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Anika Binnendijk Marta Kepe Civilian-Based Resistance in the Baltic States. Historical Precedents and Current Capabilities Santa Monica, Calif. The RAND Corporation 2021
Ziviler Widerstand ist kein neuer Gedanke – in Deutschland ist er mit Art. 20 IV sogar im Grundgesetz verankert. Obwohl er weltweit dennoch als Verfassungsgrundsatz nicht weit verbreitet ist, hat die Diskussion insbesondere im letzten Jahr durch die umstrittene Präsidentenwahl Lukaschenkos und die darauffolgenden Aufstände in Belarus wieder erhöhte mediale Aufmerksamkeit gewonnen. Namen wie Swetlana Tichanowskaja, Maria Kolesnikowa und Veronika Zepkalo erlangten beinahe über Nacht internationale Bekanntheit, nicht zuletzt, weil es vor allem weibliche Protagonistinnen waren, die die Spitze der Bewegung prägten. Vor diesem Hintergrund trifft die RAND Studie der beiden Autorinnen, Anika Binnendijk und Marta Kepe, über zivilen Widerstand in den baltischen Nachbarstaaten von Belarus auf einen Nerv. Die Studie beschäftigt sich einerseits mit der Frage, wie die baltische Zivilbevölkerung dazu beitragen kann, die nationale Unabhängigkeit während eines hypothetischen Besatzungsszenarios durch einen externen Aggressor (wieder) zu erlangen und andererseits mit der Frage, wie aktuelle Initiativen in Estland, Lettland und Litauen die Fähigkeit der baltischen Zivilbevölkerung, zum Widerstand beizutragen, verbessern können. Dieser Gedanke hatte bereits während des Kalten Krieges in den Ländern entlang des Eisernen Vorhangs viel Aufmerksamkeit erhalten. In jüngerer Zeit erlebt er durch ein wachsendes Forschungsinteresse an dem Potential ziviler Beiträge zu Konflikttypen wie Besatzungen, Regimewechseln oder Korruption eine Renaissance. Dies verstärkt jedoch auch die Tendenz, dass die Grenze zwischen Zivilisten und Frontlinien zunehmend verschwimmt.
Die beiden Autorinnen beschränken sich vornehmlich auf ein Besatzungsszenario durch einen externen Aggressor, namentlich Russland, das sie jedoch selbst als „unwahrscheinliches und höchst unerwünschtes Szenario“ (Seite 2) für die baltischen Staaten beschreiben. Trotz massiv gesteigerter Militärpräsenz Russlands ist es fraglich, wie lange ein solches Besatzungsszenario realistisch aufrechterhalten werden könnte. Und eben hier kommt der zivile Beitrag mit ins Spiel.
Die Sorge vor einem russischen Einmarsch im Baltikum spiegelt sich in der Fokussierung der NATO auf dieses Szenario und der entsprechenden Verteidigungsplanung wieder. Und auch die baltischen Staaten konzentrieren sich in ihrer Sicherheitsvorsorge auf dieses Artikel 5-Szenario und weiten ihre Investitionen in konventionelle und „unkonventionelle“ Verteidigungsmittel zunehmend aus. Während die größte Gefahr in den Augen der Balten nach wie vor von einem konventionellen Angriff Russlands ausgeht und sie durch das starke konventionelle Ungleichgewicht zwischen ihnen und den Russen auf massive militärische Verstärkung der NATO angewiesen sind, bauen sie dennoch, oder gerade deswegen, den zivilen Beitrag zum nationalen Widerstand aus – auch wenn dieser ohne Frage nur im Kontext einer bewaffneten Auseinandersetzung zum Tragen käme. Die Autorinnen der Studie konzentrieren sich daher auf die unterstützende Rolle, die Zivilisten einnehmen können, eine Rolle als fallback defense capability sozusagen, wie Brigade-General Edward Atkeson es bereits 1976 im Zusammenhang mit Westdeutschland formuliert hatte. Sie differenzieren hier aber klar zwischen Aufständen gegen eine etablierte Regierung, wie es in Belarus der Fall ist, und den von ihnen untersuchten Widerstandsbewegungen „zur Wiederherstellung der souveränen Kontrolle der rechtmäßigen nationalen Regierung“ (Seite 21) im Falle einer Besatzung durch einen externen Aggressor. Diese Differenzierung mag in der Fallstudie zwar sinnvoll sein, jedoch lassen sich die formulierten Ziele (des Widerstands) auch auf andere Regionen oder Formen des Widerstands ausweiten, wodurch die Ideen und Handlungsempfehlungen der Studie im Prinzip einen weitaus größeren Anwendungsbereich finden könnten.
Die Autorinnen führen historisch gut aufgearbeitete und auch eigens erhobene Daten zur Analyse an, um aufzuzeigen, welchen Beitrag die baltische Zivilbevölkerung während einer Besatzung leisten könnte, um die Unabhängigkeit wieder zu erlangen. Insbesondere bei der Auferlegung direkter oder indirekter Kosten für die Besatzungsmacht, der Verweigerung der politischen und wirtschaftlichen Konsolidierung des Besatzers, der Verringerung der Unterdrückungsmöglichkeiten und der Aufrechterhaltung sowie dem Ausbau von (externer) Unterstützung könne die Bevölkerung einen wichtigen Beitrag leisten. Die Autorinnen sehen dabei das größte Potential in guten Informations- und Kommunikationsstrukturen, vorausschauenden wirtschaftlichen Notfallplänen und einer Stärkung der Moral. Letztlich kommen sie jedoch zu dem Schluss, dass militärische und wirtschaftliche Unterstützung der Verbündeten die entscheidenden Faktoren bleiben. Der Appell an die NATO-Staaten ist deutlich: die Bereitschaft zu einem raschen konventionellen militärischen Eingreifen muss signalisiert werden. Dies ist die eigentliche fallback defense capability. Ob die NATO dieser Rolle gewachsen ist, ist eine andere Frage.
© 2022 Annabel Nerlich, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz.
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