Startseite Christian Schulz, Infrastrukturen der Anerkennung: Eine Theorie sozialer Medienplattformen. Frankfurt am Main: Campus 2023, 453 S., br., 45,00 €
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Christian Schulz, Infrastrukturen der Anerkennung: Eine Theorie sozialer Medienplattformen. Frankfurt am Main: Campus 2023, 453 S., br., 45,00 €

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Veröffentlicht/Copyright: 23. April 2025
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Christian Schulz, Infrastrukturen der Anerkennung: Eine Theorie sozialer Medienplattformen. Frankfurt am Main: Campus 2023, 453 S., br., 45,00 €


Social Media Plattformen affizieren – dies betrifft einerseits die durch sie ermöglichte Nutzungspraktik, andererseits aber auch den wissenschaftlichen Diskurs hierüber. Was Christian Schulz in seiner Studie zu sozialen Medienplattformen beobachtet, ist eine Art Lagerbildung, die sich im breiten Forschungsfeld zu Social Media Sites ausmachen lässt. Einerseits finden sich aufgeregte Hinweise auf eine durchökonomisierte technische Struktur, andererseits Analysen über die Nutzungspraktiken aktiver User:innen. Die Forschungslücke, die Christian Schulz ausmacht, besteht dann in der (fehlenden) Verbindung von Struktur und Praktiken. Es geht ihm um die Entwicklung einer „allgemeine[n] Theorie sozialer Medienplattformen“ (S. 11). Hierfür nimmt er Anleihen bei der durch die Arbeiten von Bruno Latour inspirierten „Akteur-Medien-Theorie“ (Schüttpelz), möchte hierüber aber gleichsam hinausgehen, denn: die Akteur-Medien-Theorie sei zu stark auf konkrete Kontexte, weniger auf plattformübergreifende Strukturen fokussiert; insofern erweise sie sich als zu „reduktionistisch“ (S. 12).

Das erste Kapitel folgt trotz dieser Kritik an der Akteur-Medien-Theorie zunächst deren Impetus Follow The Actor!. Eine mikroperspektivische, minutiöse Implementierungsgeschichte der Like-Buttons wird nachgezeichnet, um hieraus drei zentrale Ordnungsmechanismen von Social Media Plattformen herauszuarbeiten: die Listenförmigkeit der Inhalte, die Reziprozität der Netzwerk-Beteiligten und die Affektivität der Nutzung. Man erfährt hier viel Kleinteiliges: etwa die Geschichte der „magic cookies“ (S. 105), die als Wegbereiter des Like-Buttons verhandelt werden. Dieser wiederum wird als Fortfolge des „Awesome Buttons“ (S. 110) eingestuft. Die Entwicklung des Like-Buttons wird in Folge der Einführung des mobilen Internets als Möglichkeit des Trackings sichtbar gemacht. Das Kapitel bietet ein umfangreiches Detailwissen zur Technikgeschichte, das aber den Eingeweihten zumindest in Teilen bereits bekannt erscheinen dürfte. Die Kritik des Autors an einer Akteur-Medien-Theorie kann hier auf seine eigenen Ausführungen appliziert werden: Die Ausführungen lesen sich in gewisser Weise arg kleinteilig-pixelig, das große Bild der Theorie gerät aus dem Blick.

Dieser Eindruck ändert sich im zweiten Kapitel. Hier werden Social Media Plattformen als „Infrastrukturen der Anerkennung“ einer theoretischen Diskussion zugeführt. Das Kapitel bietet vielfältige Theoriebezüge an; um den Begriff der Anerkennung zu klären, wird aber die Sozialphilosophie Axel Honneths ins Zentrum gestellt. In Auseinandersetzung mit den von Honneth anhand von Hegel und Mead gewonnenen Formen intersubjektiver Anerkennung – Liebe, Recht und Wertschätzung – gewinnt der Autor das für digitale Plattformen plausible Prinzip der Reziprozität, dass sich dann freilich in hochgradig technisch vermittelten und differenten Kontexten vollzieht. Um auf die Technikvergessenheit der Honnethschen Sozialphilosophie einzugehen, weitet der Autor deren Prinzipien der Anerkennung auf technische Objekte aus. Das komplexe sozial-technologisch prozessierende Wechselspiel zwischen User:innen, Programmierer:innen, Designer:innen und Algorithmen auf Social Media Plattformen versucht der Autor zu fassen, indem er Begriffe wie die „Schwelle“ (S. 161), die „Plattform-Institution“ (S. 194) und im Anschluss an Castoriadis das „Imaginäre“ (S. 213) einführt. Hierbei stellen sich einige konzeptionelle Fragen: Inwiefern lässt sich die Sozialphilosophie Axel Honneths überhaupt auf technosoziale Environments angemessen übertragen, wo das Ziel der Sozialphilosophie im Sinne einer normativen Theorie der Anerkennung weitaus anders gelagert zu sein scheint als das einer Medientheorie der Reziprozität? Inwiefern kann bei der Reziprozität der digitalen Netzwerkstrukturen tatsächlich von Intersubjektivität ausgegangen werden, wo doch die User:innen nicht nur dyadisch, sondern triadisch verteilt und algorithmisch über differente Kontexte hinweg aufeinander bezogen sind? Die Kommunikationsprozesse ergeben sich ja gerade erst, weil intersubjektive Verständigung immer nur als Simulation von Verstehensprozessen prozessiert. Die Empirie digitaler Kommunikation zeigt, dass Verstehensprozesse zunächst weniger von normativer, intersubjektiver Verständigung im Sinne Honneths als von differenten Sinnhorizonten angeleitet werden, die Anschlusskommunikation zunächst einmal zum allgemeinen Bezugsproblem des Netzwerks emergieren lassen; die normative Frage nach der Anerkennung weicht hier, empirisch gesehen, eher ironischen resp. spielerischen Formen der Kommunikation oder nimmt gar eine in repressiven Kommunikationen (Hate Speech) Anerkennung dezidiert aberkennende Gestalt an. Die Kommunikationsformen auf Social Media Plattformen scheinen ja auch und gerade wegen ihrer ökonomischen Nutzung die normative Anerkennungstheorie Honneths eher zu konterkarieren als zu plausibilisieren. Dass es auf Social Media Kanälen eben vielleicht gar nicht so sehr um Wertschätzung im Sinne Honneths, sondern eher um einerseits popistisch-populär anmutende Kommunikationsspiele geht, andererseits um krasse Abwertungen im Sinne von Hass-Kommunikation, taucht in der Studie kaum auf. Dass das Prinzip der Anerkennung zur Beschreibung digital vermittelter Kommunikation nicht so ganz passend ist, wird dann vorwiegend dadurch sichtbar, dass der Autor selbst Honneths Begriff der Wertschätzung durch jenen der „Bewertung“ ergänzt. Betrieben wird auf Social Media Plattformen häufig auch eine „Kommunikation um der Kommunikation willen“ (S. 276), wie der Autor plausibel feststellt. Nur: Wie genau lässt sich die Sozialphilosophie der Anerkennung auf diese digitalen Kommunikationsspiele übertragen und anschlussfähig machen? Meiner Ansicht nach sind die Prinzipien der Anerkennung, die aus Honneths Theorie hervorgehen, ein wenig zu stark resp. normativ veranschlagt, um die Beiläufigkeit der different verlaufenden Kommunikation im Digitalen plausibel beschreiben zu können.

Das drittel Kapitel will schließlich die begrifflichen Einordnungen am Fall erproben: Die Trias von Affektivität, Be-/Wertung und Institution wird anhand der Rolle der Selfie-Fotografie anhand dreier Fallstudien zur Diskussion gebracht. Hier werden spannende empirische Beispiele veranschlagt, die vor allen Dingen deshalb so interessant sind, weil sie dem Modell der Anerkennung immer wieder widersprechen. Eine Userin erklärt im Interview, die Reaktionen ihrer Follower:innen gar nicht im Blick zu haben, es gehe ihr vielmehr ganz schlicht darum, ihre Fotos zu ordnen (S. 310–311). Die Analyse reagiert hierauf – allerdings dann eben doch zu starr an dem Modell der Anerkennung orientiert, um auf empirisch abweichende Fälle angemessen Antwort geben zu können. Dass es sich bei der benannten Userin, die auch Influencerin ist, um nichts anderes als um Anerkennungsvergessenheit (S. 321) und ökonomische Verdinglichung (siehe S. 323) handeln muss, leuchtet aus der Perspektive einer Sozialphilosophie der Anerkennung vielleicht ein; empirisch muss diese Paraphrasierung nicht überzeugen. Hier wird aus meiner Sicht schlicht zu nah am theoretischen Modell und zu wenig am Fall orientiert argumentiert. Inwieweit, so könnte man auch fragen, lässt sich die vorgeschlagene theoretische Gangart durch das empirische Material irritieren?

Was der Studie aus meiner Sicht fehlt, ist ein Begriff von Kommunikation. Kommunikation als die Einheit von Information, Mitteilung und Verstehen (siehe hierzu Luhmann, 1995; Baecker, 2012, S. 52) verweist dann weniger auf Anerkennungsprozesse, sondern zunächst auf Differenz: Eine Information, die über eine Mitteilung kommuniziert wird, kann unterschiedlich verstanden werden. Nur so kann man sich das Auftreten von Missverständnissen erklären. Die immer wieder auch erfolgte Löschung der Inhalte von vermeintlichen Hatern im Web 2.0 kann hierfür als Beispiel dienen: Eine Aussage, die eigentlich in kritischer Absicht getätigt wurde, wird (fälschlicherweise) als Hass-Kommunikation identifiziert und der Account gesperrt. Erst die Anschlusskommunikation, die Beschwerde gegen die Sperrung des Accounts, kann hierüber Aufklärung verschaffen. Schon die Einführung der Schrift führt zu den Aufhebungen der Beschränkungen sozialer Kontrolle von Verstehensprozessen, die in der Interaktion unter Anwesenden noch eher gegeben waren: „Demnach ermöglicht es die Ausdifferenzierung der Texte und die Unterbindung von Sofortreaktionen, daß man über identische Texte verschiedene Meinungen bilden kann“ (Luhmann, 1997, S. 258). Ist die Möglichkeit zu Nein-Stellungnahmen bereits in der mündlichen Sprache angelegt, so wird diese Möglichkeit unter der medialen Infrastruktur der Schrift also noch erweitert:

Schrift symbolisiert Abwesendes, und ,symbolisiert‘ soll hier heißen, daß Abwesendes wie Anwesendes für Operationen des Systems zugänglich wird. Darauf bauen Möglichkeiten der Beobachtung zweiter Ordnung auf, die von den Beschränkungen der sozialen Kontrolle unter Anwesenden freigestellt sind und Kritik in einem Umfange ermöglichen, der die Sozialstruktur und die Semantik der Gesellschaft tiefgreifenden Transformationen aussetzt. (Luhmann, 1997, S. 290)

Kommunikative Verstehensprozesse immer schon als Anerkennungsprozesse aufzufassen, nur weil sich Personen interaktiv aufeinander beziehen, erscheint auch und gerade vor dem Hintergrund der Nutzungspraktiken auf Social Media Plattformen arg voraussetzungsreich zu sein. Der Einsatz der Studie für eine über konkrete Einzelfälle hinausweisende Theorie zu Social Media Plattformen ist zwar ein Anliegen, das in der Tat grundsätzlich plausibel ist. Ob man dafür aber eine normative Sozialphilosophie der Anerkennung in Anschlag bringen muss, ist aus meiner Sicht bezweifelbar.

Literatur

Baecker, D. (2012). Systemtheorie als Kommunikationstheorie. In O. Jahraus, A. Nassehi, M. Grizelj, I. Saake, C. Kirchmeier, & J. Müller (Hrsg.), Luhmann Handbuch. Leben – Werk – Wirkung (S. 52–57). Metzler. Suche in Google Scholar

Barth, N., Wagner, E., Raab, P., & Wiegärtner, B. (2023). Contextures of hate: Towards a systems theory of hate communication on social media platforms. The Communication Review, 26(3), 209–252. https://doi.org/10.1080/10714421.2023.2208513.10.1080/10714421.2023.2208513Suche in Google Scholar

Luhmann, N. (1995/2005). Was ist Kommunikation? In Ders. Soziologische Aufklärung (Bd. 6, S. 113–124). VS Verlag.10.1007/978-3-663-11450-5Suche in Google Scholar

Luhmann, N. (1997). Die Gesellschaft der Gesellschaft (Bd. 1). Suhrkamp.Suche in Google Scholar

Online erschienen: 2025-04-23
Erschienen im Druck: 2025-05-23

© 2025 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

Artikel in diesem Heft

  1. Frontmatter
  2. Frontmatter
  3. Editorial
  4. Symposium
  5. Theorie oder Therapie? Wie die prekäre Beziehung von Rechtssoziologie und Rechtstheorie zu verbessern ist
  6. Recht als Gegenstand, Disziplin oder Praxis?
  7. Zukunftsfähigkeit der Rechtssoziologie
  8. Essay
  9. Alles schlecht von Marrakesch bis Bagdad? Über den Sinn von Jugendstudien über eine ganze „Region“
  10. Themenessay
  11. Künstliche Intelligenz und gesellschaftliche Machtverhältnisse
  12. Sammelbesprechung
  13. Aktuelle Fragestellungen der Mediensoziologie
  14. Doppelbesprechung
  15. Tafelläden gegen Ernährungsunsicherheit?
  16. Einzelbesprechung Alter(n) und Gesellschaft
  17. Vera Miesen, Engagement und Habitus im Alter: Milieuspezifische Engagementtätigkeit im sozialen Nahraum. Bielefeld: transcript 2022, 270 S., kt., 44,00 €
  18. Einzelbesprechung Daten, Algorithmen und Digitaler Kapitalismus
  19. Markus Unternährer, Momente der Datafizierung: Zur Produktionsweise von Personendaten in der Datenökonomie. Bielefeld: transcript 2024, 258 S., kt., 39,00 €
  20. Einzelbesprechung Kreativitätsforschung
  21. Konstantin Hondros, Liminale Kreativität: Praktiken kleinster Transformationen in der Produktion von Soundalikes. Marburg: Büchner-Verlag 2023, 402 S., br., 37,00 €
  22. Einzelbesprechung Mediensoziologie
  23. Christian Schulz, Infrastrukturen der Anerkennung: Eine Theorie sozialer Medienplattformen. Frankfurt am Main: Campus 2023, 453 S., br., 45,00 €
  24. Einzelbesprechung Normative Soziologie
  25. Max Haller, Die revolutionäre Kraft der Ideen: Gesellschaftliche Grundwerte zwischen Interessen und Macht, Recht und Moral. Wiesbaden: Springer VS 2022, 961 S., eBook, 64,99 €
  26. Einzelbesprechung Politikwissenschaft
  27. Tobias Breuckmann, Die Regierung von Migration in Lagern: Geographien der Macht am Beispiel Lesvos. Münster: Westfälisches Dampfboot 2024, 418 S., kt., 40,00 €
  28. Einzelbesprechung Wertlose Wahrheit
  29. Felix Keller, Anonymität und Gesellschaft Bd. I: Die Beschreibung der Anarchie. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2021, 600 S., br., 59,90 € Felix Keller, Anonymität und Gesellschaft Bd. II: Wissenschaft, Utopie, Mythos. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2022, 600 S., br., 59,90 €
  30. Rezensentinnen und Rezensenten des 2. Heftes 2025
  31. Eingegangene Bücher (Ausführliche Besprechung vorbehalten)
Heruntergeladen am 15.11.2025 von https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/srsr-2025-2013/html
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