauert ersterer den glorreichen Zeiten nach, als Strategie noch eine Kunst war, während Letzterer Strategie als Wissenschaft versteht, die den Gesetzen des Marxismus-Leninismus folgt.

Der letzte von Ofer Fridman vorgestellte Autor, Ewgeni E. Messner, blickt wehmütig in die Vergangenheit. Messner, der den Zweiten Weltkrieg als Soldat erlebt hatte, schreibt aus dem südamerikanischen Exil; und er schreibt mit Bitterkeit vom Niedergang des einst stolzen russischen Soldaten und den Prinzipien, die das russischen Militär, zaristisch wie bolschewistisch, geleitet und zu seinen vergangenen Triumphen geführt haben. Unter dem Eindruck des nuklearen Zeitalters, der bipolaren Weltordnung und der technologischen Entwicklungen macht sich Messner aber Gedanken über den Krieg der Gegenwart und der Zukunft. Dabei betrachtet er einen Nuklearkrieg als unwahrscheinlich und befasst sich somit vor allem mit der Zukunft des Krieges unterhalb der Nuklearschwelle.

In diesem letzten Auszug des Sammelbandes findet der Leser wohl am ehesten Anleihen, die sich auf die Diskussion über Russland und sein strategisches Denken und Handeln von heute übertragen lassen. So beschreibt Messner das sich ständig wandelnde Gesicht des Krieges, der Überlegenheit indirekter Kriegführung und die Bedeutung psychologischer Kriegsführung und Propaganda. Er kritisiert den Zustand des sowjetischen Militärs seiner Zeit und fordert eine sowjetische Grand Strategy.

Ohne Zweifel gelingt es Ofer Fridman in eine politikrelevante Lücke zu stoßen. Der Sammelband ist ein wichtiger Beitrag zu einer oftmals allein auf Annahmen basierenden Debatte. Die ausgewählten Texte lassen die Entwicklung des russischen strategischen Denkens und seiner innewohnenden Debatte über die (westlichen) Prinzipien der Kriegführung und ihrer russisch-nationalen Ablehnung nachvollziehbar erscheinen.

Der Leser entdeckt in den Textauszügen auch immer wieder Stellen, die an das heutige russische strategische Verhalten erinnern. Das Buch und seine Text machen die Bedeutung der Fähigkeit, das strategische Denken des Gegners zu analysieren, um über mögliche zukünftige Verhaltensweisen besser urteilen zu können, unmissverständlich klar.

Auch wenn die ausgewählten Texte die Entwicklung des russischen strategischen Denkens nur exemplarisch widerspiegeln und die Autoren in der bisherigen westlichen Debatte nicht die nötige Aufmerksamkeit erfahren haben, wirft ihre Auswahl dennoch Fragen auf. Zum einen, weil der Befund, der zu dieser Veröffentlichung geführt hat, eine Neuauflage übersetzter Texte russischer oder sowjetischer Denker wie Swetschin, Tuchaschewski oder G.S. Isserson notwendiger erscheinen lässt als die Besprechung eher randständiger ziviler Strategie-Intellektueller und ehemaliger Offiziere.[1] Auch wenn die Auswahl wohl begründet und nachvollziehbar ist, werden dadurch wichtige Aspekte des russischen strategischen Denkens ausgeklammert. So wäre eine Vorstellung der Überlegungen von Admiral Gorschkow zu Seemacht und Strategie eine wünschenswerte Ergänzung für „Strategyia“, die den strategischen Horizont über die russische Landkriegführung hinaus erweitern würde.[2]

Zum anderen wirft die Auswahl Fragen auf, weil der Strategie-Doyen Russlands, General Alexander W. Suworow, seine Feldzüge und die von ihm in „Die Kunst des Siegens“ verschriftlichten Aphorismen nicht als Ausgangspunkt des strategischen Denkens in Russland vorgestellt wurden[3]. Auch die Kontextualisierung der ausgewählten Autoren in der Einleitung kommt zu kurz, um wirklich zu einem besseren Verständnis der russischen Strategiedebatte beitragen zu können.

Diese Kritik gilt in besonderem Maße für den deutschsprachigen Raum – denn im Gegensatz zum angelsächsischen Sprachraum gibt es hier kaum Übersetzungen russischer strategischer Denker, sodass dem deutschen Leser Anknüpfungspunkte fehlen. Sie wären ein wichtiger Beitrag für eine fundierte Debatte in Deutschland über Russland und sein Verhalten. Noch wichtiger als die Übersetzung russischer strategischer Denker ins Deutsche wäre jedoch ein deutschsprachiger Sammelband über die Entwicklung des strategischen Denkens insgesamt – denn ein solches Grundlagen- und Referenzwerk über Strategie, wie es von Peter Paret mit Makers of Modern Strategy 1986 vorgelegt wurde, fehlt im deutschsprachigen Raum vollständig. Mehr als dreißig Jahre nach dem Kalten Krieg erscheint dies jedenfalls überfällig.

Published Online: 2022-03-18
Published in Print: 2022-03-28

© 2022 Peter Eitel, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz.

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  1. Titelseiten
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  5. Das zweifache Scheitern der internationalen Gemeinschaft in Afghanistan – Studienergebnisse des ISPK aus dem vergangenen Jahrzehnt
  6. Aufsätze
  7. Die US-Intervention in Afghanistan: Die Politik der Obama-Regierung
  8. Förderung des lokalen Regierens in Afghanistan: Was ging schief?
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  19. Lehren aus Afghanistan
  20. Special Inspector General for Afghanistan Reconstruction (SIGAR): What we need to learn. Lessons of twenty years of Afghanistan Reconstruction. Washington, D.C.: SIGAR, August 2021
  21. Anthony H. Cordesman: Learning the Right Lessons from the Afghan War. Washington, D.C.: CSIS, September 2021
  22. Sicherheitslage Westpazifik
  23. Gregory B. Poling/Tabitha Grace Mallory/Harrison Prétat: Pulling Back the Curtain on China’s Maritime Militia. Report. Washington, DC: Center for Strategic and International Studies (CSIS), November 2021
  24. Chris Dougherty/Jennie Matuschak/Ripley Hunter: The Poison Frog Strategy. Preventing a Chinese Fait Accompli Against Taiwanese Islands. Washington, DC: Center for a New American Security, 2021
  25. Jacob Stokes: Tangled Threats. Integrating U.S. Strategies toward China and North Korea. Washington, D.C.: Center for a New American Security, Oktober 2021
  26. Sicherheitslage Schwarzes Meer und Ostseeraum
  27. Gustav Gressel: Waves of Ambition: Russia’s Military Build-Up in Crimea and the Black Sea. Berlin: European Council on Foreign Relations (ECFR), Policy Brief, September 2021
  28. Ben Hodges/Edward Lucas, mit Carsten Schmiedl: Close to the Wind. Baltic Sea Regional Security. Washington, D.C.: Center for European Policy Analysis (CEPA), September 2021
  29. Keir Giles: What deters Russia? Enduring principles for responding to Moscow. London: Royal Institute of International Affairs, Chatham House, September 2021
  30. Anika Binnendijk/Marta Kepe: Civilian-Based Resistance in the Baltic States. Historical Precedents and Current Capabilities, Santa Monica, Calif.: The RAND Corporation, 2021
  31. Uwe Halbach: Russlands Einflussmacht im Kaukasus. Konkurrenz und Kooperation mit Regionalmächten und globalen Akteuren. Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP-Studie 2021/S 10), Juli 2021
  32. Naher Osten
  33. Jim Townsend/Andrea Kendall-Taylor/David Shullman/Gibbs McKinley: A Limited Partnership Russia-China Relations in the Mediterranean. Washington, D.C.: Center for a New American Century (CNAS), September 2021
  34. Nicole Grajewski: The Evolution of Russian and Iranian Cooperation in Syria, Washington, DC: Center for Strategic and International Studies (CSIS), November 2021
  35. Buchbesprechungen
  36. David W. Kearn, Jr.: Reassessing U.S. Nuclear Strategy. Amherst, NY: Cambria Press, 2019, 268 Seiten
  37. Ofer Fridman (Hrsg): Strategiya – The Foundations of the Russian Art of Strategy. Oxford und New York: Oxford University Press, 2021, 336 Seiten
  38. Steven Wills: Strategy Shelved. The Collapse of Cold War Naval Strategic Planning. Annapolis: US Naval Institute Press, 2021, 292 Seiten
  39. Wladimir M. Grinin: Russlands Botschafter. Meine Jahre in Berlin (übersetzt von Hartmut Hübner). Berlin: Eulenspiegel Verlagsgruppe 2020, 223 Seiten
  40. Bücher von gestern – heute gelesen
  41. Hanns W. Maull: Strategische Rohstoffe. Risiken für die wirtschaftliche Sicherheit des Westens. München: R. Oldenbourg Verlag 1987 (Schriften des Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik e.V., Bonn, Reihe: Internationale Politik und Wirtschaft, Band 53), 301 Seiten.
  42. Bildnachweise
  43. Bildnachweise
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