Home Barbian, Jan-Pieter: Literaturpolitik im NS-Staat. Von der „Gleichschaltung“ bis zum Ruin. Überarbeitete und aktualisierte Neuausgabe. Frankfurt/M.: S. Fischer, 2024. 511 S., ISBN 978-3-10-397583-3. Hardcover € 36,-
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Barbian, Jan-Pieter: Literaturpolitik im NS-Staat. Von der „Gleichschaltung“ bis zum Ruin. Überarbeitete und aktualisierte Neuausgabe. Frankfurt/M.: S. Fischer, 2024. 511 S., ISBN 978-3-10-397583-3. Hardcover € 36,-

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Published/Copyright: August 14, 2024

Rezensierte Publikation:

Barbian, Jan-Pieter: Literaturpolitik im NS-Staat. Von der „Gleichschaltung“ bis zum Ruin. Überarbeitete und aktualisierte Neuausgabe. Frankfurt/M.: S. Fischer, 2024. 511 S., ISBN 978-3-10-397583-3. Hardcover € 36,-


Diese überarbeitete und aktualisierte Neuausgabe hat eine drei Jahrzehnte zurückreichende Vorgeschichte und behauptet damit weiterhin die Position dieses Buches als Standardwerk. Nach einer noch weiter zurückliegenden Bearbeitungszeit wurde die Arbeit 1991 als Dissertation angenommen und erschien 1993 als Band 40 im Archiv für Geschichte des Buchwesens, zeitgleich auch als Sonderdruck. 1995 wurde das Buch noch einmal bei dtv aufgelegt. Eine „um neue Quellen und wissenschaftliche Erkenntnisse und damit erheblich präzisierte Darstellung der Literaturpolitik im NS-Staat“ legte Barbian 2010 vor. Die jetzige Neuausgabe hängt mit der „Neuordnung der Überlieferungen in mehreren Archiven zusammen“ und berücksichtigt „neue Quellen und Forschungsliteratur“.[1]

Die Gliederung der Kapitel ist im Vergleich mit der Ausgabe von 2010 unverändert geblieben:

  1. Der Personen- und Medienwechsel: Von der Weimarer Republik zum Dritten Reich

  2. Der institutionelle Aufbau der Mediendiktatur und ihre Macht über das Buch

  3. Das Buch in der Mediendiktatur – die Perspektive der Herrscher

  4. Das Buch in der Mediendiktatur – die Perspektive der Beherrschten

Jedes dieser Großkapitel ist in mehrere Unterkapitel unterteilt. Das erste Kapitel handelt vom Bruch mit dem demokratischen Pluralismus und der Internationalität der deutschen Literatur, der Neuformierung des Buchmarktes und der Neuordnung der Öffentlichen und wissenschaftlichen Bibliotheken. Kapitel 2 bietet einen Überblick über die Institutionalisierung und die damit verbundene Bürokratisierung der Mediendiktatur: die staatlichen Behörden, Gestapo und SD, die parteiamtlichen Dienststellen, die spätere Parteikanzlei der NSDAP (bis 1941 der Stab des Stellvertreters des Führers) und der Schrifttumsapparat der Wehrmacht. Hier wird besonders das „heillose Durcheinander“ unter den für Literatur zuständigen Stellen unter die Lupe genommen, wie es Erich Kästner genannt und selbst erlitten hat. Barbian gelingt es, dieses „Durcheinander“ detailreich und trotzdem übersichtlich darzustellen. Das umfangreiche dritte Kapitel beschäftigt sich unter anderem mit der Kontrolle der Schriftsteller und der Reglementierung des Buchmarktes. Die Öffentlichen und wissenschaftlichen Bibliotheken werden unter dem Gesichtspunkt der Steuerung ihrer Buchauswahl untersucht. Barbian war seinerzeit übrigens einer der ersten, der detailliert herausgearbeitet hat, dass das Bibliothekswesen ein ernst genommener integraler Bestandteil der Literaturpolitik des Nationalsozialismus war. Er widerlegte die gern gepflegte Behauptung, dass die Bibliotheken im „Dritten Reich“ zwar keine Inseln der Seligen waren, aber doch eher im Windschatten schärferer politischer Maßnahmen agieren konnten. Unter der Überschrift „Der politisierte Berufsstand: die Bibliothekare“ wird das Thema in Kapitel 4 noch einmal aufgegriffen. Auch hier wird deutlich, dass die „Unschuldsvermutung“ bei manchen führenden Persönlichkeiten nach 1945 ebenso wenig Bestand hatte wie in anderen Berufsfeldern. Das Kapitel lotet ferner die Grenzen und Spielräume der Schriftsteller aus. Zu guter Letzt erscheint die Zielgruppe aller Bemühungen, die Leser, die einerseits der öffentlichen Propaganda ausgesetzt waren, andererseits unabhängig davon an der „Heimatfront“ ihre individuellen Lesebedürfnisse befriedigt sehen wollten.

Abgeschlossen wird die bescheiden als „Studie“ bezeichnete Arbeit, die aber eine veritable Monografie ist, mit einem umfangreichen „Rückblick: Ein gescheitertes Experiment“, der die Bedeutung des Buches für die NS-Mediendiktatur noch einmal unterstreicht.

Beim Vergleich der früher erschienenen Auflagen kann als Ergebnis festgehalten werden, dass die Änderungen und Ergänzungen überschaubar bleiben. Die Korrekturen im Wortlaut spielen keine Rolle. Anzumerken sind einige absatzweise Umstellungen. In der „Einführung“ werden die Veränderungen in der Archivlandschaft und die Hinweise auf die in der Zwischenzeit erschienene Literatur festgehalten. Neu ist unter anderem die Aufnahme der Literaturpreise (S. 227–41) mit dem Hinweis auf ihre geradezu inflationäre Vermehrung, bei der die Quantität vor der Qualität auffällt. Die Ausführungen über die „Sekretierung“ (S. 250 ff.) wurden durch das Thema Raubgut erweitert. Einzelne Schriftstellernamen wurden neu aufgenommen, z. B. Wolfdietrich Schnurre (S. 282). Größere Einschübe finden sich im Kapitel 4.2 „Der Buchmarkt zwischen Politik, Wirtschaft und Berufsethos: die Verleger und Buchhändler“ (S. 294, 322 f.). An eine Kritik soll aber noch erinnert werden. Der 2023 verstorbene Germanist und Buchhistoriker Murray Gordon Hall hat 1996 bemängelt, „daß Barbian Österreich bzw. die Ostmark nicht anschließt, sondern diese wort- und grundlos ausschließt“. Er „richtet seinen starren Blick auf das Deutsche Reich in den Grenzen von 1938, so als ob die Institutionalisierung der Literatur dort seit 1933 für Österreich und seine literarische Produktion vor 1938 nicht erhebliche Folgen gehabt hätte. So ist beispielsweise seine Darstellung des von Propagandaminister Joseph Goebbels initiierten Buchexportförderungsverfahrens des Jahres 1935 ohne Bezug auf Österreich oder die Schweiz graue Theorie“.[2] Die vorliegende Neuausgabe hätte eine Gelegenheit geboten, die notwendigen Ergänzungen vorzunehmen.

Bemerkenswert bleibt der akribische, nahezu 100 Seiten umfassende Anmerkungsapparat. Das Quellen- und Literaturverzeichnis füllt 30 Seiten. Der Abschnitt C „Literatur nach 1945“ wurde gegenüber der Auflage von 2010 mit etwa 60 neu erschienenen Titeln aktualisiert.

Hall hat aber bereits 1996 prophetisch vorhergesagt, dass das Buch „zweifelsohne längere Zeit ein Standardwerk sein wird“. Es bleibt weiterhin ein Handbuch für zeitgeschichtliche, literatur- und buchwissenschaftliche Fragestellungen. Hinzu kommt, dass der Text gut lesbar ist und Dank der Dramatik des Zeitgeschehens von einer inhärenten Spannung lebt.

Online erschienen: 2024-08-14
Erschienen im Druck: 2025-04-03

© 2024 bei den Autoren, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

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  36. Call for Papers
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Downloaded on 11.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/bfp-2024-0031/html
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