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Tafelläden gegen Ernährungsunsicherheit?

Hanna Augustin, Ernährung, Stadt und soziale Ungleichheit: Barrieren und Chancen für den Zugang zu Lebensmitteln in deutschen Städten. Bielefeld: transcript 2020, 272 S., kt., 40,00 € Holger Schoneville, Armut, Ausgrenzung und die Neugestaltung des Sozialen: Die Lebensmittelausgaben der ‚Tafeln‘ in Deutschland. Wiesbaden: Springer Fachmedien 2024, 250 S., kt., 69,99 €
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Veröffentlicht/Copyright: 23. Mai 2025
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Hanna Augustin, Ernährung, Stadt und soziale Ungleichheit: Barrieren und Chancen für den Zugang zu Lebensmitteln in deutschen Städten. Bielefeld: transcript 2020, 272 S., kt., 40,00 €

Holger Schoneville, Armut, Ausgrenzung und die Neugestaltung des Sozialen: Die Lebensmittelausgaben der ‚Tafeln‘ in Deutschland. Wiesbaden: Springer Fachmedien 2024, 250 S., kt., 69,99 €


In der öffentlichen Thematisierung von Armutsphänomenen überwiegen vor allem Aspekte wie fehlende Vermögensbildung, Bildungsbenachteiligung, Gesundheitsrisiken und verringerte Lebenserwartung, sowie begrenzte soziale Teilhabechancen von Kindern aus prekarisierten Familienverhältnissen (Bundesregierung, 2021). Der Zugang zu einer adäquaten Versorgung mit gesunden Lebensmitteln bzw. eine kritische Perspektive auf Ernährungsunsicherheit oder gar Lebensmittelknappheit und Hunger findet hingegen kaum Aufmerksamkeit in den Armuts- und Reichtumsberichten der Bundesregierung. Gleichwohl dürften die Versorgungsknappheiten mit ausgewählten Gütern und Lebensmitteln am Beginn der CoVid-19-Pandemie (2020-2022) sowie am Anfang des Ukraine-Krieges (2022) das Thema breiten Gesellschaftsschichten ins Bewusstsein gerufen haben. Allerdings verträgt sich das in der Öffentlichkeit nach wie vor kolportierte Selbstbild einer „Wohlstandsgesellschaft“ nicht mit der Vorstellung einer wachsenden Anzahl von Menschen, die zunehmend häufiger vor dem Ende eines Monats ihre Lebensmittelausgaben reduzieren müssen oder gar auf die Versorgung durch Lebensmitteltafeln angewiesen sind. Letztere standen bereits vor zehn Jahren durch die kritischen Analysen von Stefan Selke im Fokus einer kontroversen Diskussion um die Etablierung einer neoliberalen „Armutsökonomie“ (Selke, 2011, 2016). Allerdings scheinen heute, in dem Maße wie der Siegeszug des aktivierungsstaatlichen Menschenbildes bei inflationsbedingt wachsenden Ungleichverteilungen sozialer Teilhabechancen voranschreitet, die Einwände gegen eine Verdrängung sozialstaatlicher Dienste durch ehrenamtliche Mildtätigkeitsangebote wieder zu verstummen.

Die beiden hier zu besprechenden Dissertationen widmen sich aus unterschiedlichen Perspektiven dem skizzierten Spannungsfeld von sozial bedingten Unsicherheiten beim Zugang zu einer angemessenen Versorgung mit Lebensmitteln in deutschen Großstädten sowie den Auswirkungen von Lebenslagen, die von Ernährungsunsicherheit geprägt sind, auf die Biografien und Selbstdeutungen der Subjekte. Hierbei wird in Anschluss an die Arbeiten von Selke (2011) auch die Rolle der Tafelangebote erneut einer kritischen Einordnung vor dem Hintergrund empirischer Feldforschungsdaten unterzogen. Während dies in Hanna Augustins sozialgeografischer Studie zu „Barrieren und Chancen für den Zugang zu Lebensmitteln in deutschen Städten“ am Beispiel der Bremer Stadtteile Vahr und Gröpelingen nur einen Teilaspekt darstellt, stehen die Biografien der Nutzer:innen von Lebensmitteltafeln in der Studie des Soziologen Holger Schoneville im Zentrum qualitativer Interviewforschung.

Letztlich verhalten sich beide Studien in methodischer Hinsicht komplementär zueinander: Während der sozialgeografische Ansatz von Augustin stärker auf Makrostrukturen von Stadtplanung, Verkehrswegegestaltung und Standortentscheidungen der Lebensmittelversorger im Quartier als Strukturbedingungen für ge- und misslingende Zugänge zu angemessener Ernährung aller Einwohner:innen abstellt, fokussiert Schoneville konsequent auf die Biografien von Tafelnutzer:innen als einer spezifischen von Ernährungsunsicherheit betroffenen Einwohner:innengruppe.

Holger Schoneville kommt aus der Sozialen Arbeit und hat seit Sommer 2024 eine Professur für Theorie und Methoden der Sozialen Arbeit an der Universität Duisburg-Essen inne. Seine qualitativen Forschungen knüpfen unter anderem an die Vorarbeiten Selkes zur Tafelbewegung an und erweitern deren Fokus einerseits theoretisch durch eine Vertiefung der Kritik an einer „neuen Mitleidsökonomie“ (Schoneville, S. 10) und andererseits durch einen empirischen Fokus auf die Auswirkungen der Inanspruchnahme „mitleidsökonomischer“ Mildtätigkeitsangebote auf deren Nutzer:innen. In diesem theoretischen Rahmen ist „die Hilfebeziehung (...) nicht durch ein Rechtsverhältnis, wie innerhalb sozialstaatlicher Hilfebeziehungen; nicht durch eine reziproke Beziehung oder Liebe, wie in privaten Konstellationen; und auch nicht durch eine klassische Form des Tauschs von Waren gegen Geld, wie innerhalb der Konsumsphäre geprägt. Vielmehr besteht die Beziehungskonstellation in der Abhängigkeit der Nutzer:innen von der Mildtätigkeit anderer“ (Schoneville, S. 15). In der Studie werden nun – im Anschluss anerkennungstheoretischer Subjekttheorien nach Honneth (2003) und Neckel (1992) die Effekte von (Selbst-)Exklusion durch Scham bzw. Beschämung (Schoneville, S. 70) und Stadien einer Unterminierung des Selbstwertgefühls in den biografischen Selbstdeutungen der Nutzer:innen typologisierend herausgearbeitet.

Die Expansion des Systems der Tafelläden wird dabei – ähnlich wie bei Selke – als Indikator für einen tiefgreifenden gesellschaftlichen Transformationsprozess der „(...) gesellschaftlichen Institutionen des wohlfahrtsstaatlichen Arrangements“ verstanden. Durch diese Transformation des Sozialstaats sei „(...) auch das Beziehungsgefüge – das Soziale Band – zwischen den Individuen einer massiven Veränderung unterworfen“ (Schoneville, S. 5). Theoretisch informiert ist dieser beziehungsfokussierte Ansatz u. a. durch Georg Simmels Aufsatz „Der Arme“ aus dem Jahre 1906 (Simmel, 2019), in dem die Lebenslage armer Menschen nicht allein durch materielle Minderausstattung, sondern vor allem durch deren relationale Einbindung in spezifische Interaktionsgeflechte bzw. gesellschaftliche Sonderwelten durch Hilfsangebote etc. angedacht wurde (Schoneville, S. 6).

Schonevilles Dissertationsschrift von 2016 basiert auf einer inhaltsanalytischen Auswertung von zehn narrativ-biografischen Interviews von Tafelnutzer:innen sowie teilnehmenden Beobachtungen im Kontext der Lebensmittelausgaben von Tafeln in zwei unterschiedlichen Städten (Schoneville, S. 82). Im Ergebnis erkennt der Autor drei unterschiedliche Typen von Nutzer:innenbiografien, die mit jeweils spezifischen Bewältigungsmustern und Selbstkonzepten verbunden sind. Er unterscheidet dabei einen Typus, der durch den „Kampf gegen den Abstieg“ (Schoneville, S. 90) geprägt ist, von einem weiteren, der demgegenüber als „Lebensgestaltung im Widerspruch“ (Schoneville, S. 134) beschrieben wird. Ein dritter Biografietyp wird durch einen Einzelfall mit „Ausgrenzung und (...) Verlust von Kontrolle über das eigene Leben“ (Schoneville, S. 200) gekennzeichnet.

Dabei unterscheiden sich die drei Typen vor allem im Hinblick auf den zugeschriebenen Stellenwert der eigenen Erwerbsbiografie der Befragten vor dem Hintergrund aktueller Bedürftigkeitswahrnehmung im Kontext der Tafelnutzung. Während vom ersten Typ die Nutzung als vorübergehende und bewältigbare soziale Abstiegserfahrung angesehen wird und von einer künftigen Wiederanknüpfung an eine erfolgreiche Erwerbsbiografie ausgegangen wird, fehlt aus alters- und/oder Gesundheitsgründen eine entsprechende Perspektive bei Typus zwei. Der dritte Typus bezieht sich aufgrund tiefgreifender psychischer Problemlagen nicht (mehr) positiv auf ein mit Erwerbsarbeit verbundenes Selbstkonzept. Gleichwohl ist in allen Interviews die Omnipräsenz einer normativen Orientierung an einer, zentral durch Erwerbsarbeit bestimmten, „Normalbiografie“ aufzuweisen. Ebenso lassen sich in allen Interviews – mit dezidierten Abstufungen – die von Schoneville als bedeutsam markierten Scham- und Beschämungserfahrungen aufzeigen, die im Kern auf der subjektiven Wahrnehmung einer Abweichung vom Konstrukt dieser „Normalbiografie“ beruhen und sich in der Reaktion des sozialen Umfelds der Befragten auf deren Tafelnutzung ebenso spiegeln. Soziale Kontaktabbrüche und Selbstisolation als Copingstrategien ziehen sich dezidiert durch fast alle Fallbeschreibungen.

An diesem Punkt kommt auch die soziale Dimension von Essen als kommunikativer Praxis zum Tragen, die ebenso in der sozialgeografischen Feldstudie von Hanna Augustin relevant ist (Augustin, S. 74): Das gemeinsame Kochen oder Essen-Gehen, d. h. Restaurantbesuche oder auch die finanzielle Möglichkeit, soziale Kontakte durch Einladungen zum Essen pflegen zu können, ist in den beforschten sozialen Milieus beider Studien stark eingeschränkt bis typischerweise unmöglich. Im methodologischen Spektrum deutlich breiter angelegt als die Interviewstudie von HolgerSchoneville untersucht Hanna Augustin Fragestellungen im Spannungsfeld von Gesundheit, Teilhabe und Stadtentwicklung (Augustin, S. 15). Die theoretische Rahmung wird dabei über Intersektionalitätsansätze zur Erklärung spezifischer Formen von Ernährungsunsicherheiten vorgenommen. Als Ernährungsunsicherheit operationalisiert die Autorin im Anschluss an eine Definition der UNO eine „Situation, in der ein Haushalt nicht über ausreichende finanzielle Ressourcen verfügt, um sich jederzeit mit genug Nahrungsmitteln für ein aktives und gesundes Leben zu versorgen“ (Augustin, S. 23). Die Forschungsfrage lautet dabei: „Wie sind vor dem Hintergrund, dass Ernährung und Einkauf für gesellschaftliche Teilhabe bedeutsam sind, die physisch-räumliche und sozio-ökonomische Erreichbarkeit von Lebensmitteln in benachteiligten Stadtteilen zu bewerten?“ (Augustin, S. 16). Die komplexe Fragestellung wird in sechs spezifischeren Teilfragen untersucht, zu deren Beantwortung geografische mit sozialwissenschaftlichen Forschungsansätzen kombiniert werden. Wie bereits Holger Schoneville wählte Hanna Augustin ebenfalls eine teilnehmende Beobachtung im Rahmen einer Mitarbeit der Forschenden an der Ausgabestelle einer Bremer Tafel als Einstieg ins Feld. Die in Ich-Form präsentierten Beobachtungsdaten (Augustin, S. 200–210) werden von Augustin zur Entwicklung eines groben Analyserasters für Einschränkungen der Erreichbarkeit von Lebensmitteln in diesem Kontext genutzt. Die Kartierung sämtlicher Lebensmittel anbietender Geschäfte nach Angeboten, Preisen und Erreichbarkeit in den untersuchten Bremer Stadtteilen Vahr und Gröpelingen dokumentiert die räumlich-objektivierbaren Gelegenheitsstrukturen für den Lebensmittelzugang. Die Auswahl der beiden Erhebungsgebiete wird sozialstatistisch ausführlich durch ihre Klassifizierung als „typische Wohngebiete benachteiligter Bevölkerungsgruppen“ (Augustin, S. 119–130) begründet. Eine quantitative Befragung der Einwohner:innen liefert Daten zum Nutzungsverhalten in Bezug auf die Angebotsstruktur sowie zu subjektiven Wahrnehmungen von Einschränkungen des Zugangs. Ergänzt wurden die Ergebnisse dieser Befragung durch qualitative Interviews mit Expert:innen aus der lokalen Sozial- und Quartiersarbeit, des Bildungsbereichs und des Einzelhandels. Ergänzt wurden die Informationen durch sozioökonomische Kenndaten der Untersuchungsgebiete. Aus Perspektive der Sozialarbeitswissenschaft ähnelt der Forschungsansatz einer auf das Thema „Zugänglichkeit der Lebensmittelversorgung“ fokussierten Sozialraumanalyse in zwei sozial herausgeforderten Quartieren der Stadt Bremen.

Dem gewählten Theorierahmen intersektioneller Benachteilungsforschung inhärent ist die differenzierte Analyse von multiplen, wechselseitig miteinander verschränkten Diskriminierungseffekten für spezifische Menschengruppen bzw. Träger:innen spezifischer zugeschriebener Eigenschaften in je spezifischen Lebenslagen. Während die physisch-räumliche „Angebotsseite“ von Erwerbsorten für Lebensmittel im Stadtteil zunächst für jeden Bewohner und jede Bewohnerin vergleichbar gegeben erscheint, sind es die subjektiven Zugangswege zweifelsfrei weniger.

Die stadtgeografischen Analysen Augustins kommen zunächst zum Ergebnis, dass in beiden untersuchten Quartieren die Versorgungslage „relativ gut“ eingeschätzt wird (Augustin, S. 155) und die Grundversorgung gesichert ist. Insbesondere wird der vielfältigen Esskultur der Bewohner:innen, die Autorin spricht hier von Landesküchen bzw. ethnischer Esskultur, angebotsseitig durchaus Rechnung getragen (Augustin, S. 156). Einschränkungen beim Zugang zu Lebensmitteln zeigten sich für bestimmte Personengruppen im Hinblick auf die Dauer der Wege zum Lebensmittelkauf, Hindernisse auf diesem Weg und persönliche Mobilitätseinschränkungen. Für über 50 % der Befragten seien die Wege zum Lebensmitteleinkauf vom Wohnhaus länger als zehn Minuten, was als fußläufig „schlecht erreichbar“ zu werten sei (Augustin, S. 173). Augustin leitet aus den Daten der Einwohner:innenbefragung ab, dass insbesondere Menschen, die sich im Lebensmitteleinkauf an der deutschen Küche orientierten sowie eine Sozialisation in Deutschland und eine Mobilitätseinschränkung aufwiesen, von Einschränkungen betroffen seien (Augustin, S. 166). Bewohner:innen mit Migrationshintergrund und Orientierung an „nicht-deutscher“ Küche haben in den beforschten Stadtteilen hingegen überwiegend kürzere Wege und ein breiteres Angebotsspektrum, da sie häufiger auf entsprechende kleine Lebensmittelläden arabischer und türkischer Inhaber zurückgreifen können. Eine deutliche Einschränkung der Auswahl von Lebensmitteln wird hingegen in Bezug auf die Bewertung der Lebensmittelqualität vorgefunden. Etwa 50 % der Befragten waren diesbezüglich nicht uneingeschränkt zufrieden (Augustin, S. 175). Immerhin 83 % der Befragten waren im Erhebungszeitraum (2016) zufrieden mit den Lebensmittelpreisen im Stadtteil und 17 % gaben an, sich aus finanziellen Gründen beim Einkauf einschränken zu müssen. Allerdings konnten diesbezüglich auch stadtteilspezifisch deutlich Unterschiede festgestellt werden: Während im Stadtteil Vahr 94 % der Befragten sich alle benötigten Lebensmittel leisten zu können angaben, waren dies im Stadtteil Gröpelingen nur 70 % (bei einem Umfang der Gesamtstichprobe von N=117; S. 182).

Um die Perspektiven der Studien von Schoneville und Augustin zusammenzuführen bietet sich als Schnittmenge die jeweils fokussierte Rolle der Lebensmitteltafeln als zeitgenössische Antwort auf Phänomene der Ernährungsarmut an.

Ebenso wie Schoneville, der im Anschluss an Selke (2011) auf die vielfältigen (gleichwohl von den Betreibern nicht intendierten) Benachteilungseffekte der Tafelnutzungen hinweist und darin einen Beleg für die Erosion sozialstaatlicher Rechtsansprüche der Bürgerinnen und Bürger erblickt, thematisiert auch Augustin die strukturelle Fokussierung der Tafeln auf die Verteilung eines durch sie kaum kontrollierbaren Lebensmittelaufkommens unter notwendig nachrangiger Berücksichtigung der Ernährungsbedürfnisse der Nutzer:innen (Augustin, S. 200 – 204). In beiden Studien wird kritisch auf die Reglementierung und Kontrolle der „Bedürftigen“ durch die Ehrenamtlichen hingewiesen, die sich in vielfältigen Regularien von der Feststellung des Nutzungsanspruchs über die Einhaltungspflicht von Terminen zur Lebensmittelverteilung zu limitierten Öffnungszeiten und vielfältigen Sanktionen bis hin zum Entzug der Nutzungserlaubnis (mithin: der Verweigerung von Lebensmitteln) bei Missachtung der Regeln, niederschlagen. Es wird dabei deutlich, dass die Idee einer freien persönlichen Wahlentscheidung beim Lebensmittelzugang, die als Grundlage der von den Tafeln behaupteten „Wahrung der Würde“ der Nutzer:innen anzusehen wäre, im Rahmen des vorhandenen Settings kaum zu realisieren ist. „Auch die Auswahl der Lebensmittel durch die Nutzer:innen erinnert nicht an einen Bummel durch ein Geschäft. Um in zwei Stunden Milchprodukte, Gemüse, Obst, Backwaren und haltbare Lebensmittel an 150 Menschen auszugeben, ist eine sehr effiziente Vorgehensweise nötig. Nach Aufruf werden die Nutzer:innen an den in einer bestimmten Reihenfolge aufgebauten Lebensmittelstationen vorbei geschleust (sic!). Was den Ablauf aufhält, ungeschicktes Einpacken der Waren oder die eingehende Prüfung von Lebensmitteln, ist ungern gesehen.“ (Augustin, S. 203). Lediglich 25 % der Nutzer:innen von Tafeln bewerteten in der Befragung von Augustin die Qualität der Waren als „sehr gut“ (Augustin, S. 204) und auch die Wege zu den Tafeln sind in den Quartieren im Mittel doppelt so lang wie die zu kommerziellen Lebensmittelgeschäften. Sie werden notwendigerweise mit dem ÖPNV zurückgelegt. Ebenso wie Schoneville konstatiert Augustin das Risiko der Nutzer:innen, ihren Status als Bürger:innen zu verlieren und die nichtintendierte Wirkung der Tafeln, soziale Exklusion letztlich zu zementieren. Insbesondere die gesellschaftliche Teilhabefunktion wird in einer reinen „Mitleidsökonomie“ gerade nicht realisiert. Folglich wählen die interviewten Betroffenen in der Studie von Schoneville auch vielfältige Strategien des Umgangs mit der eigenen Beschämung durch ihren Status als Tafelnutzer:innen. Vor dem Hintergrund der sozialwissenschaftlichen Befunde sind evident Fragestellungen sozialphilosophischer bzw. gerechtigkeitstheoretischer Ausrichtung zu formulieren. Es ist beispielsweise zu fragen, inwiefern es menschenrechtlich akzeptabel oder „gerecht“ anzusehen ist, wenn Menschen, die aus persönlichen, gesundheitlichen und/oder arbeitsmarktlichen Gründen aus der Erwerbsarbeit herausfallen und auf Lebensmittelspenden angewiesen sind, sich Beschämungen aussetzen oder auch mit evident minderwertigen Waren auf Zuteilung zufriedengeben müssen. Der Abbau sozialstaatlich garantierter (Pflicht-)Leistungen bzw. die Verlagerung der „Armenfürsorge“ in den privaten Bereich liefert vulnerable Personengruppen der Beschädigung ihrer Würde aus. Der Umstand, dass der empirische Horizont der Datenerhebung beider Arbeiten grob in den Jahren 2016–17 zu verorten ist, weist darauf hin, dass im Anschluss an die, eingangs dieser Besprechung angeführten, jüngeren Krisenerfahrungen eine aktuelle Revision des Themas Ernährungsarmut geboten erscheint. Hier erweist sich Soziologie abermals als eine Wissenschaft, die in ihrer Reflexionsleistung notorisch „zu spät“ kommt, da die von ihr untersuchten Transformationsprozesse das Gesellschaftliche „unter der Hand“ ja permanent neu formatieren.

Während die theoretischen Grundlagen beider Studien in ihrer Anschlussfähigkeit insgesamt überzeugen, wäre im Hinblick auf mögliche methodisch-kritische Einwände gegenüber der Arbeit von Schoneville auf die – aus der Ferne gesehen – optimierungsfähige Samplingstrategie für die Interviews einzugehen. Der Autor weist zwar darauf hin, dass methodologisch bedingt keine repräsentative bzw. erschöpfende Typologie der Tafelnutzer:innen erstellt werden könne. Dennoch wäre anzufragen, ob nicht eine bewusst(er) auf Fallkonstrastierung angelegte Proband:innenauswahl hier eine differenziertere Typologie des Feldes hätte ermöglichen können. Insbesondere die am Ende der Arbeit erwähnten Nennungen von – aus Sicht der Interviewten – „missbräuchlichen“ Nutzungen der Tafeln durch u. a. Menschen mit Fluchthintergrund (Schoneville, S. 232) deuten darauf hin, dass hier wenigstens eine relevante Gruppe nicht im Sample enthalten war. Etwas unterbelichtet bleibt auch der Einfluss der unterschiedlichen Positionen der Interviewten im Hinblick auf ihre eigene Rolle im „Tafel-System“: Beiläufig wird erwähnt, dass mindestens zwei Interviewpartner als ehemalige Nutzer:innen auch als Ehrenamtliche eine aktive (machtvollere) Rolle in der Lebensmittelverteilung übernehmen, was wiederum mit veränderten Perspektiven auf die „einfachen“ Nutzer:innen einhergeht. Dieser Komplex, der dem zentralen „Beschämungs-Thema“ etwas entgegenläuft (nämlich Anerkennungsgewinne innerhalb des Tafelsystems), wurde leider nicht weiter entfaltet.

Die Studie von Augustin wirkt in ihrer Fragestellung und deren methodischer Umsetzung komplex kompiliert: Die sozialgeografischen Analysen zu den Lebensmittelangeboten in zwei Bremer Quartieren sind überaus (zeit-)aufwändig und gründlich umgesetzt, liefern aber vergleichsweise wenig Ertrag im Hinblick auf den Intersektionalitätsfokus, der an das Gesamtprojekt wiederum etwas herangetragen wirkt.

Zur Untersuchung der Wirksamkeit raumstruktureller Einflussfaktoren auf Versorgungsunsicherheiten bzw. Zugangsproblemen zu Lebensmitteln erscheint dem Rezensenten der Vergleich möglichst unterschiedlicher Quartiere (d. h. eine Kontrastierung besonders wohlhabender mit benachteiligten Stadtteilen Bremens) instruktiver als der Vergleich zweier Armutsquartiere. Eine andere – ebenso interessante – Option wäre noch die Kontrastierung der Befunde Augustins zur Erreichbarkeit von Lebensmitteln für unterschiedlich mobile Menschen zwischen großstädtischen und ländlichen Quartieren.

Für eine empirische Untersuchung manifester Zugangsprobleme zu Lebensmitteln bei Menschen spezifischer (intersektionaler) Lebenslagen wäre ein rein qualitatives Design mit merkmalskontrastierender Auswahl von Proband:innen nach Strukturvariablen der Quartiersbewohnerschaft sowie nach Ernährungspräferenzen möglicherweise ertragreicher gewesen als die gewählte quantitative Stichprobe mit relativ geringem Umfang von N=171.

Der Status von Aussagen lokaler Expert:innen über die Ernährungsunsicherheiten Dritter (fallkontrastierender Bewohner:innen) könnte klarer eingeordnet werden.

Gleichwohl ist die plausible Verbindung unterschiedlicher Datenerhebungsverfahren bei Hanna Augustin der Komplexität des Gegenstandes bzw. der Fragestellung angemessen und kann als methodische Inspirationsquelle für Sozialraumanalysen funktionieren. Ebenso innovativ und ertragreich ist der Ansatz von Schoneville zu bewerten, einmal konsequent die Perspektiven der Nutzer:innen von Tafelangeboten in den Fokus der Forschung zu nehmen. Insbesondere die forschungsethisch sensible Umsetzung des Themas mit einer hoch vulnerablen Gruppe ist an dieser Studie als vorbildhaft hervorzuheben. Beiden Studien gemeinsam ist, dass sie als erhellende Beiträge zur Armutsforschung in unserer vermeintlichen Wohlstandsgesellschaft ein klares Licht auf Spaltungsprozesse „fast ganz unten“ in der Gesellschaftshierarchie werfen. Denn die Abkehr vom sozialstaatlichen Bürgerlichkeitskonzept mit seiner Vorstellung einer Gemeinschaft von Bürgerinnen und Bürgern, die für unverschuldete persönliche Notlagen kollektive Vorsorge treffen und sich gegenseitig einklagbare Rechtsansprüche für staatliche Hilfeleistungen einräumen, wird an der Expansion der Mitleidsökonomie der „Tafeln“ evident. In der Konsequenz wird die/der mündige Bürger:in erneut zur/zum mittelalterlichen Almosenempfänger:in degradiert, die/der mittellos der Mildtätigkeit bzw. der Willkür ihrer bzw. seiner Zuwendungsgeber:innen ausgeliefert ist und ihnen mithin nicht mehr als Bürger:in auf Augenhöhe gegenüberzutreten vermag. Die Studien zum Thema großstädtischer Ernährungsunsicherheit und der Rolle der Tafelläden von Holger Schoneville und Hanna Augustin dürfen daher als wichtige empirisch-kritische Beiträge zum Verständnis sozialer Spaltungsprozesse in unserer Gegenwartsgesellschaft gelesen werden.

Literatur

Bundesregierung. (2021). Lebenslagen in Deutschland: Der sechste Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. https://www.armuts-und-reichtumsbericht.de/DE/Bericht/Bisherige-Berichte/Der-sechste-Bericht/Der-Bericht/der-bericht.htmlSuche in Google Scholar

Honneth, A. (2003). Kampf um Anerkennung: Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte (Erw. Sonderausg.) Suhrkamp.Suche in Google Scholar

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Selke, S. (2013). Tafeln in Deutschland: Eine kritische Bestandsaufnahme zum 20-jährigen Bestehen. Soziale Sicherheit, 62(5), 165–173.Suche in Google Scholar

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Simmel, G. (2019). Der Arme. Mit einem Vorwort von Eva Barlösius. MIMESIS Verlag.Suche in Google Scholar

Online erschienen: 2025-05-23
Erschienen im Druck: 2025-05-23

© 2025 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

Artikel in diesem Heft

  1. Frontmatter
  2. Frontmatter
  3. Editorial
  4. Symposium
  5. Theorie oder Therapie? Wie die prekäre Beziehung von Rechtssoziologie und Rechtstheorie zu verbessern ist
  6. Recht als Gegenstand, Disziplin oder Praxis?
  7. Zukunftsfähigkeit der Rechtssoziologie
  8. Essay
  9. Alles schlecht von Marrakesch bis Bagdad? Über den Sinn von Jugendstudien über eine ganze „Region“
  10. Themenessay
  11. Künstliche Intelligenz und gesellschaftliche Machtverhältnisse
  12. Sammelbesprechung
  13. Aktuelle Fragestellungen der Mediensoziologie
  14. Doppelbesprechung
  15. Tafelläden gegen Ernährungsunsicherheit?
  16. Einzelbesprechung Alter(n) und Gesellschaft
  17. Vera Miesen, Engagement und Habitus im Alter: Milieuspezifische Engagementtätigkeit im sozialen Nahraum. Bielefeld: transcript 2022, 270 S., kt., 44,00 €
  18. Einzelbesprechung Daten, Algorithmen und Digitaler Kapitalismus
  19. Markus Unternährer, Momente der Datafizierung: Zur Produktionsweise von Personendaten in der Datenökonomie. Bielefeld: transcript 2024, 258 S., kt., 39,00 €
  20. Einzelbesprechung Kreativitätsforschung
  21. Konstantin Hondros, Liminale Kreativität: Praktiken kleinster Transformationen in der Produktion von Soundalikes. Marburg: Büchner-Verlag 2023, 402 S., br., 37,00 €
  22. Einzelbesprechung Mediensoziologie
  23. Christian Schulz, Infrastrukturen der Anerkennung: Eine Theorie sozialer Medienplattformen. Frankfurt am Main: Campus 2023, 453 S., br., 45,00 €
  24. Einzelbesprechung Normative Soziologie
  25. Max Haller, Die revolutionäre Kraft der Ideen: Gesellschaftliche Grundwerte zwischen Interessen und Macht, Recht und Moral. Wiesbaden: Springer VS 2022, 961 S., eBook, 64,99 €
  26. Einzelbesprechung Politikwissenschaft
  27. Tobias Breuckmann, Die Regierung von Migration in Lagern: Geographien der Macht am Beispiel Lesvos. Münster: Westfälisches Dampfboot 2024, 418 S., kt., 40,00 €
  28. Einzelbesprechung Wertlose Wahrheit
  29. Felix Keller, Anonymität und Gesellschaft Bd. I: Die Beschreibung der Anarchie. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2021, 600 S., br., 59,90 € Felix Keller, Anonymität und Gesellschaft Bd. II: Wissenschaft, Utopie, Mythos. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2022, 600 S., br., 59,90 €
  30. Rezensentinnen und Rezensenten des 2. Heftes 2025
  31. Eingegangene Bücher (Ausführliche Besprechung vorbehalten)
Heruntergeladen am 15.11.2025 von https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/srsr-2024-2075/html
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