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Theorie oder Therapie? Wie die prekäre Beziehung von Rechtssoziologie und Rechtstheorie zu verbessern ist

Alfons Bora, Responsive Rechtssoziologie – Theoriegeschichte in systematischer Absicht: Soziologische Theorie des Rechts 1. Wiesbaden: Springer VS 2023, 376 S., eBook, 42,79 €
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Veröffentlicht/Copyright: 23. Mai 2025
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Alfons Bora, Responsive Rechtssoziologie – Theoriegeschichte in systematischer Absicht: Soziologische Theorie des Rechts 1. Wiesbaden: Springer VS 2023, 376 S., eBook, 42,79 €


Um die Rechtssoziologie im deutschsprachigen Raum ist es seit Jahrzehnten nicht gut bestellt. Das liegt daran, dass die Rechtswissenschaft sich in den 1970er Jahren in einem Machtkampf der Disziplinen durchgesetzt hat und unter den Schlagwörtern „rechtssoziologische Jurisprudenz“ und „Rechtstatsachenforschung“ erfolgreich ihre Deutungshoheit bezüglich des Gegenstands „Recht“ gegen die Soziologie durchgesetzt hat. – So in etwa sah bislang meine Deutung der Situation aus. Durch die Lektüre des Buches von Alfons Bora erfuhr ich, dass sie nicht ganz falsch ist, musste aber auch lernen, dass es sich dabei nur um eine von vielen Facetten eines komplexen Spannungsverhältnisses zwischen den Disziplinen handelt, für das in einem erheblichen Maße auch die Soziologie mit verantwortlich ist. Dabei geht es nicht allein – wie Bora überzeugend nachweist – um professionspolitische Interessen, sondern um die Ausrichtung der Theorie des Rechts: die theoretischen Bestimmungen des Gegenstands sowie vor allem auch die Vorstellungen der Disziplinen von ihrem Verhältnis zu ihren jeweiligen Umwelten, in denen die jeweils andere Disziplin einen prominenten Platz einnimmt. Das Buch verfolgt das anspruchsvolle Unterfangen, eine historisch-wissenschaftssoziologische Rekonstruktion der prekären Beziehung von Rechtssoziologie und Rechtswissenschaft mit einer immanenten Analyse der jeweiligen Theoriekonstruktionen zu verbinden, um darüber sukzessive die Konturen einer soziologischen Theorie des Rechts zu entwickeln, die einen fruchtbaren Austausch zwischen den Disziplinen ermöglichen kann.

Ausgangspunkt und fortlaufender Bezugspunkt des Buches ist tatsächlich eine deutliche Krisendiagnose. Bora spricht vom „institutionellen Scheitern“ der Rechtssoziologie im deutschsprachigen Raum (z. B. S. 17). Er ist in seinem Urteil vielleicht besonders deutlich, aber grundsätzlich damit nicht allein, wie die vielfältigen Stimmen belegen, die er referiert. Zwar gibt es (weiterhin) eine Sektion Rechtssoziologie innerhalb der DGS sowie eine entsprechende Fachgesellschaft innerhalb der Rechtswissenschaft, es gibt eine rechtssoziologische Fachzeitschrift und einen einigermaßen regen Tagungsbetrieb. Aber die Rechtssoziologie ist institutionell (über Professuren) nur noch an juristischen Fakultäten (in Gestalt von Teildenominationen) verankert, es gibt keine Forschungsinstitute, das Publikations- und Tagungswesen, so Bora, arbeite auf vergleichsweise niedrigem Niveau und lebe von externen Impulsen wie der „Law and Society“-Bewegung. Vor allem spiele die Rechtssoziologie und spiele auch das Recht selbst in soziologischen Debatten keine Rolle. Das gelte insbesondere für die Gesellschaftstheorie.

Muss man diese Diagnose des institutionellen Scheiterns mit Blick auf andere Teilbereiche der Soziologie nicht relativieren? Bora selbst hält fest, dass es allgemeine Gründe gibt, die dabei eine Rolle spielen und nicht allein den Gegenstandsbereich des Rechts betreffen, wie etwa eine Tendenz der zunehmenden Ent-Disziplinierung (S. 4). Sie betrifft auch andere Spezialsoziologien. Aus Familien- und Migrationssoziologie wird Familien- und Migrationsforschung, die Geschlechtersoziologie droht in einem diffusen Bereich der Gender Studies aufzugehen, die disziplinäre Zuordnung verschwindet zugunsten kleinteiliger Gegenstandsbeschreibungen aus den Denominationen soziologischer Professuren. Im Hinblick auf die institutionelle Verankerung geht es Medizin-, Kunst- und auch Religionssoziologie sicherlich nicht besser; die Professionssoziologie hatte schon immer einen schweren Stand. In manchen Bereichen gibt es nicht einmal mehr in erheblicher Anzahl Kolleg:innen, die sich über den Zustand beklagen könnten. Umgekehrt weisen nur wenige Spezialsoziologien einen soliden Bestand an Denominationen sowie eine rege Forschungs- und Publikationstätigkeit von genuinen Soziolog:innen auf, wie etwa die Wirtschafts- und Organisationssoziologie. Diese Situation mag man beklagen, sie ist aber für den vorliegenden Zusammenhang nicht weiter relevant.

Entscheidend für die wahrgenommene Krise der Rechtssoziologie ist vielmehr das als prekär angesehene Verhältnis zur Nachbardisziplin. Bora jedenfalls ist der Überzeugung, dass es mit dem Betrieb der Rechtssoziologie besser vorangehen würde, wenn sie sich zur Rechtswissenschaft in ein angemessenes Verhältnis setzte. Eine solche Einschätzung verweist auf ein Spezifikum dieses Gegenstandsbereichs. Die Wirtschaftssoziologie kommt offenbar gut ohne die Wirtschaftswissenschaft aus, und auch die Religionssoziologie ist auf eine Zusammenarbeit mit Religionswissenschaft und Theologien nicht wirklich angewiesen. Entscheidend ist in diesen Fällen, wie auch in den anderen Spezialsoziologien, dass die Disziplinen, die ihre Gegenstandsbereiche ebenfalls beobachten, sie eben nur beobachten und nicht in ihrer Praxis auch wesentlich prägen. Genau das ist aber bei der Rechtswissenschaft der Fall. Sie ist an der Aufrechterhaltung des Rechtssystems in erheblichem Maße beteiligt; ihre Deutungen, Konzepte und Problemstellungen gehen ein in die Praxis und Weiterentwicklung des Rechts. Entsprechend ist die Rechtswissenschaft integraler Teil des Gegenstandsbereichs der Rechtssoziologie. Dabei gehört für Bora zu einem besseren Verhältnis zur Rechtswissenschaft dazu, dass die Rechtssoziologie auch ein Stück weit deren Praxisperspektive zu integrieren in der Lage sein müsse.

Wie eingangs angesprochen, hat Boras Analyse zwei Stoßrichtungen, die miteinander verbunden sind. Zum einen geht es darum, in einer wissenschaftssoziologisch-historischen Analyse zu zeigen, dass und wie sich das Verhältnis von Rechtssoziologie und Rechtstheorie in Deutschland in den letzten 120 Jahren prekär entwickelt hat. Dies wird detailliert und überzeugend nachgezeichnet. Tatsächlich gewinnt man in der Lektüre den sehr deutlichen Eindruck einer konfliktreichen Beziehung, in der, wie bei einer dysfunktionalen Ehe, beide Teile miteinander nicht können, es ohne einander aber auch nicht geht. Dabei handelt es sich um eine regelrechte Sandkastenbeziehung: Für mich jedenfalls war es überraschend zu sehen, dass – wie Bora im Anschluss an Doris Schweitzer und andere plausibel darlegt – beide Disziplinen zu Beginn des 20. Jahrhunderts ihre Autonomie erst in einem spannungsreichen Bezug aufeinander gewinnen (Kap. 3.1). Dabei ist die beiderseitige Autonomie der Disziplinen gleichzeitig Teil des Problems. Bora unterscheidet idealtypisch sechs Modelle von Interdisziplinarität (S. 60–65), von denen insbesondere zwei das vergangene und gegenwärtige Verhältnis der Disziplinen zueinander kennzeichnen. Das von ihm zu Recht mit „Indifferenz“ betitelte Modell ist zwar durchaus kennzeichnend für den gegenwärtigen Betrieb als eine pragmatische „Koexistenz inhaltlich beliebiger ‚Ansätze‘“ (S. 62), führt aber den Austausch auch nicht weiter: „Man lässt alles gleichermaßen gelten und verzichtet dadurch auf die argumentative Klärung von Geltungsansprüchen“ (S. 63). Demgegenüber favorisiert Bora eine Interdisziplinarität, in der die Fächer an ihrer „Autonomie“, das heißt ihrer je eigenen Perspektivik auf den Gegenstand Recht festhalten. Faktisch führte allerdings ein solcher Autonomieanspruch zu prekären asymmetrischen Beziehungen. Es wurde eine Deutungshoheit – Bora spricht vom Modell „sachlicher Hierarchie“ – reklamiert, die der jeweils anderen Disziplin eine nachgeordnete Position zuwies. Im Fall der Rechtswissenschaft nahm das typischerweise die Zuweisung einer bloß dienenden Rolle soziologischer Forschung an (Stichwort „Rechtstatsachenforschung“), während umgekehrt die Rechtssoziologie von der Rechtswissenschaft eine adäquate Rezeption der eigenen Theorievorschläge erwartete und sich über deren Ausbleiben enttäuscht zeigte. Bora sieht nun die Lösung des Problems in einem Modell der „Responsivität“, für das sich wissenschaftsgeschichtlich allerdings bislang nur vereinzelte Ansätze finden lassen. Dabei geht es nicht allein um eine wechselseitige Haltung der Offenheit, der Bereitschaft, sich von den Konzepten und Fragestellungen der jeweils anderen Disziplin irgendwie anregen zu lassen, sondern vor allem um die theoretischen Vorkehrungen, die einen solchen fruchtbaren Austausch ermöglichen.

Das verweist auf die Architektonik der soziologischen Rechtstheorie selbst, und damit auf die zweite Stoßrichtung der Analyse. Für Bora ist nämlich ein Theoriedefizit der Rechtssoziologie (19) für deren prekäre Lage mitverantwortlich; die dominanten Theorieangebote waren nicht ausreichend anschlussfähig für die Fragestellungen der Rechtswissenschaft. Eine responsive Theorie, die dies ermöglicht, zu denken, ist aber gar nicht so einfach, insbesondere wenn man – wie Bora mit Rekurs auf die Systemtheorie – von sehr starken Annahmen von Autonomie ausgeht. Wie soll etwas, das eigentlich zur Umwelt des disziplinären Systems gehört, im System selbst verankert werden? Bora entwickelt zur Beantwortung der Frage ein durchaus komplexes Begriffsinstrumentarium. Dabei greift er insbesondere auf Überlegungen von David Kaldewey zurück und formuliert die Anforderungen an die Architektonik der Rechtstheorie so, dass sie geeignet sein muss, die Rechtswissenschaft in ihrem Normbezug als „Anlehnungskontext“ zu begreifen; die wissenschaftliche Autonomie der (Rechts-)Soziologie müsse auf eine Weise aufrechterhalten werden, in der die Umwelt „mitspricht“ (S. 52). So sei es möglich, zu einer symmetrischen Interdisziplinarität zu gelangen. Vor diesem Hintergrund werden die rechtssoziologischen Programmatiken und Theorieangebote daraufhin durchleuchtet, inwieweit sie in diesem Sinne Ansätze von Responsivität aufweisen.

Bora gelingt mit seiner Analyse ein umfassender Überblick von den Anfängen bis zur Gegenwart, bei der nicht nur die Theorieentwicklung im deutschsprachigen Raum, sondern auch der internationale Diskurs berücksichtigt wird. Dabei erweist sich die Suche nach Responsivität beziehungsweise die Perspektive auf die Art und Weise der eigenen Positionierung zu Rechtspraxis und Rechtswissenschaft als neuer, erhellender Zugang zum Feld der Rechtssoziologie. Zudem werden gewissermaßen en passant im Durchgang durch die Theorien – auch jenseits von Responsivität – Standards einer allgemeinen soziologischen Theorie des Rechts bestimmt. Wie einleitend angekündigt, überwiegt die Defizitdiagnose. Nicht allein in programmatischer Hinsicht (manifest), sondern auch in den Theorieentwürfen selbst (latent) dominieren Positionen, die Autonomie – also Deutungshoheit und innere Abgeschlossenheit gegenüber der Rechtswissenschaft – betonen und damit ein asymmetrisches Verhältnis einrichten. Nur bei Weber, Geiger, Schelsky und vor allem Luhmann, der aus guten Gründen besonders ausführlich behandelt wird, findet Bora Ansätze von Responsivität, die aber zugunsten von Autonomiepositionen nicht weiterverfolgt werden.

Von der Ausrichtung der Analyse, ein grundlegendes Theoriedefizit zu beheben, erwartet man bei der Lektüre auch eine „positive“ Konzeption einer responsiven soziologischen Rechtstheorie. Die bleibt jedoch weitgehend aus. Neben den genannten Ansätzen, die sicherlich ausreichen, um die eigene Position programmatisch zu umreißen, werden nur skizzenhaft und im Kontext spezifischer Probleme – etwa im Rekurs auf Arbeiten Gunther Teubners – theoretische Ergänzungen formuliert. Eine allgemeine responsive Rechtstheorie wird nicht entworfen, sie bleibt Programm. Tatsächlich sind es am Ende weniger die Deutungsinhalte als die Handlungskompetenzen des rechtssoziologischen Personals, die „symmetrische Interdisziplinarität“ – so der Titel des letzten Kapitels – ermöglichen sollen und durch ein geeignetes rechtssoziologisches Curriculum sicherzustellen seien.

Die Lösung für die Beziehungsprobleme – das ist die Pointe am Schluss – wird nicht in der Theorie, sondern in einer Art Paartherapie gesucht. Dazu greift Bora in einer überraschenden Weise auf die Professionalisierungstheorie Ulrich Oevermanns zurück. Diese Theorie läuft im Kern darauf hinaus, dass – systemtheoretisch formuliert – die Leistungsrollen der gesellschaftlichen Subsysteme Wissenschaft, Kunst, Medizin (Therapie) und Recht in ihrem Berufshandeln eine gelungene Vermittlung von Theorie und Praxis vollziehen. Am Beispiel des ärztlichen bzw. therapeutischen Handelns lässt sich dies am einfachsten verdeutlichen: Ausgangspunkt ist eine existenzielle Krise (Krankheit), die der Patient[1] selbst nicht lösen kann. Das Eingeständnis dieser Krise findet seinen Ausdruck in der Konsultation eines Arztes; Ziel ist die Wiederherstellung der Handlungsautonomie. Die Beziehung zwischen Arzt und Patient nimmt dabei die Form eines Arbeitsbündnisses an und nicht etwa die einer Dienstleistungsbeziehung. Der Patient kann keinen Behandlungsauftrag erteilen, weil er vor dem Hintergrund unzureichenden Wissens und vor allem aufgrund seiner Involviertheit in das Krisengeschehen nicht in der Lage ist, eine Definition des Problems vorzunehmen. Der Diagnose-Therapie-Zusammenhang im ärztlichen Handeln ist gekennzeichnet von einer stellvertretenden Deutung des Problems, in der sich die widersprüchlichen Orientierungen an der naturwissenschaftlichen Begründungsbasis einerseits und den fallspezifischen Besonderheiten anderseits vermitteln.

Dieses Modell auf die Beziehung der zwei Disziplinen zu applizieren, erscheint – so kann man vermuten – aus zwei Gründen attraktiv: Es verspricht zum einen eine Intervention bei Wahrung der Autonomie des Gegenübers (also potentiell auch die Autonomie der Disziplinen), zum anderen eine Vermittlung von Theorie und Praxis (und bietet damit ein Korrektiv für die von Bora verschiedentlich kritisierte Zurückhaltung der soziologischen Rechtstheorie hinsichtlich praktischer Leistungen für Probleme ihrer Umwelt). Gleichwohl ist eine unmittelbare Übertragung schon deshalb nicht sinnvoll, weil sie wieder eine Asymmetrie – in diesem Fall: zwischen behandlungsbedürftiger und therapierender Position – einrichten würde. Eine Lösung sieht Bora in einer professionalisierungstheoretischen Konzeption von Beratung als Abwandlung des Therapiemodells (S. 319–324). Die Idee ist, dass die wechselseitige Verwiesenheit der Disziplinen aufeinander Erkenntniskrisen auslöst, die jede Disziplin für sich nicht lösen kann. Das erzeuge einen Beratungsbedarf, der in einem Arbeitsbündnis der nun doppelt komplementären – und damit nicht mehr eindeutig asymmetrischen – Konstellation von Beratendem und Beratenem aufgefangen werden kann. Als Pendant zum Honorar fungieren die wechselseitig erbrachten Erkenntnisleistungen.

Mich hat diese Konzeption nicht überzeugt. Zum einen – aber das ist ein eher abstraktes Argument – lässt sich meines Erachtens Beratung allgemein nicht als professionalisierungsbedürftiges Handeln ausweisen. Sie changiert zwischen bloßer Informationsbeschaffung und einer Perspektivenübernahme, die selbst Praxis ist („ich an deiner Stelle...“).[2] Dann sehe ich nicht recht, worin im gedachten Fall die in sich widersprüchlichen Handlungsanforderungen bestehen sollen, die für die Professionalisierungstheorie essentiell sind. Auch die Vorstellung von Erkenntnisleistungen als Honorar erscheint mir zu metaphorisch, denn ein Honorar ist etwas (Geld), das man weggibt, weshalb es im therapeutischen Kontext auch als praktischer Ausdruck des Leidensdrucks fungiert. Das gilt nun für Erkenntnisleistungen nicht, die gerade im interdisziplinären Austausch immer auch welche „für sich“ sind und die man dementsprechend auch behält. Und schließlich ist Boras Konzeption angewiesen auf das Eingeständnis einer Krise; Ausgangspunkt ist die Selbstzuschreibung von Beratungsbedürftigkeit. Damit setzt sie Responsivität als eine Haltung der Akteure eher voraus, als dass diese sie ermöglicht. Wenn man auch sicherlich sagen kann, dass gelungene Interdisziplinarität zwischen Rechtssoziologie und Rechtswissenschaft etwas von wechselseitiger Beratung an sich hat, lässt sich daraus kein Professionalisierungsbedarf für die Rechtssoziologie entwickeln.

Ich hatte eigentlich gehofft – und ein wenig auch erwartet – dass Bora im Verlauf seiner Analyse in einer anderen, direkteren Weise an die Professionalisierungstheorie Ulrich Oevermanns anknüpfen würde, denn schließlich bezieht diese Theorie auch den Bereich des Rechts mit ein. Wie auch Bora feststellt: „Die Jurisprudenz ist eine klassische Profession“ (S. 312). Die Erwartung speiste sich aus verschiedenen „Spuren“, die ich im Text sah. Zum einen wird in der Auseinandersetzung mit Luhmann darauf hingewiesen, dass eine Chance der Weiterentwicklung der soziologischen Rechtstheorie in einer stärkeren Fokussierung auf „Entscheidung“, auf das Recht als Entscheidungen treffendes System bestehen würde (S. 155, 158, 162). Zum anderen wird verschiedentlich bemerkt, dass im interdisziplinären Verhältnis Übersetzungsleistungen erforderlich seien (S. 292, 296), was die Frage aufwirft, auf welcher Grundlage die Übersetzung von einer Perspektivik und Begriffssprache in die andere erfolgen kann. Hier würde sich tatsächlich eine Professionalisierungstheorie des Rechts anbieten. Ich muss mich an dieser Stelle auf wenige Andeutungen zu ihrem Gehalt beschränken: Diese Theorie begreift Recht als spezifische Praxis der Entscheidung von Konflikten auf der Grundlage allgemein geltender normativer Bestimmungen. Die zugrunde liegenden Konflikte stellen nicht nur existentielle Krisen für die unmittelbar Betroffenen dar, sondern verweisen auf gesellschaftliche normative Geltungskrisen. Im Fokus der Rechtspraxis steht die Wiederherstellung der normativen Ordnung (Strafrecht) beziehungsweise die Klärung der Geltung von Ansprüchen (Zivilrecht). Deshalb steht hinter dem konkreten Klientenbezug (Mandanten, Kläger, Beklagte) immer auch ein allgemeiner Bezug auf die Gesellschaft als Klientin. Die zentrale widersprüchliche Handlungsanforderung wird – ganz im Sinne klassisch rechtswissenschaftlicher Konzeptionen – in der Vermittlung zwischen den je fallspezifischen Aspekten der Sachverhalte und den allgemein geltenden normativen Tatbeständen gesehen. Weitere Handlungsprobleme der professionellen Verfahrensbeteiligten werden in Abhängigkeit von den jeweiligen materialen Rechtsbereichen rekonstruiert.

Zugegeben, eine umfassende Professionalisierungstheorie des Rechts liegt nicht vor. Schon gar nicht gibt es Versuche eines Ausbaus zu einer allgemeinen Rechtstheorie oder einer Integration in vorliegende, etwa systemtheoretische Deutungsangebote. Oevermanns zentrale professionalisierungstheoretische Schrift (Oevermann, 1996) belässt es bei allgemeinen Kennzeichnungen, etwas mehr findet sich an anderem Ort (Oevermann, 1997); eine Ausarbeitung wie im Fall der Therapie fehlt jedoch. Allerdings bieten an die Theorie anschließende Arbeiten, bezogen auf materiale Erklärungsprobleme (Rechtsprechung, anwaltliche Vertretung im Straf- und Zivilrecht), theoretische Weiterentwicklungen (Maiwald, 1997, 2004; Wernet, 1997). Ungeachtet der Frage ihres rechtstheoretischen Potentials bietet sich die Professionalisierungstheorie aber als Grundlage für wechselseitige Übersetzungsleistungen sowie allgemein für responsive interdisziplinäre Beziehungen von Rechtssoziologie und Rechtswissenschaft im Sinne Boras an, weil sie ein Theorieangebot für einen zentralen gemeinsamen Gegenstand bereithält: die Praxis der Rechtsprechung, ihre Strukturbedingungen und Handlungsanforderungen. Damit wäre der interdisziplinäre Austausch nicht auf eine vorab gegebene Haltung angewiesen, sondern könnte sich auf eine konzeptionell begründete Perspektive stützen. Dazu gehört von soziologischer Seite auch ein von der Sache erzwungenes Sich-Einlassen auf spezifisch rechtliche Fragen, inklusive des dafür jeweils erforderlichen Erwerbs an juristischer Expertise. Man kann dies also als ein Angebot an die Rechtswissenschaft verstehen.

Um abschließend noch einmal die Paarbeziehungsmetapher zu bemühen: Aus der Familiensoziologie weiß man, dass gelungene Paarbeziehungen über einen geteilten „Nomos“, einen Modus der Kooperation verfügen, der die Grundlage für ihre Beziehungspraxis im Alltag bildet. Wenn das im Paarbildungsprozess von Rechtssoziologie und Rechtswissenschaft bislang ausgeblieben ist, könnte die Professionalisierungstheorie eine Chance bieten, der Beziehung neuen Schwung zu verleihen.

Literatur

Maiwald, K.-O. (1997). Die Herstellung von Recht. Eine exemplarische Untersuchung zur Professionalisierungsgeschichte der Rechtsprechung am Beispiel Preußens im Ausgang des 18. Jahrhunderts. Duncker & Humblot.10.3790/978-3-428-48748-6Suche in Google Scholar

Maiwald, K.-O. (2004). Professionalisierung im modernen Berufssystem. Das Beispiel der Familienmediation. VS Verlag.Suche in Google Scholar

Oevermann, U. (1996). Theoretische Skizze einer revidierten Theorie professionalisierten Handelns. In A. Combe & W. Helsper (Hrsg.), Pädagogische Professionalität. Untersuchungen zum Typus pädagogischen Handelns (S. 70–182). Suhrkamp.Suche in Google Scholar

Oevermann, U. (1997). Die Architektonik einer revidierten Professionalisierungstheorie und die Professionalisierung rechtspflegerischen Handelns. Vorwort zu A. Wernet, Professioneller Habitus im Recht (S. 9–20). edition sigma.Suche in Google Scholar

Wernet, A. (1997). Professioneller Habitus im Recht: Untersuchungen zur Professionalisierungsbedürftigkeit der Strafrechtspflege und zum Professionshabitus von Strafverteidigern. edition sigma.Suche in Google Scholar

Online erschienen: 2025-05-23
Erschienen im Druck: 2025-05-23

© 2025 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

Artikel in diesem Heft

  1. Frontmatter
  2. Frontmatter
  3. Editorial
  4. Symposium
  5. Theorie oder Therapie? Wie die prekäre Beziehung von Rechtssoziologie und Rechtstheorie zu verbessern ist
  6. Recht als Gegenstand, Disziplin oder Praxis?
  7. Zukunftsfähigkeit der Rechtssoziologie
  8. Essay
  9. Alles schlecht von Marrakesch bis Bagdad? Über den Sinn von Jugendstudien über eine ganze „Region“
  10. Themenessay
  11. Künstliche Intelligenz und gesellschaftliche Machtverhältnisse
  12. Sammelbesprechung
  13. Aktuelle Fragestellungen der Mediensoziologie
  14. Doppelbesprechung
  15. Tafelläden gegen Ernährungsunsicherheit?
  16. Einzelbesprechung Alter(n) und Gesellschaft
  17. Vera Miesen, Engagement und Habitus im Alter: Milieuspezifische Engagementtätigkeit im sozialen Nahraum. Bielefeld: transcript 2022, 270 S., kt., 44,00 €
  18. Einzelbesprechung Daten, Algorithmen und Digitaler Kapitalismus
  19. Markus Unternährer, Momente der Datafizierung: Zur Produktionsweise von Personendaten in der Datenökonomie. Bielefeld: transcript 2024, 258 S., kt., 39,00 €
  20. Einzelbesprechung Kreativitätsforschung
  21. Konstantin Hondros, Liminale Kreativität: Praktiken kleinster Transformationen in der Produktion von Soundalikes. Marburg: Büchner-Verlag 2023, 402 S., br., 37,00 €
  22. Einzelbesprechung Mediensoziologie
  23. Christian Schulz, Infrastrukturen der Anerkennung: Eine Theorie sozialer Medienplattformen. Frankfurt am Main: Campus 2023, 453 S., br., 45,00 €
  24. Einzelbesprechung Normative Soziologie
  25. Max Haller, Die revolutionäre Kraft der Ideen: Gesellschaftliche Grundwerte zwischen Interessen und Macht, Recht und Moral. Wiesbaden: Springer VS 2022, 961 S., eBook, 64,99 €
  26. Einzelbesprechung Politikwissenschaft
  27. Tobias Breuckmann, Die Regierung von Migration in Lagern: Geographien der Macht am Beispiel Lesvos. Münster: Westfälisches Dampfboot 2024, 418 S., kt., 40,00 €
  28. Einzelbesprechung Wertlose Wahrheit
  29. Felix Keller, Anonymität und Gesellschaft Bd. I: Die Beschreibung der Anarchie. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2021, 600 S., br., 59,90 € Felix Keller, Anonymität und Gesellschaft Bd. II: Wissenschaft, Utopie, Mythos. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2022, 600 S., br., 59,90 €
  30. Rezensentinnen und Rezensenten des 2. Heftes 2025
  31. Eingegangene Bücher (Ausführliche Besprechung vorbehalten)
Heruntergeladen am 16.11.2025 von https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/srsr-2025-2005/html
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