Rezensierte Publikation:
Brandtner Andreas Bibliothek für alle. Der Büchereientwicklungsplan des Bundes. Wien: Büchereiverband Österreichs, 2024 (= Büchereiperspektiven Sonderausgabe 2024). 56 S., ISSN 1607-7172
Als Kooperationsprojekt zwischen dem Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport (BMKÖS) sowie dem Büchereiverband Österreichs (BVÖ) wurde auf Basis des Arbeitsprogramms der österreichischen Bundesregierung 2020–2024 der „Büchereientwicklungsplan des Bundes“ mit dem programmatischen Titel Die Bibliothek für alle vorgelegt. Moderiert, strukturiert und verfasst wurde er von der Arge Büchereien, die – besetzt mit Vertreter*innen von BMKÖS und BVÖ – für diesen Zweck eingerichtet wurde. Vorausgegangen ist der Verschriftlichung ein im Jahr 2022 begonnener Reflexionsprozess, zu dem Bibliothekar*innen, Bibliotheksexpert*innen, Praktiker*innen und Theoretiker*innen eingeladen waren, um im Rahmen von zwei mehrtägigen Seminaren über die Zukunft der öffentlichen Büchereien nachzudenken. Eine besonders wichtige Rolle bei der Mitgestaltung spielte dabei die niederländische Design- und Kreativwerkstatt „Ministerium für Vorstellungskraft“/„Ministerie van Verbeelding“ mit seinem Bibliotheksentwickler Rob Bruijnzeels. Über die Beteiligung von Vertreter*innen der Länder sowie des Städte- und des Gemeindebundes wurden auch regionale Initiativen einbezogen, die sich zum Teil auch in Büchereientwicklungsplänen einzelner Bundesländer ausdrücken.
Erklärtes Ziel des Entwicklungsplans ist es, die Weiterentwicklung der öffentlichen Büchereien in Österreich im Zeitalter der Digitalisierung und Medienkonkurrenz zu reflektieren und zu fördern. Er versteht sich als Plädoyer für das Lesen und einen seiner prominentesten Orte in unserer Gesellschaft, die öffentliche Bücherei. Erst wenn die Büchereien angesichts der Bedrohung ihres traditionellen Geschäftsmodells im Zeichen der digitalen Transformation sowohl ihre Stärken ausbauen als auch sich neu ausrichten, kann ihre Zukunftsfähigkeit gesichert werden. Die Thekenbibliothek – und damit die Bibliothek als Gatekeeper des Wissens – gilt als verabschiedet, doch wird am klassischen Modell von Sammeln, Erschließen, Bewahren und Bereitstellen als solider Basis der bibliothekarischen Arbeit festgehalten. Für die Bücherei der Zukunft reicht das allein allerdings nicht aus. Diese wird hier als „Bibliothek für alle“ und als „Bibliothek von allen“ vorgestellt.
Der Entwicklungsplan konkretisiert diese Vision, indem die zentralen Bereiche der Bücherei auf der Folie dieses Zukunftsentwurfs dargestellt werden. So gilt für den Bestand, dass Büchereien im digitalen Zeitalter über einen rein kennzahlen- und demografieorientierten Bestandsaufbau hinausgehen müssen. Angesichts von Informationsüberfluss und Fake News müssen sie Orte der überprüften und seriösen Information sein. Bestand meint auch nicht mehr nur die vorhandenen Medien – wobei die gedruckten Bücher weiterhin als das Grundkapital der Sammlung angesehen werden –, sondern auch das Wissen, das die Benutzer*innen mitbringen. Die Gestaltung des physischen Raums knüpft an Ray Oldenburgs berühmtes Konzept des Dritten Ortes an und adressiert weniger die konkrete Raumnutzung als vielmehr seine soziale Funktion. Die Bücherei ist ein Ort für eine Gemeinschaft, die Diversität anerkennt und für Neues offen ist. Unterstützt wird diese Ausrichtung durch die Programmierung von Veranstaltungen, bei der den Büchereien kaum konzeptionelle Grenzen gesetzt sind. Um Büchereien dieser Art zu entwickeln und umzusetzen, kommt dem Personal und seiner Ausbildung eine entscheidende Rolle zu. Dabei muss der Blick international geweitet werden, um europäische Best-Practice-Beispiele kennenlernen zu können. Auch benötigt die Schwerpunktverlagerung von der Kultur- und Wissensvermittlung hin zur gemeinsamen Entwicklung von Initiativen, Projekten und Veranstaltungen den Erwerb neuer Kompetenzen. Freiwilliges Engagement und Ehrenamt sind in Österreichs Büchereien stark ausgeprägt und unterstützen die gesellschaftliche Verankerung der Institutionen. Denn als Community Librarians konzentrieren sich die Freiwilligen auf die Pflege der Beziehungen zwischen der Bücherei und der lokalen Gemeinschaft.
Neben dieser inhaltlichen Bestimmung wird die Relevanz der Büchereien in einem eigenen Abschnitt auch mit Kennzahlen (Medien, Besuche, Entlehnungen, Online-Nutzung, Veranstaltungen, Mitarbeiter*innen usw.) argumentiert, die dann interessant werden, wenn sie verglichen werden, hier mit den entsprechenden Werten aus Bayern, Finnland und den Niederlanden. Das Netz in Österreich zeigt sich gut ausgebaut und dicht, bleibt allerdings bei den Ausgaben pro Einwohner*in und bei der Frequenz und Nutzung deutlich hinter der skandinavischen Best Practice zurück. Interessant wäre es sicher, die Erfolgsfaktoren der österreichischen Spitzenbibliotheken zu analysieren und auf ihre Übertragbarkeit hin zu befragen. Um die Wirkung öffentlicher Büchereien zu vergegenwärtigen, wurde 2022 im Kontext des Entwicklungsplans eine Studie in Auftrag gegeben, die zeigt, dass die Besucher*innen von Büchereien einen starken emotionalen, intellektuellen und kommunikativen Nutzen ziehen.
Insgesamt zeichnet sich der Entwicklungsplan durch seine pragmatische und realitätsnahe Herangehensweise aus. Er setzt direkt an den bestehenden Verhältnissen an und entwickelt über das Leitbild der „Bibliothek für alle“ und der „Bibliothek von allen“ eine attraktive Zukunftsvision, die in einem gut ausgewogenen Spannungsverhältnis zum Ist-Zustand steht. Konkrete Unterstützung erhalten die Büchereien durch die zahlreichen Empfehlungen, die den unterschiedlichen Themen beigegeben sind. Bemerkenswert erscheint dem Rezensenten, der aus dem wissenschaftlichen Bibliothekswesen kommt, die konsequente Zentrierung der Bücherei auf das Lesen und das gedruckte Buch. Hier scheint gerade angesichts des sich verändernden Medienverhaltens hin zur audiovisuellen Kommunikation Skepsis angebracht und Diskussionsbedarf angemeldet. Ist es nicht die Aufgabe von Büchereien, sich den manifesten Veränderungen des Mediennutzungsverhalten zu stellen und das historische Medium des gedruckten Buches zu relativieren? Ein weiterer Aspekt scheint fraglich, diesmal nicht inhaltlich, sondern methodisch: Inwieweit die Bibliotheksbenutzer*innen in die Erarbeitung des Entwicklungsplans einbezogen wurden, bleibt unklar. Quantitative Studien helfen wenig, wichtiger wäre es, in qualitativer Hinsicht konkret mit Menschen zu arbeiten, die Büchereien nutzen, und auch mit Menschen, die sie nicht nutzen. Erst dadurch kann eine „Bibliothek für alle“ zu einer „Bibliothek von allen“ werden im Verständnis von Richard David Lankes „New Librarianship“. Der Erfolg des Entwicklungsplans wird sich in seiner Umsetzung erweisen. Diese liegt einerseits auf der Ebene der einzelnen Büchereien, die sich auf den Weg in die Zukunft machen, und andererseits auf der Ebene der Politik, die die dafür notwendigen Ressourcen bereitstellt. Eine sehr sichtbare Voraussetzung dazu wäre die Novellierung des Bundesgesetzes über die Förderung der Erwachsenenbildung und des Volksbüchereiwesens aus dem Jahr 1973, die im Entwicklungsplan auch nachdrücklich empfohlen wird. Aber auf jeden Fall sollte der Entwicklungsplan einen umfassenden Diskurs über die zukünftige Entwicklung von öffentlichen Büchereien etabliert haben. Um professionell fortzufahren, wird es von sachkompetenter und verantwortlicher Seite zeitgerecht einer Evaluation bedürfen.
© 2025 bei den Autoren, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.
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