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Die ewige Niederlage in Afghanistan

  • Barnett Rubin

    Barnett R. Rubin ist Gast-Wissenschaftler am Center on International Cooperation der New York University und außerdem tätig am Quincy Institute for Responsible Statecraft. Er hat an den Universitäten Yale und Columbia unterrichtet, leitete das Center for Preventive Action beim Council on Foreign Affairs und war hoher Berater des US-Sondergesandten für Afghanistan und Pakistan (2009 bis 2013) und des UN-Sondergesandten des Generalsekretärs für Afghanistan (2001 bis 2002). Sein jüngstes Buch, Afghanistan: What Everyone Needs to Know, wurde 2020 bei Oxford University Press verlegt.

Published/Copyright: March 18, 2022

„Jeder lässt uns im Stich.“ Dies waren die ersten Worte, die Ashraf Ghani äußerte – nicht, als er am 15. August 2021 vor den vorrückenden Taliban floh, sondern im März 2002, als wir uns bei meinem ersten Besuch in Kabul nach den Terroranschlägen vom 11. September an einem kalten und regnerischen Tag zum Abendessen hinsetzten. Ich kannte ihn seit 1984, zuerst als akademischen Kollegen und dann als Mitarbeiter der Weltbank. Wir hatten als informelle Berater des UN-Gesandten Lakhdar Brahimi während dessen erster Mission von 1997 bis 1999 zusammengearbeitet und danach als Teil des Teams der Vereinten Nationen im Jahr 2001, als wir beide auf der Petersberger Konferenz, auf der die Leitlinien für die Post-Taliban-Regierung festgelegt wurden, als Berater Brahimis fungierten.[1]

Bald darauf zog Ghani nach Kabul, wo er die Afghanistan Aid Coordination Agency gründete, die nach seiner Aussage die internationale Hilfe mit afghanischen Prioritäten koordinieren sollte.[2] Beim Abendessen sagte er mir, die Regierung Bush habe keine neuen Gelder für den Wiederaufbau des Landes bereitgestellt, das damals nach (bloß!) 24 Jahren Krieg völlig verwüstet war. Internationale Organisationen hätten die Wiederaufbaukosten krass unterschätzt, und ihre unkoordinierten Aktivitäten würden die mittellose Regierung an den Rand drängen. Die politische Mission der UN in Afghanistan wäre praktisch die einzige, die auf die Erweiterung der Übergangsverwaltung bei der anstehenden Außerordentlichen Loya Jirga drängen würde.[3] Ghani wurde bei dieser jirga drei Monate später als Finanzminister bestätigt und schließlich 2014 zum Präsidenten gewählt. Er musste feststellen, dass die politischen Maßnahmen, die er in seinem 2009 erschienenen Buch Fixing Failed States empfohlen hatte, die politischen Realitäten in Afghanistan und in den USA ignorierten.[4] Selbst nachdem die Vereinigten Staaten im Februar 2020 eine Vereinbarung mit den Taliban geschlossen hatten, in der sie ihren Abzug bis zum 1. Mai 2021 versprachen, wollte er nicht glauben bzw. nicht für den Fall planen, dass die US-Streitkräfte tatsächlich abziehen würden.[5] Noch am 2. August 2021 prahlte er vor dem afghanischen Parlament, er würde die Situation innerhalb von sechs Monaten „unter Kontrolle“ bringen.[6]

 Ashraf Ghani 2017

Ashraf Ghani 2017

Ein paar Tage nach meinem Abendessen mit Ghani im Jahr 2002 fand ich, einigen vagen Hinweisen folgend, Amrullah Saleh, dem ich erstmals im Januar 1996 in der nordafghanischen Stadt Kunduz begegnet war. Verteidigungsminister Ahmad Schah Massoud hatte ihn zu mir geschickt, während ich mir im Auftrag der Open Society Foundation ein Bild von der Lage der Flüchtlinge aus Tadschikistan in Nordafghanistan machen sollte. Saleh war damals der 23-jährige stellvertretende Sprecher des Verteidigungsministeriums. Fünf Jahre später traf ich ihn in seinem Büro im (für Kabuler Verhältnisse im Jahr 2002) gehobenen Viertel Shahr-i Naw, von wo aus er die Abteilung Terrorismusbekämpfung des afghanischen Nachrichtendienstes leitete. Bei diesem Treffen sagte Saleh über Ghani: „Für uns [Tadschiken] ist es offensichtlich, dass er eine ethnische [paschtunische] Agenda hat.“ Im Jahr 2004 wurde er Chef des afghanischen Nachrichtendienstes, um im Jahr 2010 von Präsident Hamid Karsai entlassen zu werden.[7] Im Jahr 2019 gab er anscheinend seine früheren Vorbehalte auf und erklärte sich bereit, in Ghanis zweiter Amtszeit erster Vizepräsident zu werden. Als die Verteidigungslinien um Kabul im August 2021 zusammenbrachen, floh Saleh mit einigen Vertrauten und Massouds Sohn Ahmad in das Pandschir-Tal, ihre Heimatregion, um den Taliban Widerstand zu leisten. Nach Ghanis Flucht erhob Saleh kurzzeitig den Anspruch, amtierender Präsident zu sein, bis er und Massoud nach Tadschikistan fliehen mussten.[8]

Nach unserem ersten Treffen in seinem Büro im März 2002 sagte mir Saleh beim Mittagessen in dem chinesischen Restaurant „Marco Polo“ auf der gegenüberliegenden Straßenseite, er verbringe die Hälfte seiner Zeit mit Versuchen, den politischen Schaden zu reparieren, der durch die zivilen Opfer und irrtümlichen Festnahmen bei US-Razzien aufgrund falscher nachrichtendienstlicher Erkenntnisse verursacht werde. Als ich im September 2002 seine Warnungen auf einer Konferenz in Großbritannien zitierte, ohne ihn als Urheber zu nennen, äußerte ein britischer Minister sarkastisch: „Ich habe gerade die Stimme der Apokalypse gehört!“ Anschließend kam Saleh zu mir und sagte: „Sie haben meine Worte benutzt!“ Worauf ich erwiderte: „Ich habe gesprochen, weil Sie es nicht konnten.“

 Amrullah Saleh 2011

Amrullah Saleh 2011

Während dieses Besuchs in Kabul, am Vorabend des Frühlingsfests Nawruz im Jahr 2002 (islamischer Kalender 1381), speiste ich im Präsidentenpalast mit Karsai, den ich seit 1987 kannte. Beim grünen Tee vor dem Essen brachte ich zu Sprache, dass örtliche Befehlshaber nach dem Sturz der Taliban die Macht in Provinzen und Kommunen übernommen hätten. Und ich warf die Frage auf, ob die Regelung, politische und militärische Gewalt voneinander zu trennen, langfristig den staatlichen Zentralismus in Afghanistan verringern könnte. Karsai behauptete, er werde die alte zentralistische Ordnung so schnell wie möglich wiedereinführen, Gouverneure und Distriktgouverneure von außerhalb der Gebiete berufen, die sie verwalten sollten, um sicherzustellen, dass sie die Zentralregierung und nicht etwa lokale Sondergruppen repräsentierten.

Im Gegensatz zu einem weitverbreiteten Irrglauben haben die Vereinigten Staaten diese zentralistische Struktur nicht einem „traditionell dezentral organisierten“ afghanischen Staatswesen „aufgezwungen.“ Die Zentralisierung des afghanischen Staates geht auf das Regime von Amir Abdul Rahman Khan (1880 bis 1901) zurück.[9] Damals subventionierte Großbritannien eine starke Armee, um Afghanistan als stabilen, wenn auch isolierten Puffer zwischen dem britischen Empire und dem russischen Zarenreich zu erhalten.[10] 2002 fand sich der Staat in dieser ihm vertrauten Rolle wieder: Er half erneut einer Großmacht, im Gegenzug für Finanzhilfen, ihre „Sicherheit“ zu gewährleisten, diesmal gegen eine „terroristische Bedrohung“.

Wie die meisten Angehörigen afghanischer Eliten mit Verbindungen zum alten Regime, die durch die in Petersberg geschlossenen politischen Vereinbarungen wieder Macht erlangt – und im Bündnis mit Elementen der antisowjetischen Mudschaheddin gegen die Taliban gekämpft – hatten, unterstützte auch Karsai diese zentralistische Struktur. Sie galt ihm als Mittel, fremde Mächte davon abzuhalten, Unterschiede zwischen den heterogenen ethnischen Gemeinschaften Afghanistans auszunutzen. Allerdings war und ist diese Struktur vollkommen ungeeignet für die Funktionen, die sie übernehmen sollte: dem afghanischen Volk öffentliche Dienstleistungen bereitzustellen bzw. für eine „gute Regierungsführung“ zu sorgen. Als Machtmissbrauch und die Zahl ziviler Opfer nach 2002 zunahmen, profitierten die Taliban von der Unfähigkeit des Staates, die ländliche Bevölkerung auf seine Seite zu ziehen, indem sie lokale Anführer für sich gewannen, einschüchterten oder ausschalteten. Dabei verfügten die Taliban über jede Menge lokaler Rekruten, die auf Vergeltung für Angriffe der US-Streitkräfte und der mit ihnen verbündeten Warlords auf ihre Dörfer und Stämme aus waren.[11]

Nachdem ich bei meinen wiederholten Besuchen spürte, dass das amerikanische Projekt in Afghanistan zu scheitern begann, kehrte ich im Juli 2006 nach Kabul zurück. Saleh, mittlerweile Chef des afghanischen Nachrichtendienstes, gab mir einen Bericht, den er zwei Monate zuvor geschrieben hatte und der den Titel „Die Strategie der Aufständischen und Terroristen in Afghanistan“ trug. Anspielend auf Sun Tzu warnte Saleh: „Die Pyramide der Legitimität der afghanischen Regierung sollte nicht wegen unserer Unfähigkeit, den Feind zu verstehen, uns selbst zu erkennen und Ressourcen effektiv einzusetzen, zum Einsturz gebracht werden.“ Aber genau das geschah.

Das Scheitern des Einsatzes in Afghanistan unter US-amerikanischer Führung begann vermutlich am 6. Dezember 2001, dem Tag nach der Unterzeichnung des Petersberger Abkommens, als US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, auf mehrmaliges Nachfragen von Reportern im Pentagon hin, eine politische Vereinbarung zwischen Karsai und den verbliebenen Taliban-Führern in Kandahar ablehnte.[12] Die Taliban, schockiert von ihrer schnellen und scheinbar vollständigen Niederlage, hatten sich bereit erklärt, Karsais Führungsanspruch anzuerkennen und die noch von ihnen kontrollierten vier Provinzen zu übergeben im Gegenzug für eine Amnestie, die es ihrem Anführer Mullah Omar erlauben sollte, „in Würde“ in Kandahar zu leben.[13] Dies hätte ihnen ermöglicht, an dem im Petersberger Abkommen verabredeten Prozess zur Bildung einer dauerhaften Regierung teilzunehmen. Statt nach Guantanamo oder auf afghanische Friedhöfe geschickt zu werden, hätten sie entsprechend ihrer tatsächlichen Mitgliederzahl und ihres (geringen, aber vorhandenen) realen Einflusses an der Ausarbeitung und Umsetzung der Verfassung mitwirken können. Doch Rumsfeld erklärte, es werde „keine Verhandlungslösung“ geben.[14] Fast zwanzig Jahre später sollte sich zeigen, dass er recht hatte, allerdings nicht in dem von ihm gemeinten Sinne.

Für Rumsfeld bestand das zentrale Ziel der US-Politik in Afghanistan nicht darin, das Land zu stabilisieren oder ihm zu helfen beim Aufbau einer Regierung, die aus eigener Kraft den Terrorismus bezwingen könnte. Vielmehr ging es ihm darum, durch Festnahme und Vernichten der „Bösewichte“ ein Signal an alle bösen Menschen zu senden, die es wagen könnten, die Vereinigten Staaten anzugreifen. Dies blieb auch dann noch die offizielle Linie, als, wie Rumsfeld beklagte, „die Bösewichte unsichtbar blieben.“[15]

 U.S. Verteidigungsminister Donald Rumsfeld und Präsident Karsai 2002

U.S. Verteidigungsminister Donald Rumsfeld und Präsident Karsai 2002

Im Jahr 2006 war Saleh der Überzeugung, die Taliban seien „strategisch erfolgreich.“ Wenn die afghanische Regierung und die internationale Koalition keine „klare und genau definierte Strategie“ verfolgten, so schrieb er, „werden [die Taliban] unbesiegbar sein.“ Vier Monate nachdem Saleh seinen Bericht abgeschlossen hatte, im September 2006, starteten die Taliban ihre erste Offensive gegen eine Großstadt: Kandahar.[16] Kanadische NATO-Streitkräfte brachten ihnen zwar eine taktische Niederlage bei, aber sie etablierten sich dauerhaft in den Distrikten um Kandahar.[17] Von dort fuhren sie mit ihren Pickups, Motorrädern und zurückgelassenen US-Humvees hinein in die Stadt, als 15 Jahre später die afghanische Armee zusammenbrach.[18]

Präsident Barack Obama erkannte, dass sich die Situation verschlechterte, auch wenn in der Öffentlichkeit ein anderes Bild gezeichnet wurde. Er versprach, den Krieg im Irak zu beenden und sich auf Afghanistan zu konzentrieren. Der erste Entwurf der Afghanistan-Strategie seiner Regierung war ein Bericht vom März 2009 aus der Feder von Bruce Riedel, einem ehemaligen Terrorabwehr-Analysten der CIA und Mitarbeiter des Nationalen Sicherheitsrats, der bei der Brookings Institution arbeitete.[19] Die im Herbst 2009 vorgenommene Strategie-Überprüfung beruhte hauptsächlich auf der Lageeinschätzung vor Ort durch den neu ernannten Befehlshaber, Lt. Gen. Stanley A. McChrystal.[20] Auch wenn in einem anderen Stil geschrieben, war der Riedel-Bericht inhaltlich so gut wie identisch mit jenem Salehs drei Jahre zuvor, abgesehen von der Erkenntnis, dass sich die Lage verschlechtert hatte.

Riedels Bericht forderte eine „Aufstandsbekämpfung unter Einsatz aller erforderlichen Mittel“, um „ein [militärisch] auf eigenen Füßen stehendes Afghanistan hervorzubringen, das den Abzug von Kampftruppen erlaubt, während wir unsere Unterstützung für die politische und wirtschaftliche Entwicklung fortsetzen.“ Diese Aussage in der Einleitung war jedoch die einzige Erwähnung von Eigenständigkeit im Riedel-Dokument. Es tat so, als gäbe es einen Plan zur Stärkung der Kommunalverwaltung in Afghanistan – zivile Kompetenzen und Strukturen seien zu fördern, indem man amerikanische und andere internationale „Expertise“ zu Rate zieht, als rührten die Probleme des afghanischen Staates von unzureichender Ausbildung durch Amerikaner her. Dabei gab der Bericht nicht einmal vor, einen Plan dafür zu haben, Afghanistan auf eigene Füße zu stellen. Er schien davon auszugehen, mit ausländischer Hilfe nach ausländischen Vorbildern aufgebaute Organisationen würden genauso gut funktionieren wie solche, die Länder selbst gestalten und finanzieren.

McChrystal legte bei der völlig realitätsfremden Strategie zur Aufstandsbekämpfung noch nach. Klassische Aufstandsbekämpfung bestehe aus drei Phasen: Säubern (vom Feind), Halten (des gesäuberten Gebiets mit militärischer Gewalt) und anschließend Aufbauen (von zivilen Institutionen effizienter Verwaltung, die an die Stelle des Militärs treten sollen).[21] Dieses Modell war abgeleitet von Erfahrungen, die entweder Staaten betrafen, die einen Aufstand im Innern bekämpften (Indien, Kolumbien), oder mit Revolten konfrontierte Kolonialmächte (Frankreich in Algerien, Großbritannien in Malaya). In all diesen Fällen war der Staat, der die Militärmacht befehligte, die Gebiete von Aufständischen säuberte und hielt, derselbe Staat, der die neuen Institutionen aufbaute. Da aber die Vereinigten Staaten in Afghanistan weder die nationale Regierungsgewalt innehatten noch, allem Anschein nach, eine Kolonialmacht waren, die eine dauerhafte Besetzung des Landes beabsichtigte, fügten die Entwickler dieser US-amerikanischen Theorie von Aufstandsbekämpfung eine vierte Phase hinzu: Übertragung (der Kontrolle an die nationale Regierung).[22] Zu diesem Zweck müssten die Vereinigten Staaten „einer verständnisvollen und rechenschaftspflichtigen Regierungsführung Priorität einräumen“, wie McChrystal schrieb. Als ich am 30. September 2009 diese nichtssagende Phrase in einem Exemplar des Berichts las, das mir Richard Holbrooke in seinem Büro überreichte, hielt ich es für eine Finte, um im Falle des Scheiterns Zivilisten die Schuld in die Schuhe schieben zu können.

Weder die militärischen noch die zivilen Verantwortungsträger in der US-Regierung hatten einen Plan für den Aufbau und die Übertragung von Institutionen, der in den ländlichen Gebieten Afghanistans hätte Erfolg versprechen können. Das galt ebenso für die afghanischen Eliten, die die Partner Washingtons waren. Noch nie in seiner gesamten Geschichte hatte der afghanische Staat eine leistungsfähige Kommunalverwaltung aufgebaut.[23] Die Gouverneure und Distriktgouverneure, die für den Zentralstaat arbeiteten, stützten sich auf ihre Partnerschaft mit informellen Institutionen in den Dörfern (Moschee, jirga und shura). Der Staat hatte nur selten seine „Hoheitsgewalt“ auf die Dörfer ausgeweitet, ohne Revolten zu provozieren. Die Eliten an der Spitze des Staates fürchteten die Folgen der Übertragung von Befugnissen auf die Kommunen. Die Taliban machten sich nichtstaatliche lokale Institutionen zunutze, vor allem die Moscheen. Mit ihrem Wissen um die örtlichen Verhältnisse – die meisten Taliban waren in den Gebieten aktiv, in denen sie aufgewachsen waren – wussten sie genau, wen sie zu überzeugen, einzuschüchtern oder zu töten hatten.

„Einer verständnisvollen und rechenschaftspflichtigen Regierungsführung Priorität einräumen“ hört sich nach den beschwichtigenden Worten eines Fondsmanagers an, der nervöse Kunden um frisches Geld bittet, um anderen Anlegern die versprochenen überdurchschnittlichen Erträge zu zahlen. Wenn die afghanische Regierung nicht verständnisvoll und rechenschaftspflichtig agierte und der Aufstand weiter um sich griff, ersuchte das Pentagon um mehr Truppen, mehr Geld oder mehr Zeit. Wurde Geld zweckentfremdet oder entwendet, wie es zwangsläufig geschieht, wenn das reichste Land der Erde Probleme, die es nicht versteht, in einem der ärmsten Länder der Welt mit Milliarden von Dollar zuschütten will, schlug es Maßnahmen zur „Korruptionsbekämpfung“ vor, um die Bestechung auszumerzen, die es unbeirrt finanzierte. Indem die Vereinigten Staaten versuchten, ungelöste politische Probleme dadurch zu kompensieren, dass sie Truppen, Geld und Scharen von Ausbildern in das Land schickten, schoben sie lediglich den Tag hinaus, an dem das ganze Unternehmen wie ein Schneeballsystem, das es letztlich war, zusammenbrechen würde.

Die Regierung Obama genehmigte schließlich politische Gespräche, obwohl die Taliban inzwischen viel weitergehende Forderungen stellten als 2001. Als Berater mehrerer aufeinanderfolgender Sondergesandter für Afghanistan und Pakistan (Richard Holbrooke, Marc Grossman und James Dobbins) setzte ich mich für die ersten direkten Gespräche zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban ein, die ich auch organisieren half.[24] Die Gespräche kamen zwischen 2010 und 2011 nur langsam voran, aber auf Drängen Karsais und hochrangiger US-Offizieller, die einen solchen Dialog ablehnten, sagte Marc Grossman (damals der Verhandlungsführer der USA) im Januar 2012 in Doha seinem Gegenpart auf Seiten der Taliban, man würde die Verhandlungen erst dann fortsetzen, wenn die Taliban Gespräche mit der afghanischen Regierung aufnähmen. Auf dem NATO-Gipfel in Chicago im Juni 2012 beschlossen Obama und Karsai, die Bemühungen um eine Aussöhnung zu „intensivieren.“ In einer gemeinsamen Erklärung nach Karsais Staatsbesuch in Washington im Januar 2013 verkündeten die beiden Präsidenten, dass sie „die Eröffnung eines Büros in Doha zum Zweck von Verhandlungen zwischen dem Hohen Friedensrat und bevollmächtigten Vertretern der Taliban unterstützen“ würden.[25] Doch als das Büro im Juni 2013 kurzzeitig öffnete, verstießen die Taliban und Katar nach Ansicht der Vereinigten Staaten gegen die Vereinbarungen über die Zurschaustellung von Symbolen des „Islamischen Emirats.“ Im Rückblick erstaunt es nicht, dass komplexe und politisch heikle Verhandlungen, bei denen sich die Parteien anderthalb Jahre lang gar nicht trafen und nicht auf ein Abschlussdokument einigten, zu Missverständnissen führten. Meine Aufgabe war es, nachts zum Büro der Taliban zu fahren und zu warten, bis die Kataris die Taliban überredet hatten, die Flagge einzuholen und die Embleme des Islamischen Emirats zu entfernen. Bald darauf schied ich aus der Regierung aus, und die US-Diplomatie konzentrierte sich fortan auf Verhandlungen über ein bilaterales Sicherheitsabkommen mit der afghanischen Regierung, das letztere in falscher Sicherheit wiegte.

Viele zivile und militärische Entscheidungsträger in der Führungsspitze des US-Verteidigungsministeriums und -Außenministeriums versuchten wiederholt, diese Bemühungen zu verzögern. Sie legten Lippenbekenntnisse zu einer politischen Lösung ab, wollten aber stets die Verhandlungen verschieben, bis sich die Vereinigten Staaten in einer „Position der Stärke“ befänden. Es gab jedoch keine Anhaltspunkte dafür, dass Abwarten die Vereinigten Staaten stärken und die Taliban zu Zugeständnissen zwingen würde. Im Gegenteil, die Verhandlungsposition der Vereinigten Staaten verschlechterte sich zusehends, während jene der Taliban sich verhärtete. Die Befürworter „strategischer Geduld“ oder „langfristiger“ US-Präsenz hatten keine alternative Strategie. Sie wollten diesen Schwindel möglichst lange durchhalten. Ihr Motto hätte lauten können: Wenn du in einem Loch sitzt, dann grabe einfach immer tiefer.

Da die Taliban-Führung in Pakistan einen sicheren Rückzugsort hatte – etwas, das in den klassischen Modellen der Counter-Insurgency nicht vorkommt –, konnten die obersten Anführer der Taliban nicht Ziel militärischer Angriffe sein. Viele Kritiker, auch ich selbst, haben behauptet, die US-Bemühungen in Afghanistan seien nicht zuletzt deshalb gescheitert, weil die USA nicht ausreichend Druck auf Pakistan ausgeübt hätten, den Taliban keine Zuflucht mehr zu gewähren.[26] Dieser Ansatz hätte vielleicht seine Berechtigung gehabt, wenn die Niederlage der USA im Vietnamkrieg darauf zurückzuführen gewesen wäre, dass Washington nicht genügend Druck auf die Sowjetunion und China ausgeübt hätte, ihre Unterstützung für Nordvietnam einzustellen. Gegen die Tatsache aber, dass sie eine weit entfernte Macht waren, während Pakistan ein Nachbar Afghanistans mit vielen engen Verflechtungen war, kamen die Vereinigten Staaten nicht an. In Vietnam versuchten sie vergeblich, den Feind trotz seiner externen Unterstützer zu besiegen. In Afghanistan haben sie entweder Pakistans Verhalten ignoriert oder sich bemüht, das „strategische Kalkül“ Islamabads zu verändern, als könnte Washington die tief verwurzelten Bedrohungswahrnehmungen des pakistanischen Militärs durch Wirtschaftshilfe oder leere Drohungen verändern. Behauptungen, die Vereinigten Staaten hätten Pakistan nicht ausreichend unter Druck gesetzt, gehen davon aus, dass man Pakistan so hätte zwingen können, seinen Kurs zu ändern. Dies ist einer von vielen Fällen, in denen die Amerikaner ihre Macht überschätzt haben – „mangelhafte Selbsterkenntnis“ nennt man das.

Die Vereinigten Staaten fanden sich in einer Situation wieder, die der preußische General und Militärwissenschaftler Carl von Clausewitz folgendermaßen beschrieben hat: „Nichts ist geläufiger, als dass Nachschuberwägungen die strategischen Linien eines Feldzugs und eines Krieges beeinflussen.“[27] Afghanistan ist von Land umschlossen. Alle Land- und Luftwege, über die Afghanistan Hilfe bekommen oder Handel treiben kann, durchqueren Pakistan, Iran bzw. Russland oder China in Verbindung mit zentralasiatischen Ländern. Sofern die Vereinigten Staaten Russland, China oder Iran nicht überreden konnten, ihre Kriegsanstrengungen vor beider Haustüren zu unterstützen, blieb Pakistan – aus politischen und logistischen Gründen – die einzig realistische Route für Hilfslieferungen und militärischen Nachschub zwischen den USA und Afghanistan. Und gegen die eigenen Nachschublinien konnte Washington nur in beschränktem Umfang Druck ausüben.[28] Verzweifelte US-Regierungsvertreter schlugen gelegentlich Kommandounternehmen von Spezialeinheiten in Pakistan vor, damit die Taliban-Führung sich dort nicht länger in Sicherheit wiegen könnte. Doch abgesehen von den vielen weiteren Gründen, die gegen einen Angriff auf eine angeblich verbündete und von China unterstützte Atommacht sprachen, schien es für Streitkräfte, deren Logistik von Pakistan abhing, nicht gerade klug zu sein, Pakistan anzugreifen. Wie ein russischer Kollege im Juni 2017 in Moskau zu mir sagte: „Pakistan verdient zweifellos alles, was ihr ihm zufügt, aber es wird nichts bewirken.“

Im Verlauf des Kriegs in Afghanistan verlor Washington nach und nach den internationalen Einfluss, den es seit 1945 besessen hatte. Während dieser zwanzig Jahre hatten die Vereinigten Staaten für Kriege schätzungsweise 14 Billionen Dollar ausgegeben, die größtenteils aus kreditfinanzierten zusätzlichen Haushaltsmitteln aufgebracht wurden, und dabei den Zerfall ihrer fiskalischen Solidität, physischen Infrastruktur, ihres Gesundheits- und Bildungssystems und ihrer politischen Institutionen ignoriert.[29] Laut Zahlen der Weltbank belief sich das chinesische Bruttoinlandsprodukt (BIP) 2001 kaufkraftbereinigt auf 41 Prozent des US-amerikanischen BIP, um dieses im Jahr 2019 um 12 Prozent zu überschreiten. Sieht man das Verhältnis der beiden Ergebnisse als groben Indikator der relativen Machtposition an, so hatte sich Chinas Macht bis 2019 fast verdreifacht (1,12 gegenüber 0,41). Ein Vergleich der US-amerikanischen mit der chinesischen Pakistan-Politik verdeutlicht die Folgen.

Am 2. Februar 2009, kurz nach seiner Ernennung zum US-Sondergesandten für Afghanistan und Pakistan, berief Richard Holbrooke in der Asia Society in New York eine Beratungssitzung ein, um Möglichkeiten zu diskutieren, Pakistan zu einem verlässlichen Partner der Vereinigten Staaten zu machen. Nach Diskussion der Herausforderungen durch die pakistanischen Streitkräfte und Nachrichtendienste und die starke Zunahme von Militanten und Terroristen in Pakistan schätzte der Weltbank-Ökonom Shah Javid Burki, Geber müssten Pakistan über einen Zeitraum von fünf Jahren 40 bis 50 Milliarden Dollar zur Verfügung stellen, um das Land vor dem wirtschaftlichen Kollaps zu bewahren. In Reaktion auf derartige Analysen unterzeichnete Obama am 15. Oktober 2009 den Enhanced Partnership with Pakistan Act, auch Kerry-Lugar-Berman-Bill genannt, der Pakistan für fünf Jahre insgesamt 7,5 Milliarden Dollar an Hilfen zusicherte.[30] Das Gesetz lief im Jahr 2014 aus und wurde nicht erneuert. Zu diesem Zeitpunkt hatte China den 2013 initiierten Chinesisch-Pakistanischen Wirtschaftskorridor zum Vorzeigeprojekt seiner Belt and Road Initiative gemacht.[31] Der Wert der chinesischen Projekte in Pakistan wurde im Jahr 2020 auf 62 Milliarden Dollar beziffert, geringfügig mehr als der von Burki für notwendig angesehene Betrag.[32] Die Verfügbarkeit einer immer stärkeren und verlässlicheren Alternative zu den Vereinigten Staaten schwächte Washingtons Fähigkeit, Einfluss auf Pakistan zu nehmen.

Auch meinte die US-Regierung wohl, ihre Schlagkraft und ihr Kapital würden ihr erlauben, einige einfache Realitäten zu ignorieren. Afghanistan war mit Abstand das ärmste Land Asiens, ärmer als die meisten Länder in Sub-Sahara-Afrika und sogar ärmer als Haiti.[33] Die Alphabetisierungsrate war die niedrigste in Asien mit einer Quote von unter 50 Prozent und noch weit weniger bei Frauen.[34] Es hatte die niedrigste Lebenserwartung,[35] die höchste Müttersterblichkeit und die höchste Kindersterblichkeit in Asien.[36] Seine Bevölkerung war auf ein paar Städte und einige Gebirgs- und Flusstäler verteilt, zwischen denen sich Wüsten erstrecken. Weniger Menschen als in jedem anderen asiatischen Land besaßen Zugang zur Stromversorgung.[37] Und da Bauern für ihren Lebensunterhalt Alternativen fehlten, hatten sie Angebote von Drogenhändlern angenommen, Afghanistan zum weltweit führenden Anbieter von Opiumprodukten zur Deckung der Nachfrage aus den Wohlstandsländern zu machen.[38] Weil nie eine Volkszählung durchgeführt wurde, wusste die afghanische Regierung nicht, wie viele Menschen in Afghanistan oder den verschiedenen Provinzen und Distrikten lebten, oder wie viele Bürger welchen der verschiedenen Stämme, Klans, ethnischen Gruppen und Sekten angehörten.[39] Der afghanische Staat stellte nicht routinemäßig Geburts- und Sterbeurkunden aus.[40] Namen und Anschriften von Personen wurden nicht behördlich registriert und mussten keinem standardisierten Format entsprechen.[41] Ohne grundlegende demografische Daten war es unmöglich, eine gültige Liste von Wahlberechtigten zu erstellen oder Wahlergebnisse anhand demografischer Daten zu beurteilen. Dr. Abdullah Abdullah sagte einmal einem UN-Wahlbeauftragten, er akzeptiere die Stimmabgabe eines Klans durch einen Vertreter (tribal voting). Bei dieser bringt beispielsweise ein Ältester 600 Wahlkarten zu einem Wahlbüro und behauptet, alle Mitglieder seines Klans stimmten für einen bestimmten Kandidaten – aber nur, wenn der Klan tatsächlich 600 Wahlberechtigte umfasst, was niemand überprüfen konnte.

Unter derartigen Umständen konnte eine Präsidentschaftswahl nach dem Mehrheitswahlrecht, die dem Sieger Zugriff auf Milliarden von Dollar an Hilfsgeldern und auf von den Vereinigten Staaten bereitgestellte militärische Gewalt verschaffte, kaum frei und fair sein. Den mutmaßlichen Verlierer konnte man nur dazu bewegen, die Ergebnisse zu akzeptieren, indem man hochrangige US-Offizielle nach Kabul entsandte – den Vorsitzenden des Senatsausschusses für auswärtige Beziehungen (John Kerry) im Jahr 2009, den Außenminister (damals Kerry) anno 2014[42] und 2019 erneut den Außenminister (Mike Pompeo).[43] Eine Regierung, deren Wahlergebnisse von einer fremden Macht, die im Land Truppen stationiert hat, für gültig erklärt werden, ist wohl kaum eine demokratische. Bemühungen, einige dieser Probleme anzugehen, führten zu vorübergehenden Verbesserungen im Bildungs- und Gesundheitswesen, bei der Energieversorgung und anderen Indikatoren, doch sie machten Afghanistan auch zu einem der am meisten von Auslandshilfe abhängigen Länder der Welt – neben einigen kriegsgeschundenen afrikanischen Ländern und diversen Insel-Mikrostaaten.[44] Heute ist Afghanistan für seine Stromversorgung auf Überlandleitungen seiner Nachbarn angewiesen, deren Rechnungen es gegenwärtig nicht begleichen kann.[45] Da Hilfsgelder mit einem Embargo belegt sind, kann das Land seinen Lehrern und Gesundheitsfachkräften nicht ihre Gehälter auszahlen. Die Dollarspritzen führten dazu, dass die afghanischen Exporte nicht konkurrenzfähig sind und das Land noch stärker abhängig ist von Nahrungsmittelimporten, eine der Folgen der sowjetischen Okkupation. Weil ausländische Hilfsmittel, die Einfuhren finanzierten, blockiert sind und wiederholte Dürren wohl aufgrund des Klimawandels bis zu 40 Prozent der Ernte vernichtet haben, beginnen afghanische Kinder wieder zu verhungern. Das US-Embargo macht die „Fortschritte“ der letzten zwanzig Jahre zunichte, noch bevor die Taliban ihren künftigen politischen Kurs auch nur verkündet haben.

Die Taliban stellten eine dermaßen ernste Bedrohung für Afghanistan dar, dass laut Schätzung amerikanischer Militärplaner über 300.000 Soldaten und Sicherheitskräfte erforderlich wären, um den Staat zu verteidigen, außerdem eine langfristige Präsenz von US-Militär und Mitarbeitern privater US-Sicherheitsfirmen.[46] Man rüstete die afghanischen Streitkräfte mit Waffensystemen aus, die mit NATO-Ausrüstung interoperabel waren (obgleich die Afghanen seit den 1950er-Jahren Waffen sowjetischer bzw. russischer Bauart genutzt hatten), sowie mit fortgeschrittenen Überwachungs- und Aufklärungsfähigkeiten. Bedient werden mussten diese von Kampftruppen, die die entsprechenden Handbücher nicht lesen konnten, sofern sie überhaupt des Lesens fähig wären.[47] Die Vereinigten Staaten wollten in einem Land, dessen geschätztes BIP 2013 mit 20,5 Milliarden Dollar seinen Höchststand erreichte und nach der Reduzierung ausländischer Truppen stagnierte und dann fiel,[48] jährlich rund 4 Milliarden Dollar für die Sicherheitskräfte ausgeben (ganz zu schweigen von den Kosten ihrer eigenen Präsenz).[49] Amerika finanzierte den Sold der Truppen, aber die Zahlungssysteme der afghanischen Regierung waren so ineffizient und korrupt, dass nach manchen Schätzungen schließlich real nur noch 50.000 Soldaten verblieben,[50] während die restlichen der auf dem Papier genannten 300.000 „Geister“ waren, deren Sold in den Taschen ihrer Vorgesetzten landete.[51] Die afghanischen Streitkräfte, die laut Holbrookes Zusammenfassung einer Diskussion im Weißen Haus im Dezember 2009 „unser Ticket für den Ausstieg aus Afghanistan“ sein sollten, waren so aufgestellt, dass sie zusammenbrachen, noch bevor die Vereinigten Staaten ihren Abzug abgeschlossen hatten.

Die Hauptleidtragenden dieses Schwindels waren die Menschen in Afghanistan. Während der Anwesenheit der US-Streitkräfte profitierten einige Afghanen von der Auslandshilfe und den Freiheiten, die damit einhergingen. Es waren echte Errungenschaften, solange sie Bestand hatten – aber es gab keinen Plan, sie dauerhaft zu erhalten. Andere Afghanen in kriegsgeschundenen ländlichen Gebieten befanden sich im Zangengriff von unbestimmbaren Drohnenangriffen und nächtlichen Razzien der Amerikaner einerseits und der Gewaltakte der Taliban andererseits. Das Versprechen der Vereinigten Staaten, im Schulterschluss mit den Afghanen zu stehen, das im Bilateralen Sicherheitsabkommen von 2014 förmlich besiegelt worden war,[52] wiegte die neuen Eliten und die entstehende Akademikerschicht, insbesondere Frauen, die noch nie dagewesene Freiheiten genossen, in falscher Sicherheit. Für jene Teile der Bevölkerung, die von US-Bomben geschädigt worden waren, hatten diese Versprechen immer hohl geklungen. Schließlich verrieten die Vereinigten Staaten jene Afghanen, die ihre Präsenz unterstützt hatten, als sie behaupteten, ihre Versprechungen eines besseren Lebens nie ernst gemeint zu haben – sie seien lediglich gekommen, um den Terrorismus zu bekämpfen, der sich gegen ihr eigenes Territorium und ihre eigene Bevölkerung richte. Diejenigen, die die unhaltbaren Versprechen brachen, tragen einen Teil der Verantwortung, aber diejenigen, die sie leichtfertig machten, trifft eine größere Schuld.

Letzte Operation des abziehenden US-Militärs war ein Drohnenangriff „zur Terrorismusbekämpfung“, dem zehn Unschuldige einschließlich sieben Kinder zum Opfer fielen. Nach dem Abzug der Vereinigten Staaten kamen ihr gegen die finanziellen Vermögenswerte des Landes gerichtetes Embargo und das Aussetzen aller Hilfszahlungen einem noch massiveren Angriff auf die falschen Ziele gleich – nämlich auf die gesamte Bevölkerung Afghanistans.

Als die Taliban im Dezember 2001 vollständig besiegt waren, sah Washington keinen Grund, noch mit ihnen zu verhandeln. Als sich nach Jahren militärischen und diplomatischen Scheiterns das Blatt wendete, wollten Militärführer zunächst warten, bis sich die Vereinigten Staaten in einer Position der Stärke befänden. Am Ende ließ Präsident Donald Trump sich nur deshalb auf Verhandlungen ein, weil er beschlossen hatte, den Afghanistan-Krieg wie einen unrentablen Vermögenswert der Trump-Organisation zu liquidieren. Die Taliban wussten das und verhandelten entsprechend. Das Doha-Abkommen vom 29. Februar 2020 spiegelte den schwindenden Einfluss der USA in Afghanistan und der Welt wider. Am 15. August 2021 verschwand die von Amerika aufgebaute Armee von der Bildfläche, und Präsident Ghani, den Amerika unterstützt hatte, floh aus dem Land. Am 5. September 2021, nachdem ihn die Taliban nicht nur aus Kabul, sondern auch aus dem Pandschir-Tal und schließlich Afghanistan vertrieben hatten, appellierte Saleh, der stets gegen Verhandlungen mit den Taliban gewesen war, zum ersten Mal an jene mythische Entität, den Westen, „auf eine politische Einigung mit den Taliban hinzuwirken.“[53] Der schmachvolle Abzug der USA und die Schicksale von Ghani und Saleh verdeutlichen, welche Folgen es hat, wenn man sich Illusionen über seine eigenen Stärken und Fähigkeiten hingibt. Die Vereinigten Staaten verhandelten erst dann ernsthaft, als Trump bereits den Entschluss gefasst hatte, die Truppen abzuziehen. Ghani prahlte, er werde die Taliban besiegen, und suchte am Ende das Weite. Und Saleh bemühte sich erst um eine politische Einigung, als er in der gleichen Lage war wie die Taliban im Dezember 2001.

Jetzt machen die Taliban denselben Fehler. Sie haben eine „Übergangsregierung“ angekündigt, ohne ein Verfahren oder einen Zeitplan anzugeben, wie aus ihr eine dauerhafte Regierung hervorgehen soll. Bis auf sehr wenige Mitglieder setzt sich die Übergangsregierung ausschließlich aus paschtunischen Taliban-Amtsträgern zusammen. Die von Pakistan favorisierte Gruppierung innerhalb der Taliban, die militanten Haqqanis, geben den Ton an. Taliban-Anführer, die eine gewisse Unabhängigkeit von Pakistan oder eine Verhandlungslösung anstrebten, wurden ins Abseits gedrängt. Unter einer oberflächlichen Ruhe, die an 2002 erinnert, schwelen Konflikte, und die Alternative zu den Taliban ist weder Karsai, Abdullah, Saleh noch Massoud. Es ist der Islamische Staat in Afghanistan. Während er die schiitische Minderheit durch Massentötungen terrorisiert, rekrutiert er Mitglieder unter sämtlichen sunnitischen Gruppierungen des Landes: Tadschiken, die im Offizierskorps und in den Nachrichtendiensten der früheren Regierung tonangebend waren und, wie ehemalige sunnitische Offiziere im Jahr 2003 im Irak, ausgegrenzt werden, sowie unzufriedene junge Männer aus anderen ethnischen Gruppen schließen sich ihm an.[54] Unter den Kämpfern befinden sich erwiesenermaßen hervorragend ausgebildete Ex-Mitglieder des afghanischen Militärs und der Nachrichtendienste. Ein ehemaliger hochrangiger Offizier wurde kürzlich bei einem Feuergefecht mit dem Islamischen Staat getötet. „Genau so fing es auch im Irak an – mit desillusionierten Generälen Saddam Husseins“, warnte ein hoher westlicher Offizieller im Wall Street Journal.[55] Afghanistan braucht heute ebenso sehr eine politische Lösung wie am 14. August 2021. Wenn die Taliban weiterhin tun, was sie in ihren lichten Momenten für unmöglich erklärten – dass eine Gruppe ihre Herrschaft ganz Afghanistan auferlegt –, wird ihrem „Islamischen Emirat“ das gleiche Schicksal widerfahren wie seinen Vorgängern.

Bei einem spätabendlichen Essen im Herbst 2009 meinte Richard Holbrooke, die Vereinigten Staaten würden in Afghanistan auf die gleichen Programme setzen wie in Vietnam, wo Anfang der 1960er-Jahre seine Laufbahn begann. Zwar trügen sie nun andere Namen, doch es habe sich nichts daran geändert, dass sie nicht zum gewünschten Erfolg führten. Vielleicht werden auch die Taliban sämtlichen Programmen und Operationen ihrer Regierung jetzt andere Namen geben. Vielleicht ändern sie sogar den Staatsnamen, aber die Opfer werden die gleichen bleiben.


Hinweis

Der nachfolgende Text erschien am 1. November 2021 auf Englisch in dem Blog “War on the Rocks“.


About the author

Barnett Rubin

Barnett R. Rubin ist Gast-Wissenschaftler am Center on International Cooperation der New York University und außerdem tätig am Quincy Institute for Responsible Statecraft. Er hat an den Universitäten Yale und Columbia unterrichtet, leitete das Center for Preventive Action beim Council on Foreign Affairs und war hoher Berater des US-Sondergesandten für Afghanistan und Pakistan (2009 bis 2013) und des UN-Sondergesandten des Generalsekretärs für Afghanistan (2001 bis 2002). Sein jüngstes Buch, Afghanistan: What Everyone Needs to Know, wurde 2020 bei Oxford University Press verlegt.

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Published Online: 2022-03-18
Published in Print: 2022-03-28

© 2022 Barnett Rubin, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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  22. Sicherheitslage Westpazifik
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  26. Sicherheitslage Schwarzes Meer und Ostseeraum
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  31. Uwe Halbach: Russlands Einflussmacht im Kaukasus. Konkurrenz und Kooperation mit Regionalmächten und globalen Akteuren. Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP-Studie 2021/S 10), Juli 2021
  32. Naher Osten
  33. Jim Townsend/Andrea Kendall-Taylor/David Shullman/Gibbs McKinley: A Limited Partnership Russia-China Relations in the Mediterranean. Washington, D.C.: Center for a New American Century (CNAS), September 2021
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  35. Buchbesprechungen
  36. David W. Kearn, Jr.: Reassessing U.S. Nuclear Strategy. Amherst, NY: Cambria Press, 2019, 268 Seiten
  37. Ofer Fridman (Hrsg): Strategiya – The Foundations of the Russian Art of Strategy. Oxford und New York: Oxford University Press, 2021, 336 Seiten
  38. Steven Wills: Strategy Shelved. The Collapse of Cold War Naval Strategic Planning. Annapolis: US Naval Institute Press, 2021, 292 Seiten
  39. Wladimir M. Grinin: Russlands Botschafter. Meine Jahre in Berlin (übersetzt von Hartmut Hübner). Berlin: Eulenspiegel Verlagsgruppe 2020, 223 Seiten
  40. Bücher von gestern – heute gelesen
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  42. Bildnachweise
  43. Bildnachweise
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