Felix Keller, Anonymität und Gesellschaft Bd. I: Die Beschreibung der Anarchie. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2021, 600 S., br., 59,90 € Felix Keller, Anonymität und Gesellschaft Bd. II: Wissenschaft, Utopie, Mythos. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2022, 600 S., br., 59,90 €
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Wie würden die Leser[1] der Soziologischen Revue auf eine anonym verfasste Rezension reagieren? Wenn entgegen der sonst üblichen Namensnennung, ergänzt um Angaben der beruflichen Stellung und des Dienstortes, eine redaktionelle Notiz der Herausgeber „besondere Umstände“ anführt, die ein anonymes Erscheinen der Rezension angebracht erscheinen lassen. Und würde die Rezension anders ausfallen, wäre sie nicht namentlich verantwortet? In welcher Hinsicht wäre ein Unterschied zu erwarten? In der modernen Wissenschaftskultur und in den klassischen Printmedien ist anonyme Autorschaft mehr oder weniger vollständig verschwunden. Die vielleicht wichtigste Ausnahme ist der Economist, der damit die Fahne einer englischen Tradition hochhält. Das Times Literary Supplement ist erst in den 1970er Jahren zur namentlich gekennzeichneten Rezension übergegangen. Wie Keller zeigt, wurde geglaubt, dass ein anonym geäußertes Argument oder Wissen kraft ihrer immanenten Logik die Wirkung ihrer Wahrheit entfalten könne. Die unvermeidlichen Machtverhältnisse öffentlicher Räume würden dazu führen, dass sich Autoren selbst zensieren, Informationen unterdrückt würden oder hinsichtlich der Person, ihrer sozialen Stellung, ihres Alters und ihrer Bildung oder ihrer bekannten politischen Präferenzen der Inhalt ihrer Äußerung relativiert wird. Der Schutz der Anonymität wurde insbesondere für Rezensenten in Anspruch genommen, die ja bereits Goethe in einem berüchtigten Gedicht wie einen Hund totschlagen lassen wollte. Ohne Angst vor Reputationsverlust sich an der Wahrheit versuchen zu können, wurde als wichtiges Mittel gesehen, den allgemeinen Wissenstand zu heben. Die frei geäußerte Meinung der Vielen sorge für eine Objektivität der öffentlichen Meinung, die der Regierung eine brauchbare Richtschnur ihres Tätigwerdens an die Hand gebe. Trotzdem ist die Praxis anonymen Publizierens schon bald wieder verschwunden. Mit den neuen digitalen Technologien hat zwar die Hoffnung auf die unter der Bedingung der Anonymität erfolgende Produktion von Wissen und die Wahrheit hervorbringende, offene und gleichberechtigte Konkurrenz der Argumente eine kleine Renaissance erlebt, um allerdings, von wenigen Ausnahmen wie Wikipedia abgesehen, ziemlich schnell wieder zu verschwinden. Für Keller geht der Übergang zur Norm signierter Autorschaft auf das Konto einer letztlich dysfunktionalen Suche nach der Identität von Autoren sowohl von Seiten des Publikums wie auch der Staatsmacht. Ein anonym publizierter Text stelle ein Rätsel dar, das zu lösen mehr Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt als das, was der Text tatsächlich zum Ausdruck bringen möchte. Oder es wird mit der Anonymität künstlich Aufmerksamkeit für etwas geschaffen, das die Sache nicht verdient. Eine anonyme Rezension in einem fachwissenschaftlichen Organ würde sofort Anstrengungen auslösen, die Autorschaft festzustellen und herauszufinden, was eigentlich dahintersteckt. Was der Fall ist, der Inhalt der Rezension, trete in den Hintergrund.
In Kellers Untersuchung der Anonymität der Gesellschaft gewinnt das seit der Erfindung des Buchdrucks problematisierte anonyme Publizieren paradigmatische Qualität. Das Schreiben und die Kommunikation der Gesellschaft unter Kontrolle bringen, sieht er als strukturbildende, formgebende Kraft. Der in diesem Raum entwickelte Diskurs strahle auf die sich in Differenzierungsprozessen herausbildenden neuen gesellschaftlichen Feldern aus, die Keller, weil sich auch in diesen Feldern Ordnungsprobleme stellten, als Wissensgebiete behandelt, die sich durch Benennungs-, Klassifizierungs- und Markierungsarbeit auszeichnen. Dabei handle es sich um unabschließbare Prozesse. Namenloses störe die Ordnung, provoziere die Verfechter der Ordnung, löse eine Arbeit der Namensgebung aus. Nomenklaturen erzeugen jedoch immer auch ein nicht Benanntes, Markierungen verweisen auf Unmarkiertes, Verortung auf Ortloses. Keller zufolge sind die Wissensgebiete der Gesellschaft immer auch Gebiete der Bezeichnung durch Namen, die sich zu „komplexeren semiotischen Strukturen entwickeln können“ (I, S. 30). Weil es mit dem Konzept der Anonymität möglich werde, „gesellschaftliche Umbrüche zu verstehen“, könne es in verschiedenen Wissensgebieten in Anschlag gebracht werden (I, S. 172, S. 170). Was dann Keller näher in den Blick nimmt, sind die Herausbildung einer politischen Öffentlichkeit, die Bürokratisierung der Kontrolle und verwaltungstechnischen Durchdringung des Staatsgebiets, die Ablösung der Unternehmerpersönlichkeit durch die Rechtsform der juristischen Person, durch die Kapitalbesitz und Unternehmenstätigkeit getrennt werden, das Auftauchen der Masse und die Formierung der Massengesellschaft durch die Verbindung von Industrialisierung und Urbanisierung. Während es im ersten Band noch einen deutlichen Bezug zu gesellschaftlichen Transformationsprozessen gibt, stehen im zweiten Band die Beschreibungsversuche in den Wissenschaften, der Philosophie und in der Kunst im Mittelpunkt seines Interesses. Der Fokus liegt dabei auf den Versuchen einer Verwissenschaftlichung des Sozialen bei le Bon und Tarde, die beide dezidiert anti-individualistische und anti-idealistische Ansätze formulieren, vor allem bei der Chicago School, der sich formierenden US-amerikanischen Soziologie, wo mehr die Schwäche oder das Fehlen von Gemeinschaft als Ordnungsträger des Sozialen thematisiert wird. In der Philosophie zeichnet Keller die Auseinandersetzungen nach, die Karl Jaspers um die Kategorie der Person führt, und, ausgehend von der Phänomenologie, zum eher soziologischen Denken von Schütz und Berger/Luckmann und schließlich zu Foucault. Was Keller bei der Musterung des Materials herauszustellen versucht, ist das Verschwinden des modernen Subjekts, die „historische Idee des weltenbauenden Ichs“ (II, S. 190). Anonymität werde zu einer Eigenschaft des Sozialen schlechthin (II, S. 197). Das Stichwort für die Behandlung der Anonymität in der Kunst ist „Ästhetik des Anonymen“. Für Keller ist hier der Wandel der Porträtkunst von der Malerei über das fotografische Porträt zur Fotografie namenloser Menschen bezeichnend. Im Gebiet der Kunst taucht wieder die Vorstellung auf, das anonym produzierte Kunstwerk könne für sich stehend rezipiert werden, ohne Bezug zur Produzentenbiographie und den herrschenden Konventionen, und damit ohne das Risiko, ein Scheitern mit Reputationsverlust bezahlen zu müssen. Hesses Glasperlenspiel steht bei Keller für den Versuch, über Anonymität wieder einer freien, spielerischen Geistigkeit zur Macht zu verhelfen. Für die damit verbundenen überraschenden Möglichkeiten des Entwurfs alternativer Ordnungen einer freien Zirkulation der Gedanken werden die neuen, unmarkierten Räume des Internets in Anspruch genommen. In Kellers Darstellung setzt sich in allen Wissensgebieten die Tendenz durch, die Überlegenheit einer Objektivität als The View from Nowhere (Thomas Nagel) gegenüber dem immer perspektivengebundenen Hervorbringen von Erkenntnis und Wissen durch individualisierte Subjekte zu untermauern. Eine aperspektivische Objektivität, ein uneingeschränkt universalistisches Wissen würden vor allem die Hervorbringungen anonymer Kollektive versprechen. Keller erhebt Anonymität in den Rang einer eigenen Wahrheitstechnik.
Wie kommt nun Keller von den Klassifizierungs- und Kontrollproblemen anonymer Schriften, von der doch eher zufälligen Bezeichnung der Aktiengesellschaft im französischen Wirtschaftsrecht als Société Anonyme, von der Ausstellung anonymer Toter in der Pariser Morgue, von den Fotografien anonymer Menschen und zu den anonymen Orten der Hotelhalle und des Flughafens zur Anonymität? Was genau will er mit dem Titel „Anonymität und Gesellschaft“ bezeichnen? Erlaubt das doch recht vielfältig verwendete Adjektiv „anonym“ jene Substantialisierung zu „Anonymität“, die Keller zum Objekt seiner Untersuchung macht? Ich habe da meine Zweifel.
Keller braucht für seine Untersuchung mehr als 1100 Seiten Text. Die Textmasse scheint ihn selbst überwältigt zu haben. Neben Rechtschreib- und typografischen Satzfehlern gibt es Vertauschungen (das schottische Newhaven mit dem neuenglischen New Haven), Nachlässigkeiten im Text (z. B. Walter statt Walker Evans II, S. 300, dort auch Todesjahr 1945 statt 1975) und Index (in I z. B. zweimal Durkheim, Émile, und einmal Durkheim, Emile; in II fehlt z. B. Eugéne Atget). Im ersten Band wird Giddens' Begriff der Einbettung in zwei Fußnoten textidentisch wiedergegeben (S. 287 und S. 448), und auf S. 116 wiederholen sich Sätze. Der „Fall der kleinen Maddy“, des englischen Mädchens, das vom portugiesischen Urlaubsort verschwunden ist und mit Fotographien gesucht wurde, wird im Text und in der Fußnote mit den gleichen Worten beschrieben (I, S. 400). Große Teile der Textmasse gehen auf das Konto einer Paraphrasierung der Aussagen von „Quellen“ und die ausgiebige Wiedergabe interpretierender „Literatur“. Gibt es in dieser Textproduktion Methode? Ein eigenes Methodenkapitel findet sich nicht, auch nicht das Exposé einer Theorie. Es werden zwar mehr oder weniger regelmäßig „Thesen“ eingeführt, die sich allerdings keiner eindeutigen Ordnung fügen oder als solche in einem systematischen Zusammenhang diskutiert oder begründet werden. Die Rede von Thesen ist eher rhetorisches Stilmittel. Stattdessen wird ein „erkenntnislogischer Rahmen“ präsentiert, „der das Beschreibbare aus den Mengen von Evidenzen und Texten erst hervortreten lässt“ (I, S. 41). Die erstaunlich heterogene (und bei weitem nicht vollständige) Liste der Gewährsleute, die Keller für die Möglichkeit seines Vorhabens und Begründung des „erkenntnislogischen Rahmens“ heranzieht, reicht von Saussure, Jacobson und Lévi-Strauss über Rickert, Bachelard, Whitehead und Kripke bis zu Foucault, Greimas, Bourdieu, Latour und Castoriadis. Mit dieser Tour de Force durch die Gefilde des Strukturalismus und der Analytischen Philosophie ist es nach den ersten hundert Seiten vorbei mit „Theorie“. Was dann folgt, sind enorm dichte und materialreiche Auseinandersetzungen mit dem Anonymen in den verschiedenen Feldern oder „Wissensgebieten“, die im Laufe der Ausdifferenzierung der modernen Gesellschaft Gestalt und Form gewinnen. Der für Keller dafür zunächst ins Auge gefasste zentrale Ordnungsbegriff ist „Konstellation“. Es seien Konstellationen, „die die Diskurse über das Anonyme virulent werden lassen“, und deren Gegenüberstellung es erlaube, Erkenntnisse zu gewinnen, die über ihre historische Singularität hinausweisen und insofern auch ein Interesse an „Theorie“ erkennen lassen (I, S. 41). Mit „historischer Singularität“ wird auch eine Nähe hergestellt zu Max Webers „historischen Individuen“ als Konstellation von (ideellen und materiellen) Interessen, institutionellen Strukturen und gesellschaftlichen Umweltbedingungen, und zur Weiterentwicklung des Konstellationsbegriffs in der Wissenssoziologie Karl Mannheims. Von einem kausalen Verständnis von Webers und Mannheims „Bedingungskonstellationen“ will Keller freilich nichts wissen. Deshalb ähnelt die Art und Weise, wie Keller Namenloses und Unmarkiertes behandelt, dem Vorgehen der Grinsekatze aus Lewis Carrolls Alice in Wonderland, die in Rätseln spricht und Alice bei der Suche nach dem weißen Kaninchen eher wenig hilfreich ist. Einen festen Bezugspunkt zu bestimmen, etwa im Sinne einer Konstellation ausschlaggebender Bedingungen, in denen Ideen eines Anonymen auftauchen und Praktiken der Markierung und Verortung entwickelt werden, lehnt Keller ab: damit würde nur das repliziert, was schon bekannt sei. Das Konzept der Anonymität sei geschaffen, um neue Realitäten zu beschreiben; Anonymität verändere Gesellschaft (I, S. 13). Sein Verständnis von Konstellation orientiert sich letztlich an seiner Herkunft aus der Astronomie und will das damit verbundene metaphorologische Potential nutzen. Seine Arbeit suche „nach dem Auftauchen von Konstellationen, die grundlegende Fragen des Namenlosen und damit der Gültigkeit von Namen aufwerfen“ (I, S. 56). Von „Erklären“ und „Verstehen“ ist nicht die Rede, stattdessen von „Sternen und Menschen“ (I, S. 41–57).
Keller bezeichnet sein zweibändiges Werk als eine „Untersuchung [...] nahe am Material [...], das die Gesellschaft über sich selbst produziert“ (I, S. 12). Die Bibliographie wird zwar in „Literatur“ und „Quellen“ unterteilt, und beide Bände enthalten auch Abbildungen, aber die Unterscheidung ist willkürlich (David Riesmans The Lonely Crowd wird in II unter Quelle und die deutsche Übersetzung unter Literatur geführt). Letztlich gilt Keller ja alles, was an Material herangezogen wird, Fotografien genauso wie wissenschaftliche Werke, als von „der Gesellschaft“ produziert. Als dekonstruierende Auseinandersetzung mit Texten soll sich seine Soziologie vom Programm einer Wirklichkeitswissenschaft mit eindeutigen gesellschaftlichen oder politischen Referenzen lösen. In Kellers eigenen Worten:
„Als ob es sich um einen Automaten handelt, der unabhängig von konkreten Intentionen operiert, produziert Gesellschaft (oder die Welt namens Gesellschaft) an der Grenze des Realen, des Lebendigen und der natürlichen Welt fortdauernd ein eigenes Diskursuniversum, indem der Stoff des Realen beständig geteilt wird, in einen Teil, der vom Gesellschafts-'Automaten' und seinen Instanzen registriert wird, und einen Teil, der nicht erfasst wird und über den sich schlicht nicht reden lässt“ (I, S. 31).
Keine Soziologie kann die Wirklichkeit oder Tatsachen für sich selbst sprechen lassen. Selbst Max Weber mit seiner als Wirklichkeitswissenschaft beschriebenen Soziologie hat bewusst rhetorische und literarische Stilmittel eingesetzt. Seine Beschreibung des modernen Kapitalismus als ein von Puritanern unbeabsichtigt geschaffenes „stahlhartes Gehäuse“ hat in Parsons Übersetzung als iron cage Weltkarriere gemacht. Das eigentliche Problem ist allerdings weniger der Gebrauch von Metaphern überhaupt, sondern der radikale Konstruktivismus des Sprechens von „der Gesellschaft“ als Ganzes (Lüdemann, 2004). Keller unternimmt eine grobe empirische Fundierung einmal in der Form, als er sein Material historisch in die Entwicklung von der Ständegesellschaft über die Industriegesellschaft zur Informations- oder kybernetischen Gesellschaft einordnet, und durchgehend Gesellschaft als „Weltgesellschaft“ identifiziert. Diese Umstellung verschiebt das Problem, was genau mit welchem Instrumentarium beobachtet wird (und mit welchen Defiziten die Instrumente belastet sind), löst es aber nicht. „Weltgesellschaft“ wie auch die anderen, scheinbar für sich stehenden Gesellschaftsformationen, bleiben metaphorisch, empirisch ungreifbar und politisch nicht adressierbar. Das ist auch für Keller insofern eine Herausforderung, als er immer wieder auf ein Wissen zu sprechen kommt, das in den Auseinandersetzungen der ordnungsschaffenden und ordnungserhaltenden Gesellschaft mit der Anonymität produziert werde und das die Grundlage für Gesellschafts- oder Sozialreformen bilde. Damit dieser für das Verständnis der Entwicklung der modernen Gesellschaft genauso grundlegende wie voraussetzungsreiche Mechanismus der Rückwirkung der Gesellschaft auf sich selbst in einer Wirklichkeitserkenntnis vermittelnden Art und Weise in den Blick kommt, braucht es schlechterdings eine Ebene der Untersuchung, die Akteure, kollektive wie individuelle, und ihre institutionelle-organisatorische Umwelt fokussiert. Auch der Wandel der technischen Bedingung der Produktion von Texten (im weitesten Sinn des Wortes) und der Verarbeitung von Information (auch weit gefasst) führt für Keller nicht hinaus über das sich wiederholende dialektische Muster der Prozesse der Benennung, Kennzeichnung, Codierung und Markierung einerseits, und des unmittelbar damit verbundenen Bemerkens eines beunruhigend Unbenanntem, Unmarkiertem, Uncodiertem und Ortlosem andererseits. Folgerichtig führt Keller eine neue Technik des systematischen Erfassens von anonymen Schriften auch nicht auf die Kommunikationsinteressen neuer sozialer Gruppen zurück. Bemerkenswert sei, „dass diese Wissenstechnik, die diese beiden Räume [des Markierten und des Unmarkierten] nicht auf einer bestimmten Ideologie, einer bestimmten Religion basiert, oder mit revolutionären oder konservativen Intentionen einhergeht, sondern sich vielmehr als Effekt der Etablierung einer Beobachterposition schlechthin erweist“ (I, S. 164). Mit „Beobachterposition schlechthin“ meint Keller „die Gesellschaft“.
Keller spricht vom Staat in der gleichen absolutierend-totalisierenden Art und Weise wie von der Gesellschaft. Zum Teil geht diese Redeweise auf das Konto vor allem der französischen Soziologie (oder vielmehr Sozialphilosophie), und diese wiederum auf die Eigenart der französischen Staats- und Nationenbildung mit ihrem Zentralismus und Rationalismus. Das Staatsbild des Absolutismus und das Gesellschafts(körper)bild der Physiokraten beherrschen bis in die Gegenwart hinein die sozialwissenschaftliche Vorstellungswelt, nicht zuletzt aufgrund des Menschen- und Bürgerrechtsindividualismus der Französischen Revolutionsverfassungen. Die Freiheit und Gleichheit der Bürger sollte durch ein absolutes Verbot jeglicher Gemeinschaftsbildung jenseits des Staates abgesichert werden (Simitis, 1989). Zwischen dem einzelnen Bürger und dem Staat sollte nichts Vermittelndes stehen, weil jede intermediäre Organisation oder gesellschaftliche Gemeinschaftsbildung zur Verselbständigung neige und den Bürgerwillen korrumpiere. Hier an diesem Punkt wird der Kontroll- und Durchgriffswille des alten wie des modernen, postrevolutionären Frankreichs sichtbar. Es ist deshalb nicht zufällig das alte Frankreich, wo die Problematik des bibliographischen Einordnens anonymer Schriften genauso wie die Versuche des Identifizierens anonymer Autoren in aller Schärfe zuerst auftaucht und bei Keller die Gestalt und Gewalt eines Paradigmas gewinnt. Obwohl Keller gerade an diesem Punkt, die Konstruktion der modernen Gesellschaft über das Verfassen und Ratifizieren von Staat und Gesellschaft begründenden Verfassungen, mit seinem vergleichenden Blick auf Großbritannien und Deutschland die historische Spezifität seiner Ausführungen deutlich erhöht, entgeht ihm das wesentliche Moment der Herausbildung der modernen Gesellschaft. Den modernen Revolutionen des Unabhängigkeitskrieges der nordamerikanischen Kolonien und des französischen Dritten Standes liegen keine Pläne einer neuen Statusordnung mit hierarchisch differenzierten Rechten zugrunde. In beiden Fällen sollen die Bürger über die liberale Trennung von Staat und Gesellschaft und die Einräumung von gleichen subjektiven Rechten aus ständischen Beschränkungen freigesetzt werden. In diesem revolutionären Umschlag von weltgeschichtlicher Bedeutung liegt der Grund für Webers Entscheidung, nicht Gesellschaft in das Zentrum eines soziologischen Interesses zu setzen, sondern Vergesellschaftung. Was Weber als für die modernen Verhältnisse von Wirtschaft und Staat entscheidende Kraft in den Blick nimmt, ist individuelles soziales Handeln und das unüberschaubar Vielfältige der Vergesellschaftungen und Vergemeinschaftungen, die auf der Grundlage der subjektiven Rechte der Einzelnen immer egozentrische Unternehmungen sind.
Was genau kann es dann heißen, Anonymes als Anonymes zu untersuchen? Denn dabei handelt es sich ja um ein letzten Endes unmögliches Unterfangen, wie Keller selbst betont und wie es bereits von Jaspers festgehalten wurde: „Anonymität zu beschreiben, würde sie aufheben, wenn Beschreibung Erkenntnis würde“ (Jaspers, 1932/1979, S. 152). Am Ende und am Anfang seiner Untersuchung zitiert Keller Jaspers: „Das Anonyme, das begriffen würde, wäre es nie gewesen“ (I, S. 14; II, S. 507; Jaspers, 1932/1979, S. 152). Keller bewegt sich im Kreis, wobei notwendig offenbleiben muss, was mit der Kreisbewegung erfasst werden kann. Keller will die dem Anonymen inhärente Unfassbarkeit selbst zum entscheidenden Merkmal machen. „Die Entwicklung und Etablierung und jeweilige Artikulation dieses Konzepts verwiese dann wie ein zitternder Zeiger auf tiefergehende gesellschaftliche Umbrüche, die dann mehr schlecht als recht bezeichnet sind“ (I, S. 14). Am Ende der Untersuchung heißt es: „'Anonymität' funktioniert offenbar als semantischer Operator, als eine Art Zeiger, der auf eine Welt im Nebel weist: Er bezeichnet und problematisiert nicht vermessene, unbeschriebene, unmarkierte Zonen“ (II, S. 507). Bei der Lektüre der beiden Bände hat sich mir allerdings zunehmend der Eindruck aufgedrängt, dass Keller sein Untersuchungsmaterial über eine Wortsuche gefunden hat und ausgehend allein vom Wortgebrauch Diskursfelder identifiziert und Diskurse rekonstruiert. Aus welchen Gründen und mit welchen Absichten die Begriffe „anonym“ und „Anonymität“ gebraucht werden, bleibt bei Keller außen vor. Damit wird er allerdings der Sache nicht gerecht. Das zeigt seine Behandlung Simmels. Obwohl Simmels Begriff der objektiven Kultur, mit dem der spezifisch moderne Sachverhalt der Entfremdung und Überwältigung der Menschen durch die von ihnen selbst geschaffenen Einrichtungen zu fassen versucht wird, jene gesellschaftliche Anonymität, die Keller in den Fokus nehmen will, präzise benennen kann, begnügt sich Keller mit dem Hinweis, der Begriff „anonym“ tauche allein in einer amerikanischen Übersetzung eines frühen Aufsatzes von Simmel auf, wo er sich allerdings auf „Verhältnisse im frühen Mittelalter in England“ beziehe (II, S. 90). Diesen Eindruck einer Orientierung am kontextbefreiten und von jeweils konkreten Motiven absehenden Wortgebrauch erweckt auch seine Auseinandersetzung mit der Fotografie „anonymer“ Menschen im Werk von Walker Evans. Im Rahmen der ausführlichen Diskussion einer Fotografie aus der 1938 anonym aufgenommenen Subway Passengers-Serie hält Keller fest, das „anonyme Porträt erzeugt ein Rätsel, etwas, woran jede sozialwissenschaftliche Interpretation verzweifeln müsste, nähme sie sich als Wissenschaft ernst“ (II, S. 209). Er zitiert weiter Evans mit der Bemerkung, zwar sei „[t]he setting [of the subway] a sociological gold mine awaiting a major artist“, dem allerdings keine wissenschaftliche Soziologie vorschwebe. Evans bezeichne seinen Blick als „non-scholarly, non-pedantic sociology“ (II, S. 311). Abgesehen davon, dass es sich hier um die Worte aus einem bereits 1944 verfassten Text von James Agee handelt, den Evans in das 1966 erschiene Buch zur Ausstellung seiner Subway-Fotografien aufgenommen hat (Agee verstarb bereits 1955, konnte also keine Einführung zu Many Are Called schreiben, wie Keller II, S. 310 meint), trifft die Ablehnung der „wissenschaftlichen Soziologie“ einen kritischen Punkt. Evans geht es um eine poetische Soziologie, die ihren Ausgangspunkt im höchstpersönlichen Interesse am singulären Individuum hat. Seine Subway-Fotografien seien „a project for love“: „Nobody asked me to do it. Nobody paid me for it“ (zit. nach Alpers, 2020, S. 163). Das berühmte Reportage-Projekt mit James Agee über drei verelendete Pächterfamilien in den amerikanischen Südstaaten trug den bezeichnenden Titel Let Us Now Praise Famous Men (1941/1989). Was die Subway-Fotografien nach Evans eigener Aussage allerdings zeigen, ist „the harassed man's haven of detachment“ (zit. nach Alpers, 2020, S. 162). Evans will die Würde des Menschen retten. Obwohl Keller sich von einer wissenschaftlichen (positivistischen?) Soziologie zu distanzieren scheint, präsentiert sich seine Soziologie als Soziologismus reinsten Wassers. Soziales ist eine Wirkung von Strukturen. Nun gibt es gute Gründe für Soziologismus. Er kommt in Webers Formulierung von der „unentrinnbaren Macht der äußeren Güter über den Menschen“ (1920/1986, S. 204) genauso zum Ausdruck wie in Durkheims „sozialen Tatsachen“ und Simmels „objektiver Kultur“. Doch Weber bleibt an diesem Punkt nicht stehen. Der methodologische Individualismus seiner Soziologie als Wissenschaft vom sozialen Handeln ist vielmehr aufrüttelnder Appell an das Verantwortungs- und Pflichtgefühl der Menschen. Es geht ihm um eine Haltung, die, wie er selbst sagt, nicht selbst wissenschaftlich begründet werden kann. Ihr Wert zeigt sich für ihn gerade darin, dass er dem ausdrücklich realitätsadäquaten Soziologismus diametral gegenübersteht. Webers Anliegen wird von Jaspers aufgegriffen, dessen Schrift Die geistige Situation der Zeit von Keller ausführlich gewürdigt wird und dessen Satz, „Das Anonyme, das begriffen würde, wäre es nie gewesen“, Keller quasi als Programm dient. Jaspers geht bei einer leicht veränderten Fassung dieses Satzes mit einer Erweiterung, die Keller nicht zitiert, über ihn hinaus: „Anonymität zu beschreiben, würde sie aufheben, wenn Beschreibung Erkenntnis würde. Aber Beschreibung ist hier nicht Feststellung, sondern appellierende Möglichkeit“ (Jaspers, 1932/1979, S. 152). Keller verweist unmittelbar nach dem verkürzten Zitat auf den seiner Meinung nach überlegenen soziologischen Realismus Bertold Brechts, der die Reduzierung der Menschen auf Funktionen konstatiere. Jaspers sieht ebenfalls die Wirklichkeit der „Maschinenmenschen“, will aber diesem Faktischen keine Normativität zubilligen: „Was geschehen wird, sagt keine zwingende Antwort, sondern das wird der Mensch, der lebt, durch sein Sein sagen. Die erweckende Prognose des Möglichen kann nur die Aufgabe haben, den Menschen an sich selbst zu erinnern“ (Jaspers, 1932/1979, S. 194).
Wenn Keller die Entwicklung von Anonymitätsdiskursen als Markierung von Wissens- und Ordnungsdefiziten beschreibt, die Herausbildung der neuen Formen der Kommunikation und Information und der neuen Strukturen ihrer Verbreitung und Zirkulation als Kontrollproblem eines Staatsapparates thematisiert, dann stellt sich doch die Frage, wie es überhaupt zur Institutionalisierung von Meinungs- und Publikationsfreiheit kommen konnte, oder warum es im Art. 11 der französischen Erklärung von Menschen- und Bürgerrechten vom 26. August 1789 heißt, „[d]ie freie Mitteilung der Gedanken und Meinungen ist eines der kostbarsten Menschenrechte. Jeder Bürger kann also frei schreiben, reden und drucken [...].“ Dieser Passus verabschiedet die alte Ordnung der Zensur, führt aber im Zusammenhang mit einer völlig neuen Staatsidee zu den damals noch nicht absehbaren Wirkungen des Nationalismus und Kapitalismus als systematisch miteinander verschränkten Mächten: „Das Ziel jeder politischen Vereinigung ist die Erhaltung der natürlichen und unveräußerlichen Menschenrechte. Freiheit, Eigentum, Sicherheit und Widerstand gegen Unterdrückung“ (Art. 2). Die umfassende Kontrolle des Staates durch seine Bürger war ja bereits das fundamentale Anliegen der Verfassungsordnungen der neuenglischen Kolonien und der Erklärung ihrer Unabhängigkeit von der britischen Krone am 4. Juli 1776. Was hier seinen Ausgangspunkt nimmt, ist, wie auch Keller bemerkt, die Gesellschaft der Individuen. Nur dass Keller weder eingeht auf das damit einhergehende Verständnis von Gesellschaft als bloße Resultante eines im Ganzen unkoordinierten Verhaltens einer unübersehbar großen Menge von Menschen, noch auf die notwendigen Bedingungen individueller Bewegungs- und Betätigungsfreiheiten in den konstitutionellen Begrenzungen der Staatstätigkeit. Keller stellt mit seinem Fokus auf Anonymität „die Gesellschaft“ als für sich stehendes Wesenhaftes dar, blendet damit aber damit gerade jene Problematik der Sozialen Frage aus, die im neunzehnten Jahrhundert als Erfahrung eigenwilliger Individuen auf eine Agenda kommt, mit der sich dann sowohl die neue politische Bewegung des Sozialismus wie auch die neuen Sozialwissenschaften auseinandersetzen werden. Wenn ich es richtig sehe, zieht Keller das Problem der Anonymität verkehrt herum auf. In der neuen Ordnung des Kapitalismus ist „Anarchie“ notwendige Bedingung einer Selbstherrschaft gleicher und freier Bürger.
Für die Industriegesellschaft schafft die moderne Staats- und Nationenbildung insofern eine einheitliche Grundlage, als sie über die Lese- und Schreibfähigkeit der Individuen diese mit einem von regional und sozial spezifischen Kontexten befreiten Bildungsstand versieht, der sie in die Lage versetzen soll, sich selbständig auf eine berufliche Tätigkeit vorzubereiten, auf einem nationalen Arbeitsmarkt einen Arbeitsplatz zu finden und unter dem Druck des „Unversorgtheitsrisikos“ (Max Weber) eigenverantwortlich seine wirtschaftliche und soziale Existenz zu organisieren. Für die Industriegesellschaft ist es wesentlich, dass sich ihre als autonome Einheiten gedachten Mitglieder frei bewegen, kommunizieren, informieren und eigene Interessen verfolgen können. Die Interessenkoordination ist unpersönlich und erfolgt über funktionale Rationalitätskriterien. Die zentralen Merkmale dieser Gesellschaft sind tatsächlich Anonymität und Mobilität. Innerhalb der territorialen Grenzen des Nationalstaates kommt dem Raum keine Ordnungsfunktion mehr zu; Zugehörigkeit wie Loyalität sind reversibel, eine Sache rationaler Interessenkalkulation. Die Verteilung der Menschen im Raum genauso wie die personelle Zusammensetzung der Örtlichkeiten verändern sich dauernd. Die Menschen müssen mobil sein; das ist der kategorische Imperativ einer Industriegesellschaft (Gellner, 1995). Die Nation als Entwicklungsraum einer auf eigendynamischen Fortschritt und intensives Wachstum ausgerichteten Wirtschaft stößt allerdings auf die Nation als Kontrollraum eines territorial organisierten Staates. Es ist diese Konstellation, die Namen, Nomenklaturen, Verzeichnissen, Indices und der Statistik ihre Virulenz geben, die Identität der Personen und ihre räumliche Verortung zu einem Ordnungsproblem machen. Hier liegt auch der Grund für den Untertitel des ersten Bandes von Kellers Untersuchung: „Die Beschreibung der Anarchie“. Anonymität sei „ein Konzept, das entwickelt wurde, um Anarchisches zu beschreiben, etwas, das der Ordnung der Namen entronnen ist“ (I, S. 11). Der entscheidende Punkt ist freilich der, dass dieses Anarchische Funktionsbedingung der Industriegesellschaft ist, unaufhebbar auch in ihrer hoch- und spätkapitalistischen Gestalt genauso wie im digitalen Kapitalismus. Sein ursprünglicher Antrieb ist jene spontane Kultur der Freiheit, die Weber in der globalen Expansion des Kapitalismus am Werk sieht und die sich nach den Vorstellungen der Internetpioniere in der neuen Welt des World Wide Web wieder Bahn brechen sollte. Wenn die politische Bedeutung des Anarchischen gewürdigt werden soll, dann müssen allerdings Individuen in den Blick genommen werden, weil es ihr Selbstbewusstsein, ihr Eigenwille, ihr Protest und ihr soziales Handeln ist, der den Lauf der Dinge als Ordnung der Welt durchbrechen kann. Max Webers Mahnung, ausgesprochen zum Scheitern der (bürgerlichen) Russischen Revolution von 1905, verliert seine Geltung nicht, solange der Bürokratismus der Staatsmacht wie der kapitalistischen Betriebe andauert:
„Was jetzt, im Laufe der nächsten Generationen, solange die ökonomische und geistige 'Revolution', die vielgeschmähte 'Anarchie' der Produktion und der ebenso geschmähte 'Subjektivismus' noch ungebrochen bestehen, dem durch sie, und nur durch sie, auf sich selbst gestellten Individuen der breiten Massen nicht als 'unveräußerliche' Persönlichkeits- und Freiheitssphäre gewonnen wird, das wird ihm [...] vielleicht niemals erobert werden [...]“ (Weber, 1906/1980, S. 65 – Hervorh. i. O.).
Keller glaubt, von einem „gesellschaftlichen Begehren“ nach Verrätselung, nach Rätseln ausgehen zu können. Ein Interesse an Rätseln scheinen mir eher gelangweilte Bewohner des Elfenbeinturms zu haben. Soziologie wie Geschichte wollen, wie Weber es ausdrückte, „die Aufhellung der kausalen Bedingtheit der Kulturerscheinungen (im weitesten Sinn des Wortes)“ (Weber, 1903–1906/1982, S. 18). „Entzauberung“, also Verwissenschaftlichung und Intellektualisierung der Lebensverhältnisse, ist bekanntlich für Weber das entscheidende Merkmal der modernen Zeit, und entsprechend sieht er ein „Kausalbedürfnis“, das nach Befriedigung sucht. Dieses Kausalbedürfnis steht nicht für sich, und ist auch nicht allein Sache der Wissenschaften. Jene Komplexität der modernen Gesellschaft, die bei den Menschen dieser Gesellschaft den Eindruck der Konfrontation mit einer genauso undurchdringlichen wie übermächtigen Gewalt erweckt, fordert nicht nur von allen ihren Mitgliedern die Anstrengung einer Intellektualisierung, sondern leitet diese in eine ganz bestimmte Richtung. „Unser kausales Bedürfnis“, so Weber, verweise uns deshalb auf allein individuelles Handeln, weil nur dieses als sinnvoll deutbar sei. „Unser kausales Bedürfnis [...] verlangt [...], dass da, wo die Möglichkeit der 'Deutung' prinzipiell vorliegt, sie vollzogen werde [...]. Wir verlangen die Interpretation auf den 'Sinn' des Handelns hin.“ Soziologie und Geschichte sind für Weber „subjektivierende“ Wissenschaften (Weber, 1903–1906/1982, S. 67, S. 69, S. 71 – Hervorh. i. O.). Was Keller als regelmäßige gesellschaftliche Reaktion auf die Beschwörung anonymer Mächte beschreibt, sei es in Gestalt anonymer subversiver und häretischer Schriften, dem Verschwinden des Kapitals in der anonymen Konstruktion juristischer Personen oder der kybernetischen Steuerung des Verhaltens der Menschen im digitalen Zeitalter, immer sind es Verschwörungstheorien, in deren Zentrum die Identifizierung konkreter Individuen mit präzise bestimmbaren (unguten) Absichten stehen. Dieses übergreifende Moment zeigt sich in Kellers ausführlicher Beschreibung des berüchtigten Traktats über die drei Betrüger (i. e. Moses, Jesus und Mohammed als Religionsgründer) und des Mythos der die französische Wirtschaft beherrschenden „zweihundert Familien“, aber auch in seiner Diskussion der Publikation der Namen der Mitglieder der die Chicagoer Stadtgesellschaft bestimmenden Bewohner des Gold Coast getauften exklusiven Viertels. Was in diesen Diskursen gegen den Willen Kellers aufscheint, ist die sehr viel größere Popularität und Attraktivität einer ganz anders gelagerten „Soziologie“ als Kellers anonymer Konstruktivismus und Strukturalismus. Was sich in Verschwörungstheorien, dem Fingieren „alternativer Fakten“ oder des die letzte Wahrheit enthüllenden „Querdenkens“ in Internetforen zeigt, scheint mir ein von akademischer Soziologie nicht ausreichend befriedigtes „Kausalbedürfnis“ zu sein, das seinen Grund in der Zuschreibung von Verantwortung findet. Verstehen und Verantwortung gibt es allerdings allein für Individuen. Den Fluchtpunkt der Thematisierungen der Anonymität in der Massengesellschaft, in den digitalen Kommunikationsräumen und im Kapitalismus, der Kritik der anonymen Mechanismen der Märkte und gesellschaftlicher Anpassung und Auslese, den sehe ich in einem Begriff der Verantwortung, der dem soziologischen Strukturalismus fremd bleiben muss. So steht die von Keller näher untersuchte Société Anonyme für eine allgemeine Problematik des modernen Kapitalismus. Mit der Fiktion der haftungsbegrenzenden juristischen Person verschwindet die persönliche Verantwortung für das wirtschaftliche Handeln der Akteure. Weber hat an verschiedenen Stellen seiner Soziologie das wesentlich Unpersönliche der Marktbeziehungen und Tauschverhältnisse hervorgehoben, ihren anethischen Charakter. Das Problem wurde früh erkannt. Edward, First Baron Thurlow (1731-1806), englischer Jurist und Schatzkanzler mehrerer Regierungen, gab ihm die folgende Fassung: „Did you ever expect a corporation to have a conscience, when it has no soul to be damned, and no body to be kicked?“ (Coffee, 1981, S. 386). Die anonymen Mächte, die in der Kulturkritik der Soziologie genauso wie in der literarischen Zeitdiagnostik beschworen wurden, sind ja in erster Linie unpersönliche Mächte. Es sind die die Menschen überwältigenden Ergebnisse der Kulturdifferenzierungen der Staats- und Nationenbildungen und der gesellschaftlichen Differenzierung von Handlungsfeldern mit je eigenen Rationalitätskriterien, die Weber zu seinem berühmten Bild geführt haben: „Die alten vielen Götter, entzaubert und daher in Gestalt unpersönlicher Mächte, entsteigen ihren Gräbern, streben nach Gewalt über unser Leben und beginnen untereinander wieder ihren ewigen Kampf“ (Weber, 1919/1982, S. 605).
Aber auch für Keller dürfte gelten, dass er mit Anonymität und Gesellschaft eine breitere Öffentlichkeit jenseits der Fachwissenschaft erreichen will. Immerhin ist die digitale Ausgabe der zwei Bände in Open Access publiziert. Aber diese öffentliche Soziologie bleibt unterschwellig. Keller scheint auf jenen von Bourdieu eingeführten „Theorie-Effekt“ zu hoffen, „bei dem die Beschreibung der Welt die Welt selbst zu verändern beginnt“ (zit. nach I, S. 83). Was hier bei Keller ansatzweise zum Ausdruck kommt ist etwas, was bei Weber „Wertbeziehung“ heißt: der für die Fragestellung einer wissenschaftlichen Arbeit konstitutive Bezug zu einer für die eigene Person verbindlichen Wertidee. Für Weber ist das Bewusstmachen der Wertbeziehung wesentlicher Teil der Verpflichtung auf intellektuelle Redlichkeit. Diese Verpflichtung erstreckt sich auch auf den Umgang mit den Ergebnissen wissenschaftlicher Arbeit. Weber stellt den Wissenschaftslehrer – „wenn er seine Sache versteht“ – in den „Dienst 'sittlicher' Mächte: [die] Pflicht, Klarheit und Verantwortungsgefühl zu schaffen“. Weber glaubt sogar sagen zu können, der Wissenschaftslehrer könne „den Einzelnen nötigen, oder wenigstes ihm dabei helfen, sich selbst Rechenschaft zu geben über den letzten Sinn seines eigenen Tuns“ (1919/1982, S. 608). Wissenschaft steht damit „im Dienst der Selbstbesinnung und der Erkenntnis tatsächlicher Zusammenhänge [...]“ (Weber, 1918/1982, S. 609). Tatsachenerkenntnis und Selbstbesinnung sind allerdings kein Selbstzweck. Ganz im Gegenteil. Für Weber „steht empirisch absolut fest, dass die Fähigkeit des Menschen, sein Verhalten zum Gegenstand bewusster Erwägung zu machen, die allererheblichste Tragweite für die Art seines Verhaltens hat“ (Weber, 1922/1982, S. 364).
Dass Keller der ausführlichen Diskussion der Identifizierungspraktiken der französischen Polizei im neunzehnten Jahrhundert, wo auch mit der Markierung der Verbrecher über Tätowierungen experimentiert wurde, nicht auf die Praxis im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau zu sprechen kommt, die Häftlingsnummer auf den Unterarm zu tätowieren (und Säuglingen auf den Oberschenkel), zeigt die Grenzen eines sprachphilosophischen Ansatzes in der Soziologie, der die notwendig subjektive Wertbeziehung wissenschaftlicher Arbeit für eine im eigentlichen Sinn des Wortes wertlose objektive Erkenntnis aufgeben zu müssen glaubt. Als der polnisch-französische Komponist Szymon Laks, der Auschwitz überlebte, seine Nummer tätowiert bekommt, erinnert dieser sich sogleich an die Tätowierung von Jean Valjean in Victor Hugos Die Elenden (Laks, 1998, S. 25). Das allgemeine Verfahren des nationalsozialistischen Regimes, in den Stammlagern jedem neuen Häftling eine Nummer zuzuweisen, die auf der Kleidung anzubringen war und unter der man sich zu melden hatte, diente ja gerade dazu, den Eigennamen als Repräsentation einer Identität auszuschalten. Mit der Nummer wurde man zu einem bloßen Objekt in einem für die Zwecke der Massentötung organisierten Funktionssystem. Keller befasst sich mit den erkenntnislogischen Paradoxien der Benennung, Markierung, Verortung und Codierung. Die so oft furchtbaren Folgen des staatlichen Ordnens, Markierens und Aussonderns bleiben außen vor. Nur ganz am Schluss kommt Keller dann doch noch zu einer Aussage, die sich als Bewertung der gesellschaftlichen Kennzeichnungs- und Ordnungsmacht verstehen lässt: Angesichts der „totalisierenden Gesellschaft [...] ginge [es] um das durchweg utopische Projekt [...], den eigenen Namen als souveränes Gebiet zu erklären, die Verfügungsgewalt über seine Verwendung wo immer möglich zu übernehmen, zu befestigen“ (II, S. 538). Damit knüpft er an das zentrale Anliegen Webers an, ein Anliegen, das sich auch Jaspers und Arendt zu eigen machten: durch das reflektierte Handeln jenes bloß reagierende, anpassende Sichverhalten, das den anonymen Mächten und unpersönlichen Verhältnissen unterliegt und sie am Laufen hält, zu unterbrechen. Der Lauf der Dinge muss nicht die Ordnung der Welt sein.
Literatur
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