Home Georg Glasze / Eva Odzuck / Ronald Staples (Hrsg.), Was heißt digitale Souveränität? Diskurse, Praktiken und Voraussetzungen »individueller« und »staatlicher Souveränität« im digitalen Zeitalter. Bielefeld: transcript 2022, 322 S., kt., 35,00 €
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Georg Glasze / Eva Odzuck / Ronald Staples (Hrsg.), Was heißt digitale Souveränität? Diskurse, Praktiken und Voraussetzungen »individueller« und »staatlicher Souveränität« im digitalen Zeitalter. Bielefeld: transcript 2022, 322 S., kt., 35,00 €

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Published/Copyright: May 29, 2024
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Georg Glasze / Eva Odzuck / Ronald Staples (Hrsg.), Was heißt digitale Souveränität? Diskurse, Praktiken und Voraussetzungen »individueller« und »staatlicher Souveränität« im digitalen Zeitalter. Bielefeld: transcript 2022, 322 S., kt., 35,00 €


Es ist verdienstvoll, wenn Autor:innen den Mut haben, sich in einer interdisziplinären Konstellation mit dem komplexen Zustand aktueller Digitalisierungspolitik(en) zu befassen – zumal hier sowohl die soziotechnischen Sachverhalte als auch die Diskurslagen gleichsam nur noch verklumpt zu haben sind: Der digitale Wandel wird durch Schlagworte getrieben. Teils setzen diese auf technische Gegebenheiten auf, teils treiben sie primär Innovationswetten voran, teils dienen sie auch einer Bestandsaufnahme in kritischer Absicht – und folgen dann wiederum politischen (oder auch politikwissenschaftlichen) Konjunkturen. In jeder Hinsicht kommt man da analytisch und gedanklich schwer durch.

Dies gilt auch für den Band Was heißt digitale Souveränität?, der die Versuche einer fachlich breit aufgestellten Erlanger Arbeitsgruppe widerspiegelt, sich in einer kurz zuvor durch mehrere Beiträge der Politikwissenschaftler:innen Julia Pohle und Thorsten Thiel (Pohle & Thiel, 2019; Pohle, 2020; Pohle & Thiel, 2021; Thiel, 2021) angestoßenen Debatte zu positionieren. Pohle und Thiel kritisieren die u. a. durch den Digitalethiker Luciano Floridi (Floridi, 2020) propagierte Idee von mehr digitaler Souveränität für die Demokratien Europas als ideengeschichtlich vorbelastet und zentralistisch. Die Erlanger Gruppe will demgegenüber verdeutlichen, dass der Begriff „Souveränität“ trotz seiner staatstheoretischen (an Territorialität gemahnenden) Vergangenheit „kein einheitliches Konzept“ vermittelt (S. 8). Dazu sei er nicht notwendig individualistisch, sondern lasse sich auf kollektive Akteure übertragen. Der Begriff könne in seinen vielfältigen Funktionen verstanden werden und sei daher durchaus hilfreich.

Mit der so umschriebenen Stoßrichtung ist freilich schon fast alles gesagt. Die insgesamt neun Beiträge des Sammelbandes erwähnen einander ab und an pflichtschuldig, liegen jedoch in ihren Perspektiven weit auseinander und sind von schwankender Qualität.

Der als „historisch angelegt Diskursanalyse“ (S. 8) angekündigte Eröffnungsbeitrag der Kulturgeographen Finn Dammann und Georg Glasze zeichnet die Digitalisierungsgeschichte als eine Art Kurve nach, die von der Staatsskepsis hin zur Erwartung reicht, der Staat habe die Pflicht, seine Bürger:innen vor Datenkonzernen zu schützen. Leider werden die Jahre nach Snowden nur kursorisch behandelt und vor allem bleibt die EU-Programmatik, auf welche die aktuelle Karriere des Souveränitätsbegriffs seit der einschlägigen Kandidatinnen-Rede der Kommissionspräsidentin (Leyen, 2019) aufsetzt, überraschender Weise ganz blass. Das verunklart nicht nur die Bezüge zu den Pointen von Floridi und Pohle & Thiel, sondern lässt ein Problem deutlich werden, an dem der ganze Sammelband krankt: Es geht weder wirklich hinreichend textnah um den Begriff mit seinem Sitz im Diskurs, also in konkreten, auch zitierten Argumenten, noch geht es um reale digitalpolitische Strategien (oder Konflikte, Machtverschiebungen etc.), auf welche der noch junge Ausdruck einwirkt oder reagiert. Stattdessen bleibt es bei einer übergeneralisierten Rede von der digitalen Souveränität als Leitbild, als allgemeine Vorstellung und als „Orientierung“, die aber eben heterogene Vorstellungen in sich trage.

Dass es für allerlei Wichtiges zu sensibilisieren gelte, ist im Grunde auch die Botschaft der Informatiker:innen Zinaida Benenson, Felix Freiling und Klaus Meyer-Wegener. Sie stellen der „Datafizierung“, der Tendenz zum Datensammeln, Formen der als individuelle „Datensouveränität“ betitelten Privacy- und Datenschutz-Maßnahmen gegenüber. Der in der Sache – also rein technologiebezogen – informative Überblick deutet digitale Souveränität als menschzentrierte Technikgestaltung und Nutzerautonomie.

Der Theologe Max Tretter greift das bei Floridi und anderen im Zusammenhang mit dem Postulat der Rückgewinnung von Souveränität genutzte Stichwort der „Kontrolle“ auf. Zur Verwendung des Ausdrucks „digitale Kontrolle“ präsentiert er eine Häufigkeitsanalyse in einem zuvor stark reduzierten Aufsatzsample und extrahiert aus dieser vier Formen digitaler Kontrolle („Infrastruktur“, „Zensur“ „Grenzkontrolle“, „Gesetzgebung“), die sich im Wesentlichen auf das durch die zuvor getroffenen Einschränkungen verbleibende Beispiel der Digitalpolitik Russlands beziehen. Methodisch ist der Beitrag an einer bekannteren linguistischen Studie zu „Data Sovereignty“ (Hummel u. a., 2018) orientiert. Ob sich das Verfahren nicht „prämissenhaft“ (S. 112) selbst limitiert, diskutiert der Autor dankenswerter Weise sehr ausführlich (S. 110–113), schließt dann aber „ethisch“ genannte Einschätzungen an. Die Datenspende wird hier – weit ab von der linguistischen Auswertung – als eine Form digitaler Kontrollausübung angeführt, die „nicht primär restriktiv“ vorgeht, sondern „freigebigkeits-, solidaritäts-, verantwortungs- oder vertrauensbasiert“ denkbar sei. (vgl. S. 114, 116) Welchen Kontrollbegriff Tretter damit (neu?) ins Spiel bringen will und wie dieser wiederum souveränitätstheoretisch aussähe, lässt er offen.

Die Beiträge der Politikwissenschaftlerin Eva Odzuck sowie der Medienwissenschaftlerinnen Katharina Leyerer und Svenja Hagenhoff tragen – jeweils zuvor schon erarbeitete und publizierte – empirische Ergebnisse an das Thema der digitalen Souveränität heran. Odzuck erklärt gegen Pohle und Thiel ein demokratietheoretisch unterlegtes, „normatives“ Konzept von digitaler Souveränität für wünschbar und möglich. Hierzu rekurriert sie ausführlich auf Rawls und Habermas, um danach das vergleichsweise gut untersuchte Beispiel des digitalen Microtargeting in Wahlkämpfen zur Verdeutlichung zu nutzen. Leyerer und Hagenhoff vergleichen Bibliotheken und Suchmaschinen hinsichtlich der „Salience“, also der einflussartigen Macht auf Seiten von Nutzer:innen, die mit der Informationsbereitstellung durch Gatekeeper konfrontiert sind. Überraschenderweise sind die Unterschiede zwischen den beiden Welten gering. Modellbedingt haben die Autorinnen allerdings das Sammlen von bzw. Bezahlen mit Daten über Nutzende außer Acht gelassen (vgl. S. 277). Eine politisch gesehen womöglich entscheidende Informationsasymmetrie klammern sie somit leider aus.

Der rechtswissenschaftliche Beitrag von Christian Rückert, Christoph Safferling und Franz Hofmann findet den Bezug zur Souveränität dort, wo er das Gewicht der Territorialität für die Strafverfolgung diskutiert: Die Vorstellung der Lokalisierung von Daten auf Servern „in“ einem bestimmten Land sehen die Autoren des zweigeteilten Beitrages kritisch. Anstelle eines „traditionellen juristischen Souveränitätskonzepts“ solle der Fokus auf Grund- und Menschenrechtsschutz liegen – was im Datenschutzrecht allerding auch bereits der Fall sei (S. 170–176); somit verletze ein transnationaler Dateneingriff keine staatliche (territoriale) Souveränität (S. 177). Der zweite, vertragsrechtliche Teil des Aufsatzes diagnostiziert – kursorisch und eigentlich ohne Fazit –, das Internet stelle vertragsrechtliche Selbstverständlichkeiten, etwa den Datenschutz und das selbstbestimmte Einwilligen, infrage.

Die Pädagog:innen Jane Müller und Rudolf Kammerl modifizieren den Vorschlag des Aktionsrates Bildung von 2018, den Begriff der digitalen Souveränität auf den individuellen Umgang mit Medien zu übertragen. Individuelle Medienrepertoires seien etwa durch Macht, Regeln oder Bindungen zwischen Menschen geprägt, was kommunikative Praktiken beeinflusse. Zu individualistische Konzepte führten daher zu einer Instrumentalisierung von Bildung. Digitale Souveränität von Individuen könne nur in digital souveränen Gesellschaften entwickelt werden.

Zwei verschwurbelte Beiträge schließlich kann man getrost ungelesen beiseitelegen: denjenigen des Betriebswirtschaftlers und Philosophen Albrecht Fritzsche zur „Konturbildung“, die der Begriff der digitalen Souveränität möglicherweise in Teilen erwirke, sowie den Beitrag der Soziologen Stefan Sauer, Ronald Staples und Vincent Steinbach zu Souveränität, Anerkennung und einigen anderen Großbegriffen als „konzeptionelle Rahmung“ der bekanntermaßen ambivalenten Folgen der Digitalisierung der Arbeitswelt.

Die Bilanz der Lektüre fällt damit durchwachsen aus. Über die verschiedenen, obgleich teils länglichen Anläufe hinweg gewinnt das Thema keine eigenständige Standkraft. Insgesamt scheint die Autor:innengruppe über die Differenzen zwischen „individuellen“ oder aber staats- oder territoriumsbezogenen Ansätzen viel diskutiert zu haben – folgert daraus aber bemerkenswert wenig. Auch die (von Odzuck abgesehen) nur sehr vorsichtige Frontstellung gegen Floridi und Pohl & Thiele wird ohne kritische Argumentation (ja, fast fürchtet man: ohne genauere Lektüre) vollzogen. Überhaupt fehlen durchweg die klaren Selbstpositionierungen in existierenden interdisziplinären Debatten. Ebenso bezieht man das öffentliche Policy-Vokabular rund ums Digitale nicht klar auf den jeweils mitgebrachten eigenen Fachjargon. Stattdessen wird der Dachbegriff digitale Souveränität vage affirmiert und dabei selbst dann zum Phänomen erhoben bzw. als „Sache“ genommen und mit disparat belassenen Assoziationen gefüllt (Nutzerautonomie, Selbstbestimmung, Salience, Datenschutz/Privacy, Datensouveränität etc.). Die Einleitung spricht von der „Souveränität“ als einem „produktiven Mythos“ (S. 16–17). Ein wenig wirkt das, als wolle man sich einen Freibrief ausstellen, alles irgendwie dem Gegenstandsgebiet dann auch zuordnen zu dürfen. Der Fassbarmachung des Titelbegriffes dient dieses Herangehen und dient auch der ganze Sammelband nicht. Indirekt wirbt man eher dafür, ihn als Allgemeinplatz oder sogar gerade deshalb zu verwenden, weil er in verschiedene Richtungen zugleich weist. Bis wohin ist das aber noch Wissenschaft und ab wann nur Mitredenwollen?

Annäherung an oder aber Durchdringung der gewählten Problemstellung? Das Fragezeichen auf dem Buchdeckel scheint lediglich ersteres anzuzeigen, einen Annäherungsversuch. Als Einführung ins Thema eignet sich der Band, der angesichts von Längen und unnötigem Jargon überdies keine Lesefreude ist, jedenfalls nicht.

Literatur

Floridi, L. (2020). The Fight for Digital Sovereignty. What It Is, and Why it Matters, especially for the EU. Philosophy & Technology, 33, 369–378.10.1007/s13347-020-00423-6Search in Google Scholar

Hummel, P., Braun, M., Tretter, M., & Dabrock, P. (2021). Data Sovereignty. A Review, Big Data & Society, 8(1). https://doi.org/10.1177/205395172098201210.1177/2053951720982012Search in Google Scholar

Pohle, J. & Thiel, Th. (2019). Digitale Vernetzung und Souveränität: Genealogie eines Spannungsverhältnisses. In I. Borucki & W. J. Schünemann (Hrsg.), Internet und Staat. Perspektiven auf eine komplizierte Beziehung (S. 35–56). Nomos.10.5771/9783845290195-57Search in Google Scholar

Pohle, J. (2020). Digitale Souveränität. Ein neues politisches Schlüsselkonzept in Deutschland und Europa. Konrad-Adenauer-Stiftung. https://www.kas.de/de/einzeltitel/-/content/digitale-souveraenitaetSearch in Google Scholar

Pohle, J. & Thiel Th. (2021). Digitale Souveränität. Von der Karriere eines einenden und doch problematischen Konzepts. In Ch. Piallat (Hrsg.), Der Wert der Digitalisierung. Gemeinwohl in der digitalen Welt (S. 319–340). Transcript.10.1515/9783839456590-014Search in Google Scholar

Thiel, Th. (2021, 25. Januar). Das Problem mit der digitalen Souveränität. Frankfurter Allgemeine Zeitung. Search in Google Scholar

von der Leyen, U. (2019). A Union that Strives for More. My agenda for Europe. Political Guidelines for the Next European Commission 2019­–2024. https://op.europa.eu/s/oSKLSearch in Google Scholar

Online erschienen: 2024-05-29
Erschienen im Druck: 2024-05-28

© 2024 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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