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Recht als Gegenstand, Disziplin oder Praxis?

Alfons Bora, Responsive Rechtssoziologie – Theoriegeschichte in systematischer Absicht: Soziologische Theorie des Rechts 1. Wiesbaden: Springer VS 2023, 376 S., eBook, 42,79 €
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Published/Copyright: May 23, 2025
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Alfons Bora, Responsive Rechtssoziologie – Theoriegeschichte in systematischer Absicht: Soziologische Theorie des Rechts 1. Wiesbaden: Springer VS 2023, 376 S., eBook, 42,79 €


Eine rechtssoziologische Reflexionstheorie, die ein auf wissenschaftlicher Autonomie beruhendes, zugleich aber symmetrisch äquilibriertes Verhältnis zur sogenannten Praxis einzunehmen trachtet, klingt auch für rechtssoziologisch Forschende mit dezidierter Anwendungsorientierung nach einem vielversprechenden Theorieangebot. Dies umso mehr, als Boras Arbeit an einer responsiven Rechtssoziologie zentral auf den wissenschaftssoziologischen Studien von David Kaldewey (2013) aufbaut, die trotz oder gerade wegen ihres systemtheoretischen Bezugsrahmens meiner Erfahrung nach praxisnah forschenden Wissenschaftler:innen erkenntnisreiche Reflexionsangebote zum Verhältnis von Wissenschaft und Praxis anbieten. Ich machte mich deshalb mit der Erwartung an die Lektüre des Buches, zahlreiche Reflexionsanregungen zu diesem Innen-Außen-Verhältnis der Rechtssoziologie zu erhalten. Konkret liegen den nachfolgenden Ausführungen folgende Fragen zugrunde: Welchen Ertrag vermag Boras theoretischer Entwurf einer responsiven Rechtssoziologie für rechtssoziologische Forschung mit ausdrücklicher Anwendungsorientierung zu entfalten? Inwiefern stellt also der von Bora skizzierte oder vielmehr eingeforderte rechtssoziologische Praxisdiskurs eine erkenntnisreiche Reflexionstheorie für jene dar, die nicht nur innerwissenschaftlich Diskurse über das Wissenschafts-Praxis-Verhältnis führen, sondern mit dieser „Praxis“ in vielfältigen Austausch- und Kooperationsbeziehungen stehen?

Doch welches Ziel verfolgt Bora selbst mit seiner Reflexionstheorie? Sein Buch erhebt den Anspruch, aus wissenschaftssoziologischer Perspektive eine responsive Rechtssoziologie als rechtssoziologischen Praxisdiskurs zu entwerfen. Davon werden in der Folge gewinnbringende Rückwirkungen auf die Gegenstandstheorie der Rechtssoziologie, konkret die soziologische Theorie des Rechts erhofft, die auf diese Weise mehr Anschlussfähigkeit im Gegenstandsbereich zu entfalten verspreche. Als Voraussetzung hierfür wird ein responsives Modell von Interdisziplinarität herausgearbeitet, das als eine symmetrisch verstandene Äquilibrierung zwischen den Disziplinen Soziologie und Rechtswissenschaft bzw. Jurisprudenz (die Begriffe werden bei Bora synonym verwendet) ausformuliert werden soll.

Ich muss gestehen, mich bei der Lektüre trotz eigener Systemtheorie-Affinität alsbald in theorieschwere Netze verfangen zu haben. Folglich bestand meine Auseinandersetzung mit Boras Theorieentwurf großteils darin, die Fallstricke zu entwirren, d. h. zu verstehen, inwieweit meine Verständnisblockaden im vorgelegten Theorieentwurf selbst begründet sein könnten und nicht bloß auf Theorie- und Reflexionsdefizite meinerseits verweisen. Vor dem Hintergrund meiner wissenschaftsinstitutionellen Verortung in einem interdisziplinär strukturierten und zugleich anwendungsorientiert forschenden Institut, das lange Zeit außeruniversitär positioniert war, wundert beispielsweise sogleich, dass Bora die System-Umwelt-Beziehungen der Rechtssoziologie immer wieder als interdisziplinär (re-)konstruiert und nicht als Intersystembeziehungen zwischen Wissenschaft und ihren gesellschaftlichen Umwelten, etwa dem Rechtssystem bzw. Teilen davon oder dem politischen System etc. Es geht bei Bora somit über weite Strecken um das Verhältnis der wissenschaftlichen Disziplinen Soziologie und Rechtwissenschaften, während oft nur schwer fassbar wird, wie seine Ausführungen etwa mit der Rechtspraxis als außerwissenschaftlicher Referenz der Rechtssoziologie zusammenhängen – so viel sei vorweggenommen.

Indem ich Boras Theorieentwurf vorrangig auf den Erkenntnisgewinn hinsichtlich der Reflexion des Verhältnisses der Rechtssoziologie zu ihrer außerwissenschaftlichen Praxis befrage, werde ich seinem Anspruch sicher nicht ganz gerecht. Denn Interdisziplinarität interessiert mich hier nur insofern, als sie von Relevanz für den Praxisbezug ist. Zu den (inter-)disziplinären Beziehungen zwischen Rechtswissenschaften und Soziologie liefert das Buch aber darüber hinausgehend eine Fülle erkenntnisreicher Einsichten. Ich möchte mich dennoch im Folgenden darauf beschränken, einige zentrale begriffliche Weichenstellungen in Boras Theorieentwurf aufzuzeigen, die m. E. in Bezug auf das Wissenschafts-Praxis-Verhältnis der Rechtssoziologie in reflexionstheoretische Labyrinthe führen. Es bleibt einzugestehen, dass ich dadurch den Beitrag des Bandes zu Interdisziplinaritätsdiskursen in der Rechtssoziologie nicht ausreichend würdigen kann.

Wer oder was ist hier die Praxis?

Bora begreift in Anlehnung an Kaldewey Praxis „als Terminus wissenschaftlicher Selbstbeschreibung, der das Verhältnis zur Umwelt intern abbildet“ (S. 11). Es handelt sich um wissenschaftsinterne Reflexionen, die sich als Praxisdiskurse bezeichnen lassen, „‚Nützlichkeit‘ für das Recht“ (S. 11) stellt etwa einen Praxisdiskurs der Rechtssoziologie dar. Reflexionstheorien der Wissenschaft beziehen sich nicht nur auf die Umwelt der Wissenschaft, sondern in Gestalt von Autonomiediskursen, in denen das Wahrheitsstreben bzw. der wissenschaftliche Erkenntnisgewinn als Selbstzweck betont wird, auch auf ihre Innenseite. Reflexionsdiskurse der Autonomie und Praxis bearbeiten somit die Beziehungen zwischen innen (Autonomie) und außen (Praxis) und verhandeln auf diese Weise zugleich das Spannungsfeld zwischen der Funktion der Wissenschaft (wissenschaftliche Erkenntnisproduktion) und ihren Leistungen für die innergesellschaftlichen Umwelten mit (vgl. Luhmann 2018 [1990]).

Die Wissenschaft stellt ihren Umwelten beispielsweise Leistungen in Form wissenschaftlicher Erkenntnisse zur Verfügung, diese Fremdbeschreibungen können von anderen Funktionssystemen für den internen Aufbau strukturierter Komplexität genutzt werden (vgl. S. 7). Wissenschaft beeinflusst auf diese Weise etwa als soziologische Theorie des Rechts die Selbstbeschreibungen des Rechts(-systems) – oder auch anderer Funktionssysteme, so ist ergänzend hinzuzufügen. Allerdings fertigen die Funktionssysteme in der Umwelt der Wissenschaft auch Selbstbeschreibungen an, sie sind folglich nicht auf die Rezeption der wissenschaftlichen Fremdbeschreibung angewiesen. Entsprechend konkurrieren etwa soziologische Theorien des Rechts mit juristischen Rechtstheorien. Oder sie stehen weitgehend unvermittelt nebeneinander bzw. ignorieren sich wechselseitig, wie der von Bora mehrfach rekonstruierte Praxisdiskurs einer mangelnden Rezeption (rechts-)soziologischer Theorie und Forschung nahelegt. Dies wird im Wesentlichen auf eine unzureichend juristisch informierte und für rechtliche Fragen zu wenig sensibilisierte (Rechts-)Soziologie zurückgeführt. Bora will deshalb in seinem Theorieentwurf herausarbeiten, inwieweit und in welcher Weise eine symmetrische Äquilibration zwischen Selbst- und Fremdbeschreibungen des Rechts möglich und gestärkt werden kann.

So weit, so annähernd nachvollziehbar, auch wenn Boras Ausführungen in der Regel auf einem abstrakten Niveau bleiben, mit dem generell gewisse Herausforderungen des Nachvollzugs verbunden sind. Die neuralgische Frage lautet nun, wie sich die Praxis näher bestimmen lässt, auf die sich die Praxisdiskurse der Rechtssoziologie beziehen – bzw. auf die die von Bora skizzierten Praxisdiskurse referieren. Und hier beginnen meine grundsätzlichen Verwirrungen, denn zum einen bleibt die Praxisreferenz „Recht“ oft äußerst abstrakt und läuft damit Gefahr, weitgehend inhaltsleer und in der Folge wenig erkenntnisreich zu sein. Daraus erwächst im vorgelegten Theorieentwurf m. E. insbesondere das Problem, nicht ausreichend (explizit) zwischen den wissenschaftlichen Fremdreferenzen „Gegenstand“ und „Praxis“ unterscheiden zu können, wie nachfolgend ausgeführt wird. Zum anderen bestimmt Bora wiederholt die Jurisprudenz als Praxis oder auch Umwelt der Rechtssoziologie – also auf den ersten Blick eine wissenschaftliche Disziplin. Der Aspekt wird daran anschließend diskutiert.

Recht als Gegenstand oder Praxis?

Beim Verstehen meiner Verwirrungen hilft ein Blick in die wissenschaftssoziologischen Arbeiten von Kaldewey, auf die Boras Praxisbegriff zentral aufbaut: „Praxis“ lässt sich Kaldewey zufolge als generalisierte Fremdreferenz des Wissenschaftssystems bestimmen, „d. h. als eine Semantik, mit der die Wissenschaft [als generalisierte Selbstreferenz, Anm. HM] ihre gesellschaftliche Umwelt beschreibt und adressiert“ (Kaldewey, 2013, S. 172). Allerdings stellt die „Praxis“ nicht die einzige generalisierte Fremdreferenz der Wissenschaft dar. Kaldewey verdeutlicht dies anhand der Unterscheidung zwischen „Erkenntnis“ und „Gegenstand“: Erstere ist eine generalisierte Selbstreferenz, zweiterer, der Gegenstand, stellt ebenfalls eine generalisierte Fremdreferenz des Wissenschaftssystems dar. Dieser Gegenstand lässt sich dann disziplinenspezifisch verschieden konkretisieren, etwa die Gesellschaft als Gegenstand der Soziologie (vgl. Kaldewey, 2013, S. 174) – oder Recht im Sinne eines gesellschaftlich hervorgebrachten Phänomens als Gegenstand der Rechtssoziologie.

Es gilt demnach, die gegenstandskonstituierende Fremdreferenz der Wissenschaft von ihrer anwendungsbezogenen Fremdreferenz „Praxis“ analytisch zu unterscheiden, oder in den Worten Kaldeweys, „die Semantik der Praxis als eine von der Gegenstandskonstitution unterscheidbare, jedoch nicht minder funktionale Fremdreferenz zu betrachten“ (Kaldewey, 2013, S. 175). In der Folge wären auch für die Rechtssoziologie – unabhängig davon, ob sie nun als Subdisziplin oder als interdisziplinäres Forschungsfeld bestimmt wird – zwei verschiedene, wenn auch durchaus miteinander verschränkte Fremdreferenzen zu konkretisieren: einerseits der Gegenstand ihrer Theoriebildung und Forschung, andererseits die gesellschaftliche Praxis, „d. h. diejenigen Kontexte in der Umwelt der Wissenschaft, in denen das Wissen [in unserem Fall der Rechtssoziologie, Anm. HM] einen Nutzen erbringt“ (Kaldewey, 2013, S. 176).

Bora unterscheidet zwar laufend zwischen Reflexions- und Gegenstandstheorien und bestimmt erstere als wissenschaftliche Formen der Selbstbeschreibung (S. 5), mit der die Wissenschaft ihre Identität in Abgrenzung zu ihrer Umwelt konstituiert (S. 47). Zweitere, die Gegenstandstheorie, stellt die soziologische Theorie des Rechts dar und umfasst beispielsweise „die soziologische Theorie der Norm, des Rechts, des Verfahrens, der Organisationen und Institution des Rechtsbetriebs, der Positivierung des Rechts, seiner Dogmatisierung sowie der Funktion von Geltung“ (S. 313). Mit dieser Unterscheidung bildet Bora aber m. E. nicht (hinreichend) die von Kaldewey vorgeschlagene analytische Unterscheidung zwischen Gegenstand und Praxis ab, denn Reflexionstheorien beziehen sich nicht nur auf die Praxis, sondern u. a. auch auf den Gegenstand der Wissenschaft.

In der Folge geraten – so meine Vermutung – in Boras Entwurf einer responsiven Rechtssoziologie die beiden Fremdreferenzen „Gegenstand“ und „Praxis“ teils durcheinander bzw. werden analytisch unzureichend unterschieden, sodass die Semantik der Praxis faktisch zwischen Gegenstand und Praxis mäandert. Dies wird etwa an seiner Kritik an der rechtssoziologischen (Gesellschafts-)Theorie deutlich, die „kein Vokabular für Anschlussfähigkeit im Gegenstandsbereich hat“ (S. 14; Hervorhebung HM), so Bora. Recht als Gegenstandsbezug der Rechtssoziologie, zu dem wissenschaftliche Erkenntnisse generiert werden, vermischt sich hier unausgewiesen mit Recht als Praxis, an die wissenschaftliche Leistungen adressiert werden, wofür kommunikative Anschlussfähigkeit durchaus vorteilhaft ist.

Eine sorgfältige Reflexion der Differenz zwischen den rechtssoziologischen Umweltbezügen „Gegenstand“ und „Praxis“ erweist sich meiner Erfahrung nach insbesondere dann als essenziell für die Wahrung wissenschaftlicher Autonomie, wenn sich Gegenstand und Praxis faktisch überlappen. Um es an meinem Forschungskontext zu verdeutlichen: Recht bzw. das Rechtssystem in seiner internen Differenziertheit sind einerseits Gegenstand unserer Forschung und andererseits auch Umwelt in Form der Rechtspraxis, mit der wir in Leistungsaustausch stehen, der wir etwa wissenschaftliche Erkenntnisse anbieten (was auch immer sie dann damit anfangen kann). Autonomie- und Praxisdiskurse sind dabei miteinander verschränkt, wenn etwa (wissenschaftsintern) nach latent wirksamen „Scheren im Kopf“ gefragt wird, also nach nicht reflektierten Tendenzen zur Selbstzensur im Forschen durch Antizipieren möglicher Leistungserwartungen der Praxis, an die die Forschungsergebnisse u. a. adressiert werden. Diese Differenz laufend analytisch zu erschließen und theoriegestützt zu reflektieren und auseinanderzuhalten ist gerade beim Forschen mit starkem Praxisbezug von großer Bedeutung. Genau dafür stellt aber Boras responsive Rechtssoziologie u. a. aufgrund der unzureichenden analytischen Trennung zwischen Gegenstand und Praxis keine hilfreiche Reflexionstheorie bereit.

Responsivität: Soziologie und Jurisprudenz als wechselseitige „Außenreferenzen“?

Bei Boras Verwendung des Terminus Responsivität hingegen kommt es zu einer Umdeutung von System-Umwelt-Beziehungen auf Beziehungen zwischen Disziplinen. Auch dieser Begriff stellt bei Kaldewey und anderen Autor:innen (etwa Stichweh) auf das „Verhältnis der Wissenschaft zu ihrer gesellschaftlichen Umwelt“ (Kaldewey, 2015, S. 210) ab und hat ebenfalls mit der Spannung zwischen Funktion und Leistung zu tun. Responsivität bedeutet demnach „[...] nicht nur, dass Erwartungen anderer Funktionssysteme in der Wissenschaft auf Resonanz stoßen, sondern auch, dass wissenschaftliche Erkenntnisse in andere Funktionssysteme (rück)übersetzt werden“ (Kaldewey et al., 2015, S. 9). Bora hingegen will mit Responsivität „[komplexere Wechselbeziehungen] im Verhältnis zwischen Disziplinen [...] denken, die zu sensiblen Anpassungsreaktionen im Sinne koevolutionärer Kopplungen führen“ (S. 64).

Mit Soziologie und Rechtswissenschaft werden in der Folge zwei wissenschaftliche Disziplinen, d. h. Subsysteme innerhalb des Wissenschaftssystems, wechselseitig als Umwelten konzipiert, auf die in Praxisdiskursen Bezug genommen wird: „Responsivität bezeichnet damit ein Modell von Interdisziplinarität, welches nicht die Rezeption der Soziologie durch die Jurisprudenz in den Mittelpunkt stellt, sondern auf symmetrische interdisziplinäre Beziehungen abstellt“ (S. 64). Diese Beziehungen sind durch „eine ultra-zyklische Verknüpfung von Innen- und Außenreferenzen“ (S. 64) gekennzeichnet, ohne dabei die disziplinäre Systemautonomie aufzugeben. Wenn in der Folge komplementäre Autonomie- und Praxisdiskurse eingefordert werden, meint Bora damit in erster Linie Diskurse in Bezug auf die jeweils andere wissenschaftliche Disziplin.

Allerdings ist – quasi im gleichen Atemzug – auch von den Praxisproblemen rechtlicher Selbstbeschreibung die Rede, Rechtswissenschaft und Rechtspraxis verschwimmen in Boras Ausführungen, ohne dies hinreichend zu explizieren. Wenn zusätzlich – wie oben aufgezeigt – die unzureichende Differenzierung zwischen den Fremdreferenzen „Gegenstand“ und „Praxis“ berücksichtigt wird, dann lässt sich erkennen, was den eigentlichen außerwissenschaftlichen Bezugspunkt in Boras Arbeit darstellt: Er entwirft ein Konzept der Responsivität, „mit dem eine von der Reflexionstheorie zu thematisierenden [sic!] Eigenschaft der Gegenstandstheorie bezeichnet wird“ (S. 5). Die von Bora skizzierte Reflexionstheorie bezieht sich also genau genommen weniger auf die Praxis, sondern vielmehr auf den Gegenstand der Rechtssoziologie, um dessen angemessene wissenschaftliche Beobachtung im interdisziplinären Feld der Rechtssoziologie vor dem Hintergrund der Disziplinen Soziologie und Rechtswissenschaft gerungen wird.

Rechtswissenschaft zwischen Disziplin und Praxis

Wie dargestellt wurde, referiert der Begriff der Praxis bei Kaldewey (2013) explizit auf Kontexte in der Umwelt der Wissenschaft, in denen das wissenschaftliche Wissen genutzt wird oder werden soll, die aber selbst mit jeweils anderen teilsystemspezifischen Leitdifferenzen (binäre Codes) operieren – das Rechtssystem etwa mit der Unterscheidung Recht und Unrecht (und nicht primär mit dem Wahrheitscode der Wissenschaft). Bei Bora hingegen wird auch oder vielmehr vor allem die Rechtswissenschaft zur Umwelt der Soziologie, über die letztere dann in Gestalt von Praxisdiskursen reflektiere oder reflektieren solle. Disziplinäre Ausdifferenzierungen und damit verbundene Fragen oder Probleme der Grenzziehung zwischen den Disziplinen – also innerwissenschaftliche Bezugspunkte und Fragestellungen, die alle demselben Funktionssystem, der Wissenschaft, zuzurechnen sind und mit dessen binärem Code operieren – werden in eine System-Umwelt-Differenz gebracht und auf ihre spezifische Reflexion von wechselseitigen Leistungserwartungen und -bereitschaften hin befragt. Interdisziplinäre Forschung erscheint in dieser Perspektive weniger als kooperativer wissenschaftlicher Erkenntnisprozess, sondern vorrangig als Leistungsaustausch zwischen System und Umwelt.

In der Folge konzentrieren sich die weiteren Ausführungen schwerpunktmäßig auf Fragen adäquater Modelle interdisziplinärer Bezüge. Als vorherrschende Diskursvarianten in der Geschichte der deutschsprachigen Rechtssoziologie werden hierarchisierende Rezeptionsmodelle von Interdisziplinarität ausgemacht. Aufbauend auf Schweitzer (2021) rekonstruiert Bora detailgenau den Ausdifferenzierungsprozess der Soziologie aus der Rechtswissenschaft und die nachfolgend dominanten Autonomie-Diskurse innerhalb der (Rechts-)Soziologie – um den „Preis der Marginalisierung seiner (sic!) Umwelt und der Vernachlässigung eines innerwissenschaftlichen Praxis-Diskurses, welcher in Gestalt der Jurisprudenz als Wissenschaft in einer responsiven Rechtssoziologie hätte mitsprechen können“ (S. 217). Umgekehrt greift Bora (u. a. von Blankenburg) die Diagnose auf, dass eine institutionelle Konsolidierung der Rechtssoziologie aufgrund der mangelnden Rezeptionsbereitschaft seitens der Rechtswissenschaft ausgeblieben sei. Demgegenüber wirbt Bora für responsive Interdisziplinarität, über die Soziologie und Jurisprudenz Recht als soziales Phänomen (d. h. Gegenstand!) in einer wechselseitig anschlussfähigen Weise beschreiben könnten, so die Erwartung.

Möglicherweise hängt mein Befremden über Boras weitgehende Engführung der Wissenschafts-Praxis-Differenz auf disziplinäre Differenz(ierung) auch mit meiner eigenen institutionellen Verortung zusammen: Das Forschungsinstitut, in dem ich rechtssoziologisch sozialisiert wurde, war die längste Zeit seines Bestehens außeruniversitär verortet, ist intern interdisziplinär zusammengesetzt und musste sich entsprechend wenig um (inter-)disziplinäre Auseinandersetzungen im universitären Kontext kümmern. Aus dieser Institutsgeschichte heraus ist erklärbar, weshalb wir wenig mit der Rechtswissenschaft, aber viel mit der Rechtspraxis kommunizieren. Zugleich adressieren wir eine mehrfache bzw. heterogene Praxis. Vor diesem Erfahrungshintergrund ist darauf zu verweisen, dass es bedeutsame Unterschiede macht, ob das Verhältnis zur akademischen Rechtswissenschaft oder der ministeriellen Legistik, zur Justiz bzw. zu Institutionen der Rechtsprechung und den mit der Rechtsanwendung befassten Rechtsberufen sowie zu justiznahen Diensten reflektiert wird. Die Unterschiede erwachsen aus differierenden Funktionssystembezügen, mit denen u. a. Kollisionen auf Ebene der jeweils zentralen binären Codes zu erwarten sind, aber auch aus Bezügen zu unterschiedlichen Systemebenen (v. a. Funktionssysteme versus Organisationssysteme). Letzterer Aspekt wird nachfolgend unter dem Schlagwort Anlehnungskontext gesondert aufgegriffen.

Allerdings dürfte Boras unklare Grenzziehung zwischen Rechtswissenschaft und Rechtspraxis auch durch deren enge Kopplung über die Rechtsdogmatik als im deutschen Rechtskreis dominanter Reflexionstheorie des Rechts (vgl. Schweitzer, 2018, S. 214) mitbedingt sein. Bora bezeichnet die Rechtswissenschaft entsprechend als Reflexionstheorie des Rechts (vgl. etwa S. 72). Universitäre Rechtswissenschaft koppelt nicht nur Wissenschafts- und Erziehungssystem (als Einheit von Forschung und Lehre), sondern oszilliert – insbesondere über die Rechtsdogmatik – auch zwischen diesen und dem Rechtssystem.

Geht es also im Verhältnis zwischen Rechtswissenschaft und Soziologie doch um eine System-Umwelt-Differenz, die über das Wissenschaftssystem hinaus in die gesellschaftliche Umwelt in Form der Rechtspraxis verweist? Oder handelt es sich um zwei wissenschaftliche Disziplinen, d. h. um Subsysteme innerhalb des Wissenschaftssystems und somit um eine systeminterne Differenzierung, wobei beide Subsysteme mit der Leitunterscheidung der Wissenschaft als System operieren? Boras Ausführungen oszillieren zwischen diesen Perspektiven bzw. Bezugspunkten, sodass die rekonstruierten Praxisdiskurse teils schwer unterscheidbar zwischen Wissenschaft und Praxis mäandern. Eine gehaltvolle rechtssoziologische Reflexionstheorie müsste m. E. genauer unterscheiden, wo es jeweils um Interdisziplinarität geht und wo Intersystemkommunikation im Sinne von Kommunikation mit Systemen in der Umwelt des Wissenschaftssystems reflektiert wird – und was aus dieser Differenz folgt. Die Fokussierung auf eine zwischen verschiedenen Systembezügen stehende Rechtswissenschaft als Umwelt der Soziologie erweist sich für die Ausarbeitung solch einer Reflexionstheorie m. E. als Erschwernis.

Anlehnungskontext: organisationstheoretische Defizite

Fallstricke bergen auch Boras Adaptionen des Begriffs des Anlehnungskontextes, der von Stichweh (2009, S. 39–41) übernommen und zu einem bedeutsamen Konzept in der Umweltorientierung der Rechtssoziologie entwickelt wird. Stichweh verwendet den Begriff (wenig ausgearbeitet) zur Beschreibung spezifischer gesellschaftlicher Umweltorientierungen von Organisationen, konkret nämlich für die Anlehnung der Organisation Universität an unterschiedliche Funktionssysteme wie Religion, Politik, Wissenschaft (sic!) und Wirtschaft (und an diesen Funktionssystemen zurechenbare Organisationen). Kaldewey (2013, S. 252–253) folgt dieser Begriffsverwendung und beschreibt damit Abhängigkeiten der Organisationsebene Universität von wechselnden gesellschaftlichen Bezugssystemen, nicht aber solche auf Ebene des Wissenschaftssystems insgesamt bzw. auf Ebene seiner Subeinheiten, der Disziplinen. Bora hingegen argumentiert, das ursprünglich organisationssoziologische Konzept lasse sich

[...] in vergleichbarer Weise auch mit Blick auf andere soziale Systeme und Felder verwenden. Denn zum einen ist der Aspekt der Programmierung verallgemeinerbar und überall dort von Bedeutung, wo es um die Anwendung binärer Unterscheidungen beziehungsweise Codes geht. Zum anderen ist [...] Reflexion ein universales Merkmal von Funktionssystemen. (S. 9)

Gegen diese Begründung ist einzuwenden, dass sich gerade beim Aspekt der Programmierung die Differenzierung zwischen Organisation und Funktionssystem als essenziell erweist: Organisationen machen die abstrakten Codes der Funktionssysteme entscheidbar, indem sie Programme konkretisieren und bereitstellen, mittels derer die Funktionssysteme mit Entscheidungsfähigkeit ausgestattet werden (vgl. Lieckweg, 2001, S. 272; Luhmann, 2000, S. 380–416). Programmierung lässt sich deshalb nur in der Differenzierung und dem Zusammenspiel von Organisations- und Funktionssystemebene hinreichend analysieren. Zudem ist der Systemtypus Organisation im Unterschied zu Funktionssystemen auch zu Multireferenz in der Lage. Lieckweg fasst zusammen, dass „Organisationen als Multireferenten ständig zwischen den verschiedenen Logiken der Funktionssysteme vermitteln“ (Lieckweg, 2001, S. 267), während in Funktionssystemen nur jeweils eine teilsystemspezifische Leitdifferenz (binärer Code) beobachtungsleitend wirksam ist. An Organisationskommunikation sind im Gegensatz dazu in der Regel mehrere Funktionssysteme „beteiligt“, teils auch gleichrangig, wie etwa bei Universitäten, die das Wissenschafts- und das Erziehungssystem strukturell koppeln.

Boras Begriffsadaption hat zur Folge, dass sich seine Reflexionstheorie gerade mit Blick auf rechtssoziologische Praxisdiskurse unzureichend organisationstheoretisch informiert zeigt. Sie fokussiert in der Folge einseitig auf die Gesellschaftsebene mit ihrer funktionssystemspezifischen Differenzierung, berücksichtigt aber das Zusammenspiel verschiedener Systemebenen kaum und bleibt damit in „den luftigen Höhen der abstrakten Codes der Funktionssysteme“ (Nassehi & Nollmann, 1997, S. 405). Der systematische Einbau der Systemebene Organisation könnte m. E. die Möglichkeit bieten, die auf einem sehr abstrakten Niveau angesiedelte Reflexionstheorie Boras zu konkretisieren und damit zugänglicher respektive „anschlussfähiger“ zu machen – ohne den Schritt an dieser Stelle auch nur ansatzweise leisten zu können.

Fazit

Um die aufgezeigten reflexionstheoretischen „Labyrinthe“ zu vermeiden, benötigt Boras Theorieentwurf m. E. eine Nachschärfung mehrerer analytischer Bezugspunkte und Unterscheidungen: So wird zu wenig konsequent zwischen den wissenschaftlichen Fremdreferenzen Gegenstand und Praxis differenziert bzw. unzureichend nach der Bedeutung dieser Differenz gefragt. Zudem kommen unklare Abgrenzungen zwischen der Wissenschaft und ihren gesellschaftlichen Umwelten darin zum Ausdruck, dass der Umweltbezug der (Rechts-)Soziologie über weite Strecken als interdisziplinärer Bezug zur Rechtswissenschaft beschrieben und analysiert wird. Dadurch verharrt die „Praxis“, auf die in den Diskursen Bezug genommen wird, überwiegend im akademischen Feld, die außerwissenschaftlichen Bezugsebenen werden in Relation dazu wenig sichtbar bzw. reflektiert. Damit zusammenhängend wird ungenügend zwischen Rechtswissenschaft als sowohl wissenschaftlicher Disziplin als auch Teil des Rechtssystems unterschieden bzw. nach den Konsequenzen faktischer Vermischungen gefragt. Um die Praxisbezüge der Wissenschaft inhaltlich gehaltvoller zu erfassen, könnte es nicht zuletzt lohnenswert sein, die vorgelegte Reflexionstheorie organisationstheoretisch anzureichern und das Zusammenspiel verschiedener Systemebenen in der Analyse systematisch mitzuberücksichtigen. Ob mit einer derart revidierten Reflexionstheorie der responsiven Rechtssoziologie auch zu neuer institutioneller Konsolidierung der Rechtssoziologie (denn dies scheint mir die „hidden agenda“ von Boras Theoriearbeit zu sein) beigetragen werden kann, bleibt dahingestellt.

Literatur

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Online erschienen: 2025-05-23
Erschienen im Druck: 2025-05-23

© 2025 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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Downloaded on 15.11.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/srsr-2025-2004/html
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