Home Social Sciences Eine kritische Bewertung der europäischen Strategie in Afghanistan ist überfällig
Article Open Access

Eine kritische Bewertung der europäischen Strategie in Afghanistan ist überfällig

  • Oz Hassan
Published/Copyright: March 18, 2022

1 Einleitung

Auch wenn die Vereinigten Staaten die Hauptverantwortung für die Lage in Afghanistan tragen, sollte die EU überlegen, inwiefern ihre allzu eng gefasste Konzeption von Demokratie zu den Defiziten der Wiederaufbauanstrengungen beigetragen hat. Jetzt, da die Taliban wieder an der Macht sind, droht Afghanistan ein Teufelskreis der Gewalt. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird es unter den Taliban sowie zwischen ihnen und anderen extremistischen Organisationen zu Kämpfen kommen. Die Machtübernahme der Taliban und der Abzug der USA stellen die Afghanistan-Politik der Europäer vor tiefgreifende Herausforderungen.

Während man in den Vereinigten Staaten die Afghanistan-Strategie intensiv und kritisch diskutiert, muss die EU noch die Schwächen ihrer eigenen Strategien offen eingestehen und sich damit auseinandersetzen. Die wichtigste Lehre aus den politischen Initiativen der letzten zwanzig Jahren lautet: Die EU hat sich auf eine allzu oberflächliche Konzeption von Demokratieförderung und auf kontraproduktive Sicherheitsstrategien gestützt. So, wie sich jetzt die Lage vor Ort verschlechtert, kann die EU nicht viel mehr tun, als sich auf humanitäre Hilfe zu konzentrieren und Unterstützung für unabhängige Menschenrechtsgruppen anzubieten, damit diese weiterarbeiten können.

2 Was ging schief?

Die Vereinigten Staaten sind in hohem Maße für die gegenwärtige Afghanistan-Krise verantwortlich. Der U.S. Special Inspector General for Afghanistan Reconstruction (SIGAR) hat dargelegt, was in den letzten zwanzig Jahren misslungen ist und was die Vereinigten Staaten lernen müssen. Seine umfassende Analyse hat erhebliche Defizite bei Strategie, Nachhaltigkeit, Personal, Sicherheit und eine allgemeine mangelhafte Bereitschaftsplanung aufgedeckt.[1] Diese Lehren bestätigen andere Diagnosen des politischen Versagens Washingtons und die Gründe, die US-Präsident Joe Biden und seine Regierung für den Abschluss des lang erwarteten Abzugs der USA aus Afghanistan anführten. Für die Verantwortung der EU an dieser Krise liegt keine gleichwertige, genauso fundierte und systematische Analyse vor.[2] Dabei braucht die EU eine eigene umfassende Bestandsaufnahme zur Beurteilung dessen, was sie in Afghanistan erreicht hat und was nicht. Ohne eine solche kritische Aufarbeitung wird die EU schwerlich in Erfahrung bringen, weshalb ihre Strategie gescheitert ist – und damit auch keine Lehren für die Zukunft ziehen können.

3 Die Grenzen dessen, was das Engagement westlicher Demokratien erreichen konnte

Washington mag der oberste Planer des Krieges in Afghanistan gewesen sein, aber die Europäer spielten eine wichtige unterstützende Rolle. Europas Beiträge zu den Gesamtkosten des Krieges verblassen gegenüber denen der Vereinigten Staaten, die auf insgesamt 2,3 Billionen Dollar geschätzt wurden.[3] Bis Juni 2021 hatte die US-Regierung rund 145 Milliarden Dollar für den „Wiederaufbau und verbundene Aktivitäten“ in Afghanistan bereitgestellt; mehr als 60 Prozent dieser Summe flossen in Maßnahmen unter der Ägide des US-Verteidigungsministeriums, auch wenn das US-Außenministerium und die US-Behörde für Entwicklungszusammenarbeit (US Agency for International Development – USAID) ebenfalls einen Anteil davon erhielten.[4]

Dennoch können die Europäer wichtige Erkenntnisse aus ihrem Engagement gewinnen, da Afghanistan zeitweilig Hauptempfänger von EU-Entwicklungshilfe gewesen ist.[5] Mit der Brüsseler Afghanistan-Konferenz von 2016 hat die EU dem Land 5 Milliarden Euro zugesagt.[6] Grund für diese „außerordentlich hohe finanzielle Unterstützung“ war die Hoffnung, auf diese Weise sicherzustellen, „dass Afghanistan fest auf dem Pfad politischer und wirtschaftlicher Stabilität, des Aufbaus funktionstüchtiger staatlicher Strukturen und der Entwicklung bleiben [würde].“[7]

Obwohl ziemlich bald klar war, dass Afghanistan sich in Wirklichkeit nicht auf diesem Pfad befand, pumpten die EU und ihre Mitgliedstaaten weiterhin Geld in das Land. Bis 2021 haben sie ungefähr 11 Milliarden Euro zu multilateralen Wiederaufbauprojekten in Afghanistan beigesteuert, also mehr als die 8,5 Milliarden Euro, die die Vereinigten Staaten für diese internationalen Bemühungen bereitstellten. Die EU und ihre Mitgliedstaaten waren der größte Geber für internationale Organisationen, die beim Wiederaufbau Afghanistans halfen. Zwischen 2002 und 2021 haben sie 34 Prozent der Mittel für diese multilateralen Bemühungen beigesteuert (vgl. Tabelle im Anhang). Unbestritten kam der Krieg die Vereinigten Staaten in Bezug auf eigene Verluste und finanzielle Aufwendungen teuer zu stehen – ganz zu schweigen von dem unermesslichen menschlichen Leid, das der Krieg über die Afghanen brachte –, doch beim Wiederaufbau spielte Europa keine unbedeutende Rolle.

Noch im November 2020 sagte die EU weitere 1,2 Milliarden Euro an Hilfszahlungen „unter dem Vorbehalt“ zu, dass Afghanistan sich „weiterhin für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und Gleichberechtigung der Geschlechter einsetzt.“[8] Diese Bedingung zeigt, dass die EU unverändert davon ausging, Wiederaufbau und Demokratisierung in Afghanistan würden sich im Gleichschritt vollziehen, obwohl die Realität vor Ort klar das Gegenteil nahelegte. Die EU unterstützte ein oberflächliches Demokratiemodell, das die zentralistische Steuerung des Wiederaufbauprojekts förderte und „von oben angeordnete“ Prozesse legitimierte, die den Interessen der Eliten dienlich waren. Zweifellos hat die EU viele lokale Demokratie- und Good-Governance-Projekte unterstützt, etwa Wahlen zu den Provinzräten, ein Independent Directorate of Local Governance, das Afghanistan Subnational Governance Programme der UN sowie zahllose lokale Räte.[9] Aber diese Programme haben oft klientelistische Netzwerke lokaler und regionaler Eliten gestärkt, nicht jedoch dem Aufbau lokaler demokratischer Strukturen. Letztlich verstand sich die EU vornehmlich darauf, die politischen Eliten in Kabul zu unterstützen. Für State-building-Maßnahmen auf Ebene der Zentralregierung wurden sehr viel mehr Mittel bereitgestellt als für die Stärkung demokratischer Teilhabe auf lokaler Ebene.[10] Die EU hat dieses Spannungsverhältnis nie beseitigt und die Regierung in Kabul nicht gedrängt, Kompetenzen zu delegieren. Ein derartig vielfältiges und gespaltenes Land wie Afghanistan hätte aber ein Modell der Demokratieförderung benötigt, das seine Besonderheiten berücksichtigt. Der Aufbau lokaler demokratischer Strukturen wurde untergraben durch die starke Präferenz für Zentralisierung, die es nach Ansicht der EU brauchte, um Entwicklungs- und Stabilisierungsziele zu erreichen.[11]

Das halbherzige Engagement der internationalen Gemeinschaft und ihr zu eng gefasster Ansatz zur Demokratieförderung sind einer von vielen Faktoren, die das dramatische Scheitern der Demokratisierungsbemühungen in Afghanistan erklären. 2006 wurde Afghanistan im ersten Democracy-Index-Bericht der Economist Intelligence Unit als „autoritär“ eingestuft, in Bezug auf die Qualität seiner Demokratie landete es im globalen Ranking auf Platz 135.[12] Im Jahr 2020 lag sein Punktwert sogar noch niedriger, und es fiel im globalen Ranking auf Platz 142.[13] Das bedeutet: schon über zehn Jahre vor Machtübernahme der Taliban begann das zarte Pflänzchen Demokratie in Afghanistan mehr und mehr zu verkümmern, obwohl die Europäer ihre entsprechenden Finanzhilfen drastisch aufstockten und die internationale Gemeinschaft insgesamt erhebliche Anstrengungen auf diesem Sektor unternahm.[14]

Dieser Widerspruch offenbart die Diskrepanz zwischen den von europäischen Hauptstädten bereitgestellten Geldern und der strategischen Realität vor Ort. So haben die EU und ihre Mitgliedstaten zum Beispiel noch im Juli 2021 Geberzusagen für den Afghanistan Reconstruction Trust Fund für den Zeitraum 2021–2024 in Höhe von rund 1 Milliarde Dollar bestätigt. Von diesen Zusagen hatten sie für 2021 bereits rund 188 Millionen Dollar ausgezahlt.[15] Dabei befand sich zu diesem Zeitpunkt schon über die Hälfte der Distrikte in Afghanistan unter Kontrolle der Taliban. Die Autorität der afghanischen Regierung in den 34 Provinzen des Landes war bereits begrenzt und nahm weiter ab.[16] Die EU aber schien bei der fortgesetzten Auszahlung von Geldern die zunehmende autoritäre Dynamik zu ignorieren.

4 Von der Gefahr, einen korrupten, zentralistischen afghanischen Staat zu stützen

Diese Defizite reichen viele Jahre zurück. Im Jahr 2008 erklärte der EU-Sonderbeauftragte für Afghanistan, Francesco Vendrell, die EU habe nur „geringen Einfluss“ und Afghanistan habe sich in einen „kriminellen Narco-Staat“ verwandelt.[17] Vendrell führte dies darauf zurück, dass die Vereinigten Staaten sich meist über Bedenken der EU hinwegsetzten, sodass die EU „manchmal ein ziemlich erbärmliches Bild abgibt.“ Die Ad-hoc-Koalition der Vereinigten Staaten mit europäischen Großmächten – insbesondere Großbritannien, Frankreich und Deutschland – schadete von Anfang an einer kollektiven Antwort der EU.[18] Die EU hätte ein kritischerer Verbündeter sein müssen, statt sich für die Finanzierung einer scheiternden US-Strategie einspannen zu lassen. Während die EU die Mängel der US-Politik beklagte, muss sie sich ihrerseits die Beteiligung an einer Intervention vorwerfen lassen, deren Unzulänglichkeiten offensichtlich waren. Die EU hätte an besseren Erfolgsmaßstäben festhalten und sich auf einen strategischen Ausstiegsplan verständigen sollen, um sicherzustellen, dass ihre Bemühungen und Gelder nicht umsonst waren.

Die EU hätte schon beim Petersberger Abkommen mit seinen grundlegenden Weichenstellungen ein kritischer Partner sein sollen und als solcher einen übermäßig zentralistischen Ansatz und die allzu große Machtfülle des Präsidentenamts in Afghanistan nicht unterstützen dürfen. Die Mängel des Abkommens wurden wegen internationaler Befürchtungen bezüglich regionaler Warlords und sogenannter „zentrifugaler Kräfte“ in der afghanischen Verfassung von 2004 institutionalisiert.[19] Diesem Ansatz hätte sich die EU widersetzen sollen, insbesondere weil die Vereinigten Staaten der Terrorbekämpfung Priorität einräumten und ihr Hauptaugenmerk ab 2002 dem Irak galt.[20] Die Reform der Polizei unter deutscher Federführung, britische Bemühungen, den Drogenhandel zu bekämpfen, und die von Italien unterstützte Justizreform erwiesen sich als zu begrenzt und halbherzig, um erfolgreich zu sein.[21]

Die europäische Unterstützung für afghanische Reformen war allzu sehr angewiesen auf Sicherheitsgarantien der USA und der NATO. Die EU geriet in Abhängigkeit von einer zunehmend autoritär auftretenden afghanischen Regierung, die unfähig war, die grassierende nationale und lokale Korruption einzudämmen. Angesichts der Chronik dieses Scheiterns muss die EU sich dringend fragen, weshalb sie weiterhin einer „von oben verordneten“ Form der Demokratie, die offenkundig nicht funktionierte, Priorität einräumte. Dieser Ansatz betrachtete Afghanistan als ein „unbeschriebenes Blatt“, so als hätten sich nach dem Sturz der Taliban „von oben verordnete“ demokratische Institutionen und ein modernisierter, zentralistischer afghanischer Staat zügig aufbauen lassen.[22] Die neue Verfassung wurde von der Loya Jirga (was in etwa „Große Ratsversammlung“ bedeutet) ausgearbeitet und 2004 verabschiedet, aber chaotische Kompromisse und Eile führten zu einem Dokument, das sich stark auf die afghanische Verfassung von 1964 stützte, als hätte Afghanistan die Uhr zurückdrehen können.[23] Die Entscheidung, die Machtbefugnisse im Amt des Präsidenten zu bündeln, blendete die Konflikte der 1980er- und 1990er-Jahren aus, in denen zwei ideologisch gegensätzliche Regime Afghanistan zentralisieren wollten und gescheitert waren.

 Trotz Parlament wurde Afghanistan keine Demokratie

Trotz Parlament wurde Afghanistan keine Demokratie

Die politischen Projekte der EU übersahen die klientelistischen Netzwerke, die während des afghanischen Bürgerkriegs entstanden waren und oft mit Stammesloyalitäten einhergingen, die sich der Kontrolle des Staates entzogen. Für Akteure, die europäische und US-amerikanische Hilfsprogramme bei der Stärkung staatlicher Institutionen unterstützten, boten sich damit Anreize, ihre Partikularinteressen und nicht das Gemeinwohl zu verfolgen. Dies wurde zu einem Trend, der immer weiter um sich griff, von hochrangigen Amtsträgern bis hin zu lokalen afghanischen Polizisten auf den Straßen. Erpressung war eine übliche Vorgehensweise. Dieses Problem hat nicht nur die Rechtsstaatlichkeit in Afghanistan beschädigt, sondern auch das örtliche Vertrauen in die Rechtsordnung untergraben. Trotzdem blieben die Zentralisierung der Staatsverwaltung und einheitliche staatliche Institutionen das vorrangige Ziel von EU und USA, um das Verteilen von Hilfsgeldern zu erleichtern. Doch was man damit erreichte, war einzig und allein ein zentralistischer, autoritärer Staat, der von der Finanzierung durch Geber abhängig war – das Gegenteil dessen, was beabsichtigt war.

Außerhalb von Kabul sahen Afghanen sich grassierender Gewalt und Korruption ausgesetzt. Und das schürte Ängste, die letztlich dem Aufstand der Taliban in die Hände spielten. Die Taliban besaßen ein praktisches Verständnis von Gewohnheitsrecht und ländlicher Kultur, und sie kümmerten sich um lokale Missstände. Dagegen wurden die begrenzten Bemühungen der EU zur Demokratieförderung oft von lokalen Eliten vereinnahmt, die dies als Chance nutzten, staatliche Institutionen unter ihre Kontrolle zu bringen. Die Initiativen der Europäer haben die vorrangigen Bedürfnisse der lokalen Bevölkerungsgruppen nicht angemessen berücksichtigt und ungewollt klientelistische Netzwerke gestützt.[24] Während die EU und die internationale Gemeinschaft sich bemühten, ein in formaler Hinsicht demokratisches System zu installieren, bauten die Taliban parallele informelle staatliche Strukturen auf. Die Taliban waren erfolgreich, weil ihnen lokale Bevölkerungsgruppen den Rücken stärkten, die es mit einer gewählten, aber korrupten autoritären Regierung zu tun hatten.[25]

5 Wie sieht die Zukunft der Beziehungen zwischen der EU und Afghanistan aus?

Die Rückkehr der Taliban an die Macht und der Abzug von US- und NATO-Truppen hat eine neue Phase der Beziehungen zwischen Europa und Afghanistan eingeläutet. So unvermittelt der Zusammenbruch der afghanischen Regierung im August 2021 auch erschien, war dieses Datum doch lediglich der Kipppunkt, an dem sich das Gewicht der seit dem Petersberger Abkommen angehäuften Fehler mit voller Wucht manifestierte. Das resultierende Chaos, die Gewalt und die politische Rolle rückwärts zur Taliban-Herrschaft haben über 20 Jahre EU-Demokratieförderungs- und State-building-Bemühungen beendet – zumindest vorläufig.

Die EU-Hilfe für Afghanistan wurde ausgesetzt. Obwohl die EU die Taliban nicht offiziell anerkannt hat, hält sie an „operativen Kontakten“ zum neuen Regime fest.[26] Das ist auch sinnvoll in Anbetracht des lokalen Kontextes und der geopolitischen Realitäten eines wiedererwachten diplomatischen Interesses Russlands und Chinas an Afghanistan. Im Rückblick bestätigt sich, dass die inoffiziellen Kontakte zwischen der EU, den UN und den Taliban im Jahr 2007, auf die die unlängst gestürzte afghanische Regierung mit der Ausweisung zweier hochrangiger Diplomaten reagierte, richtig gewesen waren.[27] Europa ist heute in einer viel schwächeren Position als damals und hat kaum Einfluss auf das neue Regime.

Europäische Regierungen und EU-Institutionen müssen sich damit abfinden, dass das Konstrukt von Demokratie und state building in Afghanistan vorerst eingestürzt ist. Es macht wenig Sinn, ohne verlässliche lokale und internationale Partner weiterhin die Verteidigung von Freiheitsrechten zu beschwören. Europa muss lernen, innerhalb der Grenzen afghanischer Normen zu arbeiten, wenn es in Zukunft bei der Bewältigung lokaler Probleme in Afghanistan helfen will. Falls sich die geringsten Möglichkeiten zur Demokratieförderung ergeben, dann sollte es diese nutzen. Allerdings müsste die Unterstützung anders aussehen – weniger von oben verordnet und mehr lokal verankert. In dem Maße, wie humanitäre Hilfe an die Spitze der Agenda rückt und das Interesse der USA an Afghanistan schwindet, wird sich manches aus den 1980er- und 1990er-Jahren wiederholen. In jenen Jahrzehnten verfolgte die EU in Afghanistan eine Strategie, die einem Bottom-up-Modell humanitärer Unterstützung weitaus näherkam. Sie tat sich schwer mit den Taliban, wurde aber de facto zum Koordinator der humanitären Hilfe.[28] Die Europäer knüpften über NGO-Netzwerke lokale Kontakte und waren deutlich besser über die Lage vor Ort außerhalb Kabuls im Bilde. Dies ermöglichte der EU, mit einem viel größeren Chor afghanischer Stimmen in Dialog zu treten und dort, wo sie es vermochte, lokales capacity building zu unterstützen.

Auch wenn sich seither vieles geändert hat, würde die EU-Politik davon profitieren, sich ein wenig an der damaligen Strategie zu orientieren. Dies bedeutet nicht, dass die Europäer ihren Einsatz für zentrale Menschen- und politische Rechte aufgeben sollten; vielmehr sollten sie auf indirekte Weise lokale Stimmen und Kapazitäten fördern, die sich der neuen fundamentalistischen Theokratie entgegenstellen könnten. Europa muss sich mit der Niederlage abfinden, darf aber Stabilität nicht um jeden Preis unterstützen.

Die Anführer der Taliban werden zweifellos versuchen, ihr Land zentralistisch zu regieren. Aber dies wird ihre Position schwächen. Die Taliban sind nun verantwortlich für den wirtschaftlichen Wohlstand Afghanistans, und sie haben es dabei mit einer afghanischen Bevölkerung zu tun, die besser gebildet und stärker urbanisiert ist als vor zwanzig Jahren. Sie werden einen Preis für die politische Macht zahlen müssen; Europa sollte abwarten, ob die fragilen Allianzen der Taliban mit lokalen Gruppen halten werden. Nachdem sich das Blatt gewendet hat, sollte Europa sich umhören nach unabhängigen Stimmen, sich für Menschenrechte einsetzen und auf die humanitären Bedürfnisse der Afghanen konzentrieren. Ein ideales Ergebnis ist das nicht, und es bedeutet, dass die Europäer sich mit sehr viel bescheideneren Zielen begnügen müssen. Doch die Niederlage von 2021 zeigt nun einmal, dass die EU sich auf die Realitäten einer post-amerikanischen Welt einstellen muss.


Hinweis

Dieser Artikel ist Teil der von Carnegie Europe und der European Partnership for Democracy betriebenen Initiative European Democracy Hub. Dieser Beitrag beruht auf früheren, nicht mit Carnegie in Verbindung stehenden Forschungen des Autors, die im Rahmen der FP7 Coordination of Non-Community Research Programmes (Grant Number 225722) von der EU finanziert wurden. Die in diesem Beitrag zum Ausdruck gebrachten Ansichten sind ausschließlich die des Autors.


Literatur

Barfield, Thomas (2012): Afghanistan: A Cultural and Political History. Princeton: Princeton University PressSearch in Google Scholar

Bose, Srinjoy/Motwani, Nishank/Maley, William (Hrsg.) (2019): Afghanistan – Challenges and Prospects. London/New York: Routledge10.4324/9781315161938Search in Google Scholar

Chase, Sarah/Grare, Frederic (2012): Avoiding Catastrophic Failure in Afghanistan. Washington, D.C.: Carnegie Endowment – Global ten Blog; https://carnegieendowment.org/globalten/?fa=50141Search in Google Scholar

Directorate-General for External Policies of the Union (2014): Workshop Afghanistan and Central Asia. Prospects and Challenges after Withdrawal of NATO/ISAF Forces. Brussels: European Parliament; https://www.europarl.europa.eu/RegData/etudes/STUD/2015/457127/EXPO_STU(2015)457127_EN.pdfSearch in Google Scholar

Gross, Eva (2009): The Europeanization of National Foreign Policy: Continuity and Change in European Crisis Management. Hampshire, UK: Palgrave Macmillan10.1057/9780230233850_2Search in Google Scholar

Gross, Eva (2012): The EU in Afghanistan, in: The European Union as a Global Conflict Manager, hrsg. von Richard G. Whitman und Stefan Wolff. London: Routledge, 107–119Search in Google Scholar

Hassan, Oz (2020): The evolution of the European Union’s failed approach to Afghanistan, European Security, 29 (1), 74–9510.1080/09662839.2019.1679773Search in Google Scholar

Hassan, Oz/Hammond, Andrew (2011): The rise and fall of American’s freedom agenda in Afghanistan: counter-terrorism, nation-building and democracy, The International Journal of Human Rights, 15 (4), 532–55110.1080/13642987.2011.561986Search in Google Scholar

Jones, Seth G. (2008): The Rise of Afghanistan’s Insurgency: State Failure and Jihad, International Security, 32 (4), 7–4010.1162/isec.2008.32.4.7Search in Google Scholar

SIGAR – Special Inspector General for Afghanistan Reconstruction (2021a): What we need to learn: Lessons from Twenty Years of Afghanistan Reconstruction. Washington, D.C.: SIGARSearch in Google Scholar

SIGAR – Special Inspector General for Afghanistan Reconstruction (2021b): Quarterly Report to the United States Congress. Washington, D.C.: SIGARSearch in Google Scholar

Thier, J. Alexander (2006/2007): The Making of a Constitution in Afghanistan, New York Law School Law Review, 51 (3), 557–579Search in Google Scholar

Waldmann, Matt (2013): System failure: the underlying causes of US policy-making errors in Afghanistan, International Affairs, 89 (4), 825–84310.1111/1468-2346.12047Search in Google Scholar

Tab. 1

Gesamtbeiträge der USA und der EU zur multilateralen Hilfe für den Wiederaufbau Afghanistans (in Mrd. Dollar)

 

Afghanistan Reconstruction Trust Fund

UN Office for the Coordination of Humanitarian Affairs

Law and Order Trust Fund of Afghanistan

NATO

Andere

Summe

Gesamtheit der bereitgestellten Mittel

13,1

10,8

6,4

4,7

3,0

38

Summe der Beiträge zu multilateralen Fonds

4,1

3,1

1,7

0,3

0,7

9,9

Prozentualer Anteil der US-Beiträge zu multilateralen Fonds

32 %

28 %

26 %

 7 %

23 %

26 %

Summe der Beiträge von EU und EU-Mitgliedstaaten zu multilateralen Fonds

5,2

2,7

2,2

2,1

0,6

12,8

Prozentualer Anteil der Beiträge von EU und EU-Mitgliedstaaten zu multilateralen Fonds

40 %

25 %

34 %

44 %

20 %

34 %

Summe der Beiträge anderer Länder zu multilateralen Fonds

3,7

5,0

2,5

2,3

1,7

15,2

Prozentualer Anteil der Beiträge anderer Länder zu multilateralen Fonds

28 %

46 %

39 %

49 %

57 %

40 %

Quelle: Special Inspector General for Afghanistan Reconstruction (SIGAR), Quarterly Report to the United States Congress, Special Inspector General for Afghanistan Reconstruction (Arlington, VA: Special Inspector General for Afghanistan Reconstruction, Juli 2021), https://www.sigar.mil/pdf/quarterlyreports/2021-07-30qr.pdf.

Anmerkung: Die Finanzierungsbeträge in dieser Tabelle decken den Zeitraum von 2002 bis 2021 ab. Diese Zahlen beziehen sich auf die Mittel, die diese Parteien für multilaterale Wiederaufbaubemühungen in Afghanistan bereitstellten. Sie entsprechen nicht den Gesamtkosten des Wiederaufbaus, zu denen auch Unsummen an bilateraler Hilfe von diesen und anderen Ländern zählen. Die Zahlen sind gerundet und summieren sich möglicherweise nicht exakt zu den Gesamtbeträgen in der Quelle, und sie schließen auch die Übergangsphase ein, in der sich Großbritannien darauf vorbereitete, die EU zu verlassen.

Published Online: 2022-03-18
Published in Print: 2022-03-28

© 2022 Oz Hassan, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz.

Articles in the same Issue

  1. Titelseiten
  2. Editorial
  3. Editorial
  4. Dokumentation
  5. Das zweifache Scheitern der internationalen Gemeinschaft in Afghanistan – Studienergebnisse des ISPK aus dem vergangenen Jahrzehnt
  6. Aufsätze
  7. Die US-Intervention in Afghanistan: Die Politik der Obama-Regierung
  8. Förderung des lokalen Regierens in Afghanistan: Was ging schief?
  9. Kurzanalysen und Berichte
  10. Eine kritische Bewertung der europäischen Strategie in Afghanistan ist überfällig
  11. Afghanistans ewiges Versprechen
  12. Russisch-belarussisches Manöver Sapad-2021: Teil der Kriegsvorbereitungen gegen die Ukraine
  13. Kommentare
  14. Die ewige Niederlage in Afghanistan
  15. Afghanistan: Unser Scheitern im Großen – Bilanz eines Mitauftraggebers
  16. Deutschlands Afghanistan-Amnesie
  17. Si vis pacem para bellum
  18. Ergebnisse strategischer Studien
  19. Lehren aus Afghanistan
  20. Special Inspector General for Afghanistan Reconstruction (SIGAR): What we need to learn. Lessons of twenty years of Afghanistan Reconstruction. Washington, D.C.: SIGAR, August 2021
  21. Anthony H. Cordesman: Learning the Right Lessons from the Afghan War. Washington, D.C.: CSIS, September 2021
  22. Sicherheitslage Westpazifik
  23. Gregory B. Poling/Tabitha Grace Mallory/Harrison Prétat: Pulling Back the Curtain on China’s Maritime Militia. Report. Washington, DC: Center for Strategic and International Studies (CSIS), November 2021
  24. Chris Dougherty/Jennie Matuschak/Ripley Hunter: The Poison Frog Strategy. Preventing a Chinese Fait Accompli Against Taiwanese Islands. Washington, DC: Center for a New American Security, 2021
  25. Jacob Stokes: Tangled Threats. Integrating U.S. Strategies toward China and North Korea. Washington, D.C.: Center for a New American Security, Oktober 2021
  26. Sicherheitslage Schwarzes Meer und Ostseeraum
  27. Gustav Gressel: Waves of Ambition: Russia’s Military Build-Up in Crimea and the Black Sea. Berlin: European Council on Foreign Relations (ECFR), Policy Brief, September 2021
  28. Ben Hodges/Edward Lucas, mit Carsten Schmiedl: Close to the Wind. Baltic Sea Regional Security. Washington, D.C.: Center for European Policy Analysis (CEPA), September 2021
  29. Keir Giles: What deters Russia? Enduring principles for responding to Moscow. London: Royal Institute of International Affairs, Chatham House, September 2021
  30. Anika Binnendijk/Marta Kepe: Civilian-Based Resistance in the Baltic States. Historical Precedents and Current Capabilities, Santa Monica, Calif.: The RAND Corporation, 2021
  31. Uwe Halbach: Russlands Einflussmacht im Kaukasus. Konkurrenz und Kooperation mit Regionalmächten und globalen Akteuren. Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP-Studie 2021/S 10), Juli 2021
  32. Naher Osten
  33. Jim Townsend/Andrea Kendall-Taylor/David Shullman/Gibbs McKinley: A Limited Partnership Russia-China Relations in the Mediterranean. Washington, D.C.: Center for a New American Century (CNAS), September 2021
  34. Nicole Grajewski: The Evolution of Russian and Iranian Cooperation in Syria, Washington, DC: Center for Strategic and International Studies (CSIS), November 2021
  35. Buchbesprechungen
  36. David W. Kearn, Jr.: Reassessing U.S. Nuclear Strategy. Amherst, NY: Cambria Press, 2019, 268 Seiten
  37. Ofer Fridman (Hrsg): Strategiya – The Foundations of the Russian Art of Strategy. Oxford und New York: Oxford University Press, 2021, 336 Seiten
  38. Steven Wills: Strategy Shelved. The Collapse of Cold War Naval Strategic Planning. Annapolis: US Naval Institute Press, 2021, 292 Seiten
  39. Wladimir M. Grinin: Russlands Botschafter. Meine Jahre in Berlin (übersetzt von Hartmut Hübner). Berlin: Eulenspiegel Verlagsgruppe 2020, 223 Seiten
  40. Bücher von gestern – heute gelesen
  41. Hanns W. Maull: Strategische Rohstoffe. Risiken für die wirtschaftliche Sicherheit des Westens. München: R. Oldenbourg Verlag 1987 (Schriften des Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik e.V., Bonn, Reihe: Internationale Politik und Wirtschaft, Band 53), 301 Seiten.
  42. Bildnachweise
  43. Bildnachweise
Downloaded on 18.12.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/sirius-2022-1005/html
Scroll to top button