Home Max Haller, Die revolutionäre Kraft der Ideen: Gesellschaftliche Grundwerte zwischen Interessen und Macht, Recht und Moral. Wiesbaden: Springer VS 2022, 961 S., eBook, 64,99 €
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Max Haller, Die revolutionäre Kraft der Ideen: Gesellschaftliche Grundwerte zwischen Interessen und Macht, Recht und Moral. Wiesbaden: Springer VS 2022, 961 S., eBook, 64,99 €

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Published/Copyright: April 26, 2025
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Max Haller, Die revolutionäre Kraft der Ideen: Gesellschaftliche Grundwerte zwischen Interessen und Macht, Recht und Moral. Wiesbaden: Springer VS 2022, 961 S., eBook, 64,99 €


Max Haller, Jahrgang 1947, Emeritus der Universität Graz, legt hier sein Alterswerk vor, das allein durch seine 938 Seiten die Tendenz zum Paper dementiert. Der Obertitel führt in die Irre: Es geht nicht um eine Theorie des sozialen Wandels, in der die Rolle von Ideen stark gemacht wird, sondern um die Grundwerte, die im Untertitel genannt sind. Auch sie werden nicht im Mittelpunkt widerstreitender Kraftfelder – Interessen, Macht, Recht, Moral – beschrieben, sondern mit einer spezifischen Fragerichtung: Max Webers Diktum, dass Interessen und Ideen die entscheidenden handlungslenkenden Mächte seien, so Haller, korrespondiere mit einer eigentümlichen Schwäche seiner Werte-Theorie: Die These der prinzipiellen Unvereinbarkeit und Gegensätzlichkeit der Werte (Polytheismus-These) und die Forderung nach Werturteilsfreiheit seien wenig überzeugend. Die Soziologie könne im Rückgriff auf Durkheim und Mead wesentlich mehr dazu sagen: „In diesem Werk wird die einigermaßen kühne These vertreten, dass wir durch eine Zusammenschau der Entwicklung philosophischer Ideen, politischer Bewegungen und dem Denken und Verhalten der Bevölkerung mehr oder weniger klar universale Werte erkennen können“ (S. VII).

Es geht also um soziologische Wertbegründung. Das Pluralismusproblem ließe sich durch Konsens der scientific community überwinden. Und wenn dieser Konsens über die Geltung bestimmter Grundwerte erst gewonnen sei, ließen sich durch logische Deduktion politische Gegenwartsfragen entscheiden. Denn Handlungen, Strategien und Institutionen können danach beurteilt werden, ob sie solche Grundwerte tangieren oder verletzen. „Wenn dies der Fall ist, müssen sie abgelehnt werden“ (S. 15).

Max Haller nimmt sich in diesem Buch also nicht mehr und nicht weniger vor, als die wissenschaftliche Begründbarkeit politischer Entscheidungen anhand von Wertkriterien. Deshalb interpretiert er Webers „Wirklichkeitswissenschaft“ über die Wertrationalität neu – für die Soziologie eine fundamentale Innovation, sofern es auf diesem Weg gelingen könnte, die Kluft zwischen analytischen und kritischen Ansätzen zu überbrücken.

Ein großer Anspruch, der einen großen Bogen verlangt. Haller geht dabei nicht wissenschaftsgeschichtlich vor, indem er etwa untersucht, wie dasselbe Anliegen zuvor von Holbach, Saint-Simon, Marx, Comte, Quetelet – im Weber’schen Kontext von Wilhelm Ostwald (Weber, 1909) – oder Otto Neurath angegangen wurde, um diesen letztlich gescheiterten Versuchen seinen eigenen Ansatz entgegenzusetzen, sondern setzt bei einer Ideengeschichte der „Grundwerte“ an. Das elementare Interesse des Buches versperrt ihm dabei den Ausweg, den die soziologische Theorie so gerne geht: Werte über ihre soziale Form zu synthetisieren, etwa durch funktionale Äquivalenz. Haller geht einen entschiedenen Schritt weiter: Kausal gehaltvolle und erklärungskräftige Aussagen könne man nur treffen, „... wenn man die relevanten Werte auch inhaltlich bestimmt und sich nicht nur darauf beschränkt, die Formen des Sozialen herauszuarbeiten“ (S. 22). Inhaltlich seien die Grundwerte weitgehend deckungsgleich mit den Menschenrechten, wie sie nach dem II. Weltkrieg institutionalisiert worden seien.

Im 1. Teil des Buches seziert Haller verschiedene soziologische Klassiker (Weber, Durkheim, Parsons, Etzioni, Luhmann) auf die Frage, welche Rolle Grundwerte in ihrem theoretischen Ansatz spielten, um sich dann selbst im Rahmen einer (sehr weit gefassten) „Kritischen Theorie“ zu verorten. Habermas‘ Diskurstheorie, die auf dem Grundwert „Emanzipation“ aufbaue, und Honneths Theorie der Anerkennung werden genannt, um dann mit George H. Mead zu schließen, dass zwischen Interessen und Werten kein Grundkonflikt bestehe. „Gesellschaftliche Grundwerte sind genau jene, welche sowohl individuellen Interessen wie gesellschaftlichen Funktionserfordernissen zugrunde liegen“ (S. 70). Damit sind die Anforderungen definiert: Grundwerte müssen ausreichend Gehalt haben, um moralische Unterscheidungen treffen zu können, an menschliche Grundbedürfnisse anschließen, gesellschaftlich funktional und universell gültig sein (S. 108).

Haller identifiziert neun „gesellschaftliche Grundwerte“, die wiederum in existentielle (Leben, Sicherheit, Frieden), politische (Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit) und soziale (Menschenwürde, Inklusion, Wohlstand) Werte unterteilt sind. Sie werden durch Beispiele für wertorientiertes Handeln (Leben: Achtung und Schutz der Natur; Fürsorge für Kinder, Kranke, Alte; Gesundheitsvorsorge) und wertverletzendes Handeln (Leben: Unachtsamkeit; Gefühllosigkeit) etc. konkretisiert (Übersichtstabelle: S. 123). Diese Werte seien nicht „westlich“, sondern universell und würden in allen großen Religionen und Denksystemen sowie in vielen Verfassungen „mehr oder weniger voll anerkannt“ (S. 99).

Im zweiten Teil seines Buches nimmt sich Haller diese Grundwerte in Einzelkapiteln vor. Sie verweben Ideengeschichte (Kant, Einstein, Schweizer etc.) mit politischen Ereignissen und Entwicklungen, was sich zu einem enzyklopädischen Panorama entfaltet: Vom Nibelungenlied über Clausewitz zur Balsamierungspraxis der Pharaonen, dann weiter über Schopenhauer und Nietzsche zu Gobineau, Darwin und dem Naturrechtsdenken reicht der Bogen der Argumentation innerhalb von nur fünf Seiten, um dann zu Hannah Arendt und Martha Nußbaum vorzustoßen, bevor die Erfolge der Lebenswissenschaften erörtert werden. Eingestreut ist in einem Kasten der Sonnengesang des Heiligen Franziskus, gefolgt von Reflexionen über Gesundheit und Krankheit, wiederum in einem Kasten zu Risikosportarten mit einem Kletterbild illustriert.

So geht es über 400 Seiten. Soziologische Fachliteratur wird eingesponnen, die Argumentationsrichtung zielt immer auf Synthese: Schon Comte habe die Soziologie als Wissenschaft der sozialen Beziehungen definiert, Simmel und Weber ebenso. Die ideengeschichtlichen Wurzeln der Inklusionstheorie identifiziert Haller in Nächstenliebe, Brüderlichkeit und Solidarität, die Bindungsbedürftigkeit des Menschen wird als weiterer Beleg angeführt, illustriert durch einen Ausblick auf die Arbeit von „Ärzte ohne Grenzen“ sowie die buddhistische und konfuzianische Tugendlehre, um dann eine Seite weiter auf die Französische Revolution, Saint-Just und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte umzuschwenken. Diesem synthetischen Generalzugriff kann sich auch die soziologische Theorie nicht entziehen: „Inklusion“ und „Integration“, von Luhmann durch Zuordnung zu Differenzierungsstufen unterschieden, sind bei Haller synonym gebraucht und schon von den Webbs in der Fabian Society aufgegriffen worden.

Im dritten Teil wendet sich Haller dem Gegenwartsgeschehen zu. Zwischen den Grundwerten, so argumentiert er, bestehe kein Konflikt, auch kein beziehungsloses Nebeneinander, sondern sie ergänzten sich durch Komplementarität: kein Schutz des Lebens ohne Gleichheit, keine Freiheit ohne Sicherheit. Mit dieser Perspektive geht er die größten politischen Herausforderungen an: die Klimakrise, die autoritären politischen Systeme und die neuen Kriege.

Hier zeigt sich sein unbesiegbarer Optimismus: Das Wachstum der Demokratie illustriert er durch einprägsame Statistiken, gegenläufige Beispiele diskutiert er, indem sie letztlich in diesen säkularen Entwicklungstrend integriert werden. Russland etwa habe sich unter Putin zu einem autoritären Staat entwickelt, die „Großmachtambitionen Russlands werden aber irgendwann verblassen und auch Putin wird einmal abtreten müssen. Daher scheint Russland keinen Fall darzustellen, wo die Durchsetzung der Demokratie langfristig als sehr unwahrscheinlich erscheint“ (S. 786). In China dagegen lebe die orientalische Despotie weiter, auch islamische Länder zeigten Defizite und der Westen populistische Bewegungen. In der Summe aber identifiziert er zahlreiche Faktoren, aus denen er den Schluss zieht: „Es erscheint daher nicht illusionär, mit Kant anzunehmen, dass es einen langfristigen Trend zur Realisierung der gesellschaftlichen Grundwerte in sozialen und politischen Institutionen gibt“ (S. 856). Wenn die UNO mehr Gewicht bekäme und die EU den Sicherheitsinteressen der Großmächte China und Russland Rechnung tragen würde, sei zwar nicht sicher, dass China und einige islamische Länder zu Kopien der angelsächsischen Demokratien würden. „Ein weltweites friedliches Zusammenleben könnte dann aber dennoch gesichert sein“ (S. 859).

Wie ein solches Werk beurteilen? Zunächst fällt auf, was bei einem welt- und geschichtsübergreifenden Themenzugriff gar nicht anders geht: Das Buch lebt von Sekundärkenntnissen. Die Anzahl der referierten Wikipedia-Artikel ist Legion, was der Autor selbst erklärt (S. VII). Weite Teile lesen sich wie ein großer Zeitungsartikel, der eine bestimmte These verifizieren möchte. Die Kenntnistiefe ist eklektisch und zeigt verblüffende Lücken. Einer fast 80-seitigen Literaturliste vorzuwerfen, dass Titel fehlen, ist zwar philiströs, wenn aber die zentralen Referenzwerke der Kritik am eigenen Ansatz fehlen, ist das kein zufälliges Opfer eines performativen Universalgelehrtentums. Eine Arbeit, die bei Max Weber ansetzt und ihn dann korrigiert, sollte zur Kenntnis genommen haben, dass derselbe Gegensatz zwischen Weber und dem späten Rickert ebenso diskutiert wurde (Rickert, 1912).

Die zentralen Argumente gegen die Wertphilosophie hat aber Carl Schmitt formuliert: Die ökonomische Herkunft des Wortes determiniert seine fundamentale Relationalität, mit der man nicht die vorreflexive Geltung von Institutionen substituieren kann: Was als „Wert“ deklariert ist, kann auf- und abgewertet werden. Praktisch gewendet: Aus „Werten“ lässt sich alles und nichts begründen. Dass Haller aufgrund seiner Selbstidentifikation mit der Kritischen Theorie Carl Schmitt nicht mag, ist verständlich, aber die „Tyrannei der Werte“ (Schmitt, 1979) nur durch einen Zeitungsartikel des Kollegen Rudolf Burger (S. 110) zu rezipieren und sie in einem Nebensatz dann als „falsch“ zu erklären, wirkt wie die Widerlegung des Historischen Materialismus‘ im Vierzeiler eines pietistischen Gebetsbuches. Die weitreichenden politischen Schlüsse lassen sich aus den „Grundwerten“ wie aus allen Abstrakta nicht deduzieren: Dient es der „Sicherheit“, Putin zu bekämpfen oder sich ihm zu fügen? Man kann das so sehen wie Max Haller, man kann es aber auch anders sehen. Das Politische bleibt politisch, also Entscheidung, auch und gerade, wenn es sich auf „gesellschaftliche Grundwerte“ stützt. Wäre das anders, Politik über Grundwerte deduzierbar, wären juristische Verfahren der Grundrechtsabwägungen hinfällig.

Max Haller legt in einem großen Alterswerk seine Weltsicht vor. Man ehre und achte ihn für diese Leistung. Wissenschaft ist das aber nicht mehr.

Literatur

Rickert, H. (1912). Lebenswerte und Kulturwerte. Mohr.Search in Google Scholar

Schmitt, C., Jüngel, E., & Schelz, S. (1979). Die Tyrannei der Werte. Lutherisches Verlagshaus.Search in Google Scholar

Weber, M. (1909). „Energetische“ Kulturtheorien. Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 29, 575–598.Search in Google Scholar

Online erschienen: 2025-04-26
Erschienen im Druck: 2025-05-23

© 2025 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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Downloaded on 15.11.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/srsr-2025-2012/html
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