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Steven Wills: Strategy Shelved. The Collapse of Cold War Naval Strategic Planning. Annapolis: US Naval Institute Press, 2021, 292 Seiten

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Published/Copyright: March 18, 2022

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Die beunruhigenden Bilder vom Abzug der US-geführten Koalition vom Flughafen Kabul im August 2021 symbolisierten das Ende der alliierten Anti-Terror- und Aufstandsbekämpfungsoperationen in Zentralasien, die nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 auch unter Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland begonnen hatten. Während die kleinen, langen und chaotischen Kriege, die aus diesem Ereignis hervorgingen, sicherlich auf der Agenda bleiben werden, konzentrieren sich die Vereinigten Staaten von Amerika abermals voll und ganz auf den strategischen Wettbewerb der Großmächte. Chinas Aufstieg als globaler Konkurrent, einschließlich eines umfangreichen Marineschiffbauprogramms und illegaler Gebietsansprüche im Südchinesischen Meer, ist nicht mehr wegzudiskutieren. Russlands Rückkehr auf die Weltbühne – erinnert sei an die gewaltsame Einverleibung der Krim 2014 und die anhaltende Beteiligung an den Bürgerkriegen in der Ukraine, Syrien oder Libyen – bereitet zunehmende außen- und verteidigungspolitische Kopfschmerzen. Der amerikanische Präsident muss sich auch mit einer Vielzahl von innenpolitischen Problemen befassen, die ihrerseits erhebliche Aufmerksamkeit erfordern. Nachdem die diffuse Multipolarität der 2020er Jahre als bestimmender Faktor der internationalen Beziehungen immer mehr zu Tage tritt, muss ferner weiteres politisches Kapital in die Bildung und Aufrechterhaltung von Allianzen investiert werden. Dies hat Biden-Vorgänger Donald Trump bekanntlich zumindest bei NATO-Partnern mit Freude untergraben.

In diesem Zusammenhang ist es für Analysten sinnvoll, sich den späten Kalten Krieg anzusehen. Jene Ära war das letzte Mal, dass die Vereinigten Staaten in einem strategischen Wettbewerb unter Gleichrangingen erfolgreich waren. In US-Marinekreisen schaut man gerne auf The Maritime Strategy zurück, jenem wegweisenden Dokument, das vor etwa vierzig Jahren entwickelt und 1986 in einer nicht eingestuften Version veröffentlicht wurde. Die Strategie verlangte offensive und vorwärts dislozierte Marineoperationen, um die sowjetische Marine zu binden, ihre nukleare Zweitschlagsfähigkeit zu bedrohen und die US-Initiative zu behalten. Nachrichtendienstliche Erkenntnisse über Moskaus Marinedoktrin, neue Technologien im amerikanischen Schiffbau, bei Waffen und Sensorik, bedeutender politischer Rückenwind der Reagan-Administration und institutionelle Innovationen ermöglichten es damals der US-Marine, sich eine Rolle zuzuschreiben, die sie als maritime Komponente der nationalen Gesamtstrategie betrachtete. Zu diesem Zweck war The Maritime Strategy eng an ein Schiffbauprogramm der Reagan-Regierung gebunden, das 600 Kriegsschiffe forderte, darunter 15 Flugzeugträger-Kampfgruppen und nicht weniger als 100 U-Boote. Nach dem Ende des Kalten Krieges wurde The Maritime Strategy dann ad acta gelegt.

Erst mit der Schaffung der Cooperative Strategy for 21st Century American Seapower (CS-21, veröffentlicht 2007) versuchte die Marine, ihre früheren Strategien wissenschaftlich auszuwerten. Die Konkurrenz zwischen den Großmächten war Mitte der 2000er Jahre noch eine ferne Sorge. Angesichts der Militäroperationen nach dem 11. September 2001 suchte die Marine vielmehr nach einer Möglichkeit, seine Daseinsberechtigung auch in Zeiten von Kriegen in Zentralasien zu artikulieren.

Jene Analyse verdeutlichte, dass es in den 1980er Jahren zwar ein großes und wohl erfolgreiches Dokument für Marinerollen, -aufgaben und -missionen gab. In den 1970er und 1990er Jahren hingegen gab es viele verschiedene Dokumente, die an Durchschlagskraft vermissen ließen. Der ehemalige Maritime Strategy-Offizier Peter Swartz[1], Kapitän zur See a. D. der US-Marine und im Anschluss an die Pensionierung am Center for Naval Analyses tätig, begann mit der Zusammenstellung von Originalmaterial, Interviews, mündlichen Überlieferungen, Nachrichtenartikeln und akademischen Reflexionen über US-Marinestrategien und verteilte sie über die Flotte, die wissenschaftliche Community of Interest und ihre zunehmend internationalen Netzwerke. In den 2000er Jahren wurden so unter anderem von John Hattendorf, dem bedeutendsten Marinehistoriker seiner Generation, vier Bände zu amerikanischen maritimen Strategien veröffentlicht.[2] Der Zugriff auf eine Fülle von nicht klassifiziertem oder bereits freigegebenem Material trugen wesentlich dazu bei, am Ende der Nullerjahre eine Forschungsagenda zu moderner US-Marinestrategie zu gestalten. Swartz, Hattendorf und andere begannen auch damit, eine neue Generation aufstrebender Doktoranden mit unterschiedlichem militärischem, zivilem, amerikanischem und internationalem Hintergrund um sich zu sammeln. Ziel war es, ein breites Spektrum wissenschaftlicher Arbeiten zu The Maritime Strategy der Achtzigerjahre im Besonderen und der US-Marinestrategie im Allgemeinen zu bearbeiten.

Steven Wills, ein Experte für Marinestrategie in Arlington, Virginia, ist einer jener Schüler. Sein Buch Strategy Shelved. The Collapse of Cold War Naval Strategic Planning kommt zu einem wichtigen Zeitpunkt auf den Markt. Das oben skizzierte internationale Sicherheitsumfeld, aber auch neue Blicke auf den Golfkrieg von 1991 (der in Wills’ Buch prominent vorkommt) anlässlich seines 30. Jahrestages bieten Anlass, sich eingehender mit der strategischen Planung oder Wehrgesetzen wie dem ebenso prominent betrachteten Goldwater-Nichols-Gesetz zu befassen. Steven Wills diente zwanzig Jahre lang als Offizier in der US-Marine. Er führt uns mit einem breiten Schwung in die anstehenden Herausforderungen ein, die die amerikanische Marinestrategie nach dem Zweiten Weltkrieg prägten. Dieses Kapitel bildet den Rahmen für eine Diskussion des strategischen Umfelds der frühen 1980er Jahre und der Maritime Strategy im darauffolgenden Teil. Als nächstes konzentriert sich Wills auf den Goldwater‐Nichols Department of Defense (DoD) Reorganization Act von 1986, dessen bremsender Einfluss auf die Konzeption von Marinestrategie kaum überschätzt werden kann. Die von Senator Barry Goldwater (Arizona) und dem Abgeordneten Bill Nichols (Alabama) eingebrachte Gesetzgebung wurde erlassen, um die Fähigkeit des US-Militärs zu verbessern, teilstreitkraftgemeinsame Operationen durchzuführen. Sie hat die Art und Weise wie das Militär seine Strategie entwickelte dramatisch verändert, weil der Einfluss der Teilstreitkräfte zugunsten des übergreifenden Modells – joint – erheblich zurückgedrängt wurde. Das hatte Folgen für Karriereplanungen, Koordination und Kooperation. Marinestrategie als solche war nunmehr völlig untergeordnet und mehr Abstellgleis denn Booster für aufstrebende Offiziere. Die global denkende US-Marine geriet gegenüber den geographisch fokussierten Teilstreitkräften wie Heer und Luftwaffe auch konzeptionell ins Hintertreffen.

The Maritime Strategy erschien kurz vor Inkrafttreten von Goldwater-Nichols. Als das Geschäftsmodell der Strategie ins Wanken geriet – die Sowjetunion und der Warschauer Pakt brachen 1991 zusammen – musste die US-Marine eine neue Begründung für ihre Rolle in der beginnenden Nachkriegszeit nach dem Kalten Krieg finden. Sie war mit drastischen Reduzierungen gegenüber den Höhen der Reagan-Ära, der zunehmenden Rivalität zwischen den Teilstreitkräften und dem ersten großen Test von Goldwater-Nichols im Golfkrieg von 1990–1991 konfrontiert. Dies, zusammen mit der Revolution in Military Affairs, die sich ebenfalls entwickelte, ist Gegenstand des vierten Kapitels von Wills. Im letzten Kapitel beschäftigt sich Wills dann auch überblicksartig mit der Zeit bis in die Gegenwart.

Wills argumentiert, dass „die 1980er Jahre ein Jahrzehnt waren, in dem sich die Marine weitgehend mit ihren Truppenstrukturen, Strategien und Einsatzkonzepten abgefunden hatte“ (S. 226, alle Übersetzungen durch den Verfasser). Er kommt zu der Bewertung, dass „die Reorganisation aufgrund von Goldwater-Nichols die Marine stärker beeinflusste als die anderen Dienste und in der Ära nach dem Kalten Krieg in gewisser Weise für sie lähmender war“ (S. 228). Wills kommt zu dem Schluss, dass „das Ende der Pattsituation mit der Sowjetunion, die Verabschiedung von Goldwater-Nichols und die Führung des Golfkriegs nicht nur die Marinestrategie von 1989 bis 1994 grundlegend beeinflusst haben, sondern auch weiterhin bestimmen, wie die Marine strategische Produkte bis heute erstellt“ (S. 229).

Das Buch von Steven Wills, das auf seiner Dissertation basiert, ist das vorläufig letzte in einem Quintett wissenschaftlicher Analysen zur zeitgenössischen amerikanischen Marinestrategie. Sie alle wurzeln in den Materialsammlungen der Nullerjahre. Zur Gruppe der Wissenschaftler gehören die Schweizer Politologin Larissa Forster mit ihrer quantitativen Studie zu humanitären maritimen Hilfseinsätzen, der amerikanische Marinehistoriker und Kapitän zur See a. D. Pete Haynes mit Einblicken eines Offiziers in die Entwicklung von CS-21, dem Autor dieses Essay mit einer Kontextstudie, die Dokumente mit realen Ereignissen und Operationen von 1981–2016 kombiniert, und der norwegische Politologe Amund Lundesgaard mit seiner Arbeit über die Streitkräftestruktur der US Navy.[3] Wills zitiert keinen der internationalen Strategieexperten, was durchaus ebenso überraschend ist wie die Auslassung jeglicher NATO-Kontexte im Betrachtungszeitraum.

Das Buch ist augenscheinlich für den US-Markt – und nur für diesen – bestimmt. Wills bietet Einblicke in das Pentagon (die verschiedenen erwähnten Büros und Einrichtungen sind für Organisationswissenschaftler interessant, benötigen aber eigentlich ein Organigramm), aufschlussreiche operative Aspekte und faszinierende wörtliche Zitate aus Strategiediskussionen. Das Werk ist hier am stärksten und ergänzt die vorhandene Literatur um höchst wünschenswerte Perspektiven des US-Kongresses und des Department of Defense. Der Fokus auf Goldwater-Nichols füllt eine kritische Lücke, auch insofern, als dass die Entwicklung und Gestaltung der amerikanischen Marinestrategie durch die Legislative zuvor weitgehend unterrepräsentiert war.

Published Online: 2022-03-18
Published in Print: 2022-03-28

© 2022 Sebastian Bruns, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz.

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  1. Titelseiten
  2. Editorial
  3. Editorial
  4. Dokumentation
  5. Das zweifache Scheitern der internationalen Gemeinschaft in Afghanistan – Studienergebnisse des ISPK aus dem vergangenen Jahrzehnt
  6. Aufsätze
  7. Die US-Intervention in Afghanistan: Die Politik der Obama-Regierung
  8. Förderung des lokalen Regierens in Afghanistan: Was ging schief?
  9. Kurzanalysen und Berichte
  10. Eine kritische Bewertung der europäischen Strategie in Afghanistan ist überfällig
  11. Afghanistans ewiges Versprechen
  12. Russisch-belarussisches Manöver Sapad-2021: Teil der Kriegsvorbereitungen gegen die Ukraine
  13. Kommentare
  14. Die ewige Niederlage in Afghanistan
  15. Afghanistan: Unser Scheitern im Großen – Bilanz eines Mitauftraggebers
  16. Deutschlands Afghanistan-Amnesie
  17. Si vis pacem para bellum
  18. Ergebnisse strategischer Studien
  19. Lehren aus Afghanistan
  20. Special Inspector General for Afghanistan Reconstruction (SIGAR): What we need to learn. Lessons of twenty years of Afghanistan Reconstruction. Washington, D.C.: SIGAR, August 2021
  21. Anthony H. Cordesman: Learning the Right Lessons from the Afghan War. Washington, D.C.: CSIS, September 2021
  22. Sicherheitslage Westpazifik
  23. Gregory B. Poling/Tabitha Grace Mallory/Harrison Prétat: Pulling Back the Curtain on China’s Maritime Militia. Report. Washington, DC: Center for Strategic and International Studies (CSIS), November 2021
  24. Chris Dougherty/Jennie Matuschak/Ripley Hunter: The Poison Frog Strategy. Preventing a Chinese Fait Accompli Against Taiwanese Islands. Washington, DC: Center for a New American Security, 2021
  25. Jacob Stokes: Tangled Threats. Integrating U.S. Strategies toward China and North Korea. Washington, D.C.: Center for a New American Security, Oktober 2021
  26. Sicherheitslage Schwarzes Meer und Ostseeraum
  27. Gustav Gressel: Waves of Ambition: Russia’s Military Build-Up in Crimea and the Black Sea. Berlin: European Council on Foreign Relations (ECFR), Policy Brief, September 2021
  28. Ben Hodges/Edward Lucas, mit Carsten Schmiedl: Close to the Wind. Baltic Sea Regional Security. Washington, D.C.: Center for European Policy Analysis (CEPA), September 2021
  29. Keir Giles: What deters Russia? Enduring principles for responding to Moscow. London: Royal Institute of International Affairs, Chatham House, September 2021
  30. Anika Binnendijk/Marta Kepe: Civilian-Based Resistance in the Baltic States. Historical Precedents and Current Capabilities, Santa Monica, Calif.: The RAND Corporation, 2021
  31. Uwe Halbach: Russlands Einflussmacht im Kaukasus. Konkurrenz und Kooperation mit Regionalmächten und globalen Akteuren. Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP-Studie 2021/S 10), Juli 2021
  32. Naher Osten
  33. Jim Townsend/Andrea Kendall-Taylor/David Shullman/Gibbs McKinley: A Limited Partnership Russia-China Relations in the Mediterranean. Washington, D.C.: Center for a New American Century (CNAS), September 2021
  34. Nicole Grajewski: The Evolution of Russian and Iranian Cooperation in Syria, Washington, DC: Center for Strategic and International Studies (CSIS), November 2021
  35. Buchbesprechungen
  36. David W. Kearn, Jr.: Reassessing U.S. Nuclear Strategy. Amherst, NY: Cambria Press, 2019, 268 Seiten
  37. Ofer Fridman (Hrsg): Strategiya – The Foundations of the Russian Art of Strategy. Oxford und New York: Oxford University Press, 2021, 336 Seiten
  38. Steven Wills: Strategy Shelved. The Collapse of Cold War Naval Strategic Planning. Annapolis: US Naval Institute Press, 2021, 292 Seiten
  39. Wladimir M. Grinin: Russlands Botschafter. Meine Jahre in Berlin (übersetzt von Hartmut Hübner). Berlin: Eulenspiegel Verlagsgruppe 2020, 223 Seiten
  40. Bücher von gestern – heute gelesen
  41. Hanns W. Maull: Strategische Rohstoffe. Risiken für die wirtschaftliche Sicherheit des Westens. München: R. Oldenbourg Verlag 1987 (Schriften des Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik e.V., Bonn, Reihe: Internationale Politik und Wirtschaft, Band 53), 301 Seiten.
  42. Bildnachweise
  43. Bildnachweise
Downloaded on 16.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/sirius-2022-1026/html
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