Home Vera Miesen, Engagement und Habitus im Alter: Milieuspezifische Engagementtätigkeit im sozialen Nahraum. Bielefeld: transcript 2022, 270 S., kt., 44,00 €
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Vera Miesen, Engagement und Habitus im Alter: Milieuspezifische Engagementtätigkeit im sozialen Nahraum. Bielefeld: transcript 2022, 270 S., kt., 44,00 €

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Published/Copyright: February 20, 2025
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Vera Miesen, Engagement und Habitus im Alter: Milieuspezifische Engagementtätigkeit im sozialen Nahraum. Bielefeld: transcript 2022, 270 S., kt., 44,00 €


Der Titel des Bandes, der die Dissertationsschrift der Autorin darstellt, umreißt in wenigen Begriffen, was auf den folgenden ca. 240 inhaltlichen Seiten ausgearbeitet wird: Eine Auseinandersetzung mit milieuspezifischen Engagementtätigkeiten im Alter und die Rolle, die der Habitus im Bourdieuschen Sinne als handlungsleitendes, generatives Prinzip bei deren Umsetzung im sozialen Nahraum dabei spielt. Zusätzlich sind soziale Ungleichheiten im Buch ein zentrales Thema, genauso wie die Grundunterscheidung zwischen formellen (bspw. Ehrenämter in Organisationen und Institutionen) und informellen Engagementtätigkeiten (bspw. spontane Unterstützungsleistungen im Freundes- oder Bekanntenkreis). Eine Grundthese der Autorin besteht darin, dass Politik wie Wissenschaft sich zu wenig den informellen Formen des Engagements widmen, die gleichzeitig verstärkt von Personen mit niedrigerem sozialem Status ausgeübt werden. Dadurch wird das Ausmaß des Engagements sozial benachteiligter Gruppen durch Politik und Wissenschaft zu gering geschätzt und zu wenig gewürdigt.

Das Buch ist in sieben Kapitel unterteilt. Im ersten Kapitel „Einführende Überlegungen“ wird eine begriffliche Annäherung an die Begriffe Engagement und Habitus vorgenommen und dabei in drei vorherrschende sozialgerontologische Diskurse eingebettet. Gleichzeitig wird das Spannungsfeld zwischen formellem und informellem Engagement erläutert und diskutiert. Dabei betont die Autorin, inwieweit bei der Beschreibung und Thematisierung von formellem Engagement in der Öffentlichkeit dieses von normativen Grenzen und Setzungen begleitet wird. Informelles Engagement umfasst demnach „unsichtbare“ Hilfeleistungen, die aufgrund dieser Unsichtbarkeit im öffentlichen Raum nicht den gleichen Status besitzen wie formelles Engagement, das überwiegend institutionell gebunden ist, öffentlich wahrnehmbar vollzogen wird (beispielsweise durch Ehrenämter in wohltätigen Organisationen) und entsprechende soziale Anerkennung genießt. Im zweiten Kapitel wird der Stand der Engagementforschung samt den zugehörigen wissenschaftlichen Diskursen und sozialpolitischen Debatten kurz rekapituliert. Dabei wird sowohl auf die gesellschaftliche wie die individuelle Bedeutung von Engagement im Alter eingegangen. Es wird anhand der Ergebnisse unterschiedlicher Surveys und Erhebungen der Umfang des gesellschaftlich geleisteten Engagements in Deutschland beschrieben und die individuellen Folgen freiwilligen Engagements beleuchtet. Auch wird daraufhin thematisiert, wie sich Engagement im Zeitverlauf verändert hat („Strukturwandel des Ehrenamts“): Nicht zuletzt im Zuge der gesellschaftlichen Individualisierung kommt es zu Verschiebungen in den Engagementformen einerseits und Motiven andererseits, aufgrund derer Individuen sich engagieren. Wurde in der früheren Engagementforschung vor allem auf den sozialen bzw. altruistischen Charakter dieser Freiwilligentätigkeit abgestellt, so rückt in der jüngeren Forschung verstärkt auch die Nutzenerwartung der Akteure in den Vordergrund, die sich durch ihr Engagement durchaus Vorteile für sich und das eigene Umfeld erhoffen. Theoretisch lässt sich die Ebene der individuellen Engagement-Praxis im Rahmen soziologischer Theorien auf unterschiedliche Art und Weise fassen: als Ausdruck biografischer Lebensereignisse, als Folge einer individuelle Nutzenabwägung, als das Resultat der eigenen Sozialkapitalausstattung oder als Bestandteil eines milieuspezifischen Lebensstils. Auch in diesem Kapitel wird wieder auf Zusammenhang von Engagement und sozialer Ungleichheit bzw. die Engagementformen sozial benachteiligter Personengruppen eingegangen. Diese doppelte Perspektive auf das Ehrenamt, die Kombination aus dem gesellschaftlichen und dem individuellen Blickwinkel, führt auch zum theoretischen Rahmen der Arbeit, in dem das Habitus- wie das Feldkonzept von Bourdieu genutzt werden, um beide Perspektiven in Verbindung zu setzen. Dies wird in Kapitel 3 weiter erläutert. Der Habitus übt eine Scharnierfunktion aus zwischen der gesellschaftlich-strukturellen Ebene und den individuellen Handlungen und Praktiken. „Alter“ wird im Bourdieuschen Sinne als Klassifikations- und Verteilungsprinzip verstanden, als im Habitus wirkende, kumulierte Präsenz der gesamten Vergangenheit; „Engagement“ als Teil einer sozialen Praxis im Feld, die geprägt ist durch die jeweilige feldspezifische Logik sowie insbesondere die Ökonomie des symbolischen Tauschs. Weiterhin wird Bezug genommen auf die Milieutypologie nach Vester, der seinerseits Bourdieus Theorie der Lebensstile und des sozialen Raums auf deutsche Verhältnisse übertragen hat. Der die Mitglieder eines Milieus verbindende soziale Zusammenhalt bzw. deren Kohäsion wird als Ursprung von Engagementtätigkeiten skizziert und daran anschließend Engagement als Teil des Freizeitverhaltens und der Gesellungspraktiken bestimmter Milieutypen verstanden. Kapitel 4 beschreibt das mehrstufige Forschungsdesign, das sich u. a. an ethnografischer Feldforschung und den community studies der Chicagoer Schule orientiert. Die empirische Untersuchung fand in einem Stadtteil einer Großstadt in Nordrhein-Westfalen statt, der aufgrund eines hohen Anteils von Senior:innen sowie eines größeren Netzwerks an sozialen Einrichtungen ausgewählt wurde. Im Laufe der Zeit kam es in diesem Stadtteil zu sozialstrukturellen Verschiebungen, die sich durch erhöhte Arbeitslosigkeit und den größeren Zuzug von Personen mit Zuwanderungsgeschichte bemerkbar machten. Die Erhebung des Datenmaterials fand mehrstufig statt; genutzt wurden sowohl persönliche Eindrücke durch das Eintauchen in den Stadtteil („nosing around“), festgehalten in einem Forschungstagebuch, als auch themenzentrierte Interviews mit 10 ausgewählten Personen im Alter von 65 bis 75 Jahren, die vorab gebeten wurden, strukturierte Sozialraumtagebücher zu führen. Ausgewertet wurden die Daten anhand der Methode der Habitushermeneutik, um primäre wie sekundäre Sinnschichten zu identifizieren und auszuleuchten. Kapitel 5 stellt im Anschluss die empirischen Ergebnisse der Studie dar. Aus den Daten wurden vier milieuspezifische Engagementmuster rekonstruiert, die jeweils anhand von Fallporträts konkretisiert werden. Die vier Muster unterscheiden sich dabei je nach Herkunftsmilieu in ihren handlungsleitenden Prinzipien sowie den ausgeübten Engagementformen und Tätigkeiten. So ist bspw. das Muster „prätentiös-statusorientiert“ im traditionellen, kleinbürgerlichen Arbeitermilieu angesiedelt und zeichnet sich durch „Ordnung & Konventionen“ als handlungsleitendes Prinzip aus, das sich in formellen wie informellen Tätigkeiten niederschlägt, die der Aufrechterhaltung von Ordnung und Sauberkeit im Stadtteil dienen. Kapitel 6 dient der Zusammenführung der Ergebnisse und bietet eine verdichtete Übersicht der identifizierten Engagementmuster. Zudem werden sechs Dimensionen bzw. gegensätzliche Begriffspaare vorgestellt, die eine kontrastierende Verortung der Engagementmuster erlauben. Diese sechs „Engagementpole“ (formell/“anerkannt“ vs. informell/“verkannt“, stadtteilbezogen vs. über den Stadtteil hinausgehend, dominant vs. dominiert, praktisch-anpackend vs. verwaltend-organisatorisch, individuell vs. gemeinschaftlich, reziprok vs. einseitig) beruhen teilweise auf dem empirischen Material, teilweise auf früherer Forschung. Diese Pole können auch für andere Kontexte relevant sein, etwa um das Feld von Engagementformen und -tätigkeiten begrifflich zu strukturieren. Kapitel 7 bietet final einen informativen Überblick über die zentralen Befunde der Arbeit: Hier wird noch einmal die Bedeutung der im Habitus angelegten, handlungsleitenden Prinzipien betont, die Verankerung von Engagement in milieuspezifischen Formen der Vergemeinschaftung (die sozialstrukturell nicht nur vertikal, sondern auch horizontal ausdifferenziert sind), sowie der Befund, dass Engagement je nach Milieu in unterschiedlicher Form und variierendem Ausmaß geleistet wird. Informelles Engagement findet sich dabei in allen vier Mustern wieder, wobei insbesondere die beiden im Sozialraum am höchsten und am niedrigsten verorteten Milieus in der Studie nur informelles Engagement aufweisen (wobei zu beachten gilt, dass alle vier betrachteten Milieus eher aus dem mittleren Bereich des Sozialraums kommen). Schließlich wird betont, dass eine Reziprozitätserwartung, für das eigene Engagement bei späterer Gelegenheit etwas „zurück“ zu bekommen, weit verbreitet ist, was die Vorstellung des reinen Altruismus als treibender Kraft von Engagement in Frage stellt. Die Arbeit schließt mit einem Ausblick auf die praktische Relevanz der Ergebnisse insbesondere für die pädagogische und soziale Arbeit bei der Begleitung Älterer, die sich engagieren.

Die Arbeit ist konzeptionell anspruchsvoll angelegt, dabei durchgängig verständlich geschrieben und dürfte potenziell auch einem breiteren, nicht rein-akademischen Publikum Einblicke in das Feld der unterschiedlichen Engagementformen im Alter vermitteln. Kenntnisreich stellt die Autorin die theoretischen Bezüge und wissenschaftlichen Diskurse im Feld der Engagementforschung dar. Gleichzeitig fehlt der Arbeit eine kurze, aber explizite Auseinandersetzung mit dem Begriff der sozialen Ungleichheit. Hier hätte sich eine stärkere Bezugnahme auf Bourdieus Schicht- und Klassenverständnis angeboten, die nur gestreift wird und eher indirekt über die Bezugnahme auf Vester und seine Milieutypologie im Sozialraum thematisiert wird. Weiterhin ist die Ausweitung des Engagementbegriffs auf einen größeren Bereich von Tätigkeiten jenseits institutionsgebundener Tätigkeiten zwar nachvollziehbar argumentiert und wird auch von anderen Forschenden angestrebt. Allerdings besteht hier die Gefahr, dass unter dieser Ausweitung auf eine Vielzahl informeller Hilfstätigkeiten und Unterstützungsleistungen im Familien- wie Freundeskreis die Trennschärfe des Begriffs leidet. Was dem empirischen Teil ein Stück weit fehlt, ist die Herausarbeitung der Bedeutung des Feldes im Bourdieuschen Sinne für die unterschiedlichen Engagementmuster. Während die Bedeutung der jeweils eigenen Feldlogik zur Klärung individueller Praktiken im theoretischen Teil noch hervorgehoben wird, wird dies im empirischen Teil nicht in gleicher Weise aufgegriffen. Die Autorin erläutert zwar, dass Engagementtätigkeiten alleine kein eigenes Feld konstituieren (dies ist für sich genommen bereits eine interessante Frage, deren Klärung durchaus mehr Raum hätte einnehmen können), sondern dass Engagement jeweils in dem Feld verortet werden kann, dem die einzelnen praktischen Tätigkeiten zugehören. Dies hätte in der Tat die praktisch schwierig zu realisierende Konsequenz nach sich gezogen, für die Vielfalt der geleisteten Tätigkeiten eine Reihe unterschiedlicher Feldlogiken zu rekonstruieren, wäre zur Klärung des Zusammenspiels von habituellen Dispositionen und Eigenlogiken des Feldes wohl aber folgerichtig gewesen. Die genannten Punkte dienen dabei nur der kritischen Einordnung und bieten mögliche Anknüpfungspunkte für daran anschließende oder fortführende Studien. Insgesamt bietet die Lektüre des Buches einen guten Einblick in das Feld der sozialgerontologischen Engagementforschung in Deutschland, deren Ergebnisse und Erkenntnisse auch wertvoll für Akteure aus der Praxis wie etwa der Sozialen Arbeit oder der kommunalen Quartiersentwicklung sein dürften.

Online erschienen: 2025-02-20
Erschienen im Druck: 2025-05-23

© 2025 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

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Downloaded on 15.11.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/srsr-2024-2088/html
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