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Editorial

  • Ingo Schulz-Schaeffer EMAIL logo
Published/Copyright: May 29, 2024
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Die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens und die Debatte darum ist für die Sozialpolitik – und für die Sozialpolitikforschung – schon deshalb bedeutsam, weil sie die grundsätzlicheren Fragen nach der Zukunft der sozialen Sicherungssysteme in wohlfahrtsstaatlichen Industriegesellschaften adressiert. Nicht zuletzt durch die Aktivitäten des Vereins „Mein Grundeinkommen e.V.“ fokussiert die Debatte in Deutschland dabei gegenwärtig auf ein Modell: Eine monatliche Auszahlung eines existenzsichernden Grundeinkommens von 1200 € an jede erwachsene Person (und die Hälfte für Minderjährige) bei gleichzeitigem Wegfall aller anderen Sozialleistungen. Da der Wegfall aller anderen Sozialleistungen sowie aller Steuerprivilegien bei weitem nicht ausreicht, um dieses bedingungslose Grundeinkommen zu finanzieren, wäre eine steuerliche Finanzierung in beträchtlichem Umfang erforderlich. Auf der Grundlage einer Simulationsstudie der DIW-Forscher Stefan Bach und Mark Hamburg hat der Verein „Mein Grundeinkommen e.V.“ einen interaktiven Konfigurator entwickelt und ins Netz gestellt[1], der es erlaubt, unterschiedliche Finanzierungsoptionen durchzuspielen. Diesem Konfigurator zufolge wäre das bedingungslose Grundeinkommen finanzierbar, wenn auch nicht unbedingt mit dem jetzigen System progressiver Steuersätze, bei dem ein Spitzensteuersatz von knapp 90 % erforderlich wäre. Wohl aber mit einer Flat Tax von etwa 50 %, die allerdings dann auch auf jedes Einkommen oberhalb der 1200 € des bedingungslosen Grundeinkommens erhoben werden müsste. Bei diesen steuerfinanzierten Optionen des bedingungslosen Grundeinkommens wäre der Umverteilungseffekt enorm: 75 % der Bevölkerung würden mehr Geld zur Verfügung haben, finanziert durch Einkommenseinbußen des wohlhabendsten Viertels der Bevölkerung. Während der Verein „Mein Grundeinkommen e.V.“ in diesen Modellrechnungen einen Beleg dafür sieht, dass ein existenzsicherndes bedingungsloses Grundeinkommen finanzierbar ist, kommt ein Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium der Finanzen von 2021 zu dem gegenteiligen Ergebnis[2]. Der wesentliche Grund für die unterschiedlichen Ergebnisse ist, dass dieses Gutachten, anders als der interaktive Kalkulator, Arbeitsangebotseffekte einbezieht. Vereinfacht ausgedrückt: Ausgehend von Daten über Konsum- und Freizeitpräferenzen aus dem SOEP schätzt das Gutachten, dass das bedingungslose Grundeinkommen zu einem verringerten Arbeitsangebot und entsprechend zu einem verringerten Steueraufkommen führen würde, wodurch es unfinanzierbar würde. Es ist nicht so, dass die Autor:innen des interaktiven Kalkulators diesen Gesichtspunkt übersehen hätten. Vielmehr sind die Befürworter:innen des bedingungslosen Grundeinkommens der Auffassung, dass dieser Effekt nicht eintreten würde: Befreit vom Zwang zur Arbeit würden die Menschen vielmehr aus eigenem Tatendrang und aus Gemeinschaftsgefühl aktiv werden.

Aus der Perspektive einer Soziologie, die sich als empirische Wirklichkeitswissenschaft versteht, sind wir damit an einem Punkt der Debatte angekommen, an dem die Frage, wer recht hat, eine empirische Frage ist. Wie Olaf Behrend in seinem Themenessay zum bedingungslosen Grundeinkommen schreibt, der den Anlass für das Thema dieses Editorials bildet, ist das Problem allerdings, dass eine entsprechende Empirie nicht existiert, auf die sich eine soziologische Forschung zu jener Frage stützen könnte. Er schreibt, dass es sich beim bedingungslosen Grundeinkommen für die Soziologie insofern um ein besonderes Phänomen handelt, „als es das Phänomen nur als Fiktion bzw. (sozial-)politische Forderung gibt; ihm bisher also keine lebenspraktische Realität korrespondiert“. Nun hat die Wissenschaft ein probates Mittel, Dinge zu erforschen, die es in der Wirklichkeit nicht gibt bzw. nicht in der Form gibt, wie man sie gerne erforschen möchte: das Experiment. Tatsächlich gibt es eine Reihe von Experimenten im Zusammenhang mit dem bedingungslosen Grundeinkommen, wie Olaf Behrend ausführt. In Deutschland führt der Verein „Mein Grundeinkommen e.V.“ zur Zeit ein solches dreijähriges Experiment mit 122 Teilnehmer:innen durch. Diese Experimente sind in ihren Parametern jedoch zurzeit allesamt noch viel zu weit von den Gegebenheiten eines gesellschaftsweit umgesetzten bedingungslosen Grundeinkommens entfernt, um jene Frage beantworten zu können oder auch die vielen anderen Fragen, die mit der Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens verbunden wären. Ein Volksentscheid über die Einrichtung eines größeren dreijährigen Experimentes mit 3500 Teilnehmer:innen war 2022 in Berlin gescheitert. Aktuell läuft ein Prozess der Herbeiführung eines entsprechenden Volksentscheides in Hamburg, beide Male getragen von der Initiative „Expedition Grundeinkommen“.

Wie kann soziologische Forschung unter diesen Bedingungen zur Debatte um ein bedingungsloses Grundeinkommen beitragen? Auf jeden Fall kann sie durch Explikation der Positionen und deren Prämissen zur Aufklärung über die Debatte selbst beitragen. Dies tut Olaf Behrend in seinem Themenessay, indem er einerseits die von ihm als utopisch und säkular-religiös charakterisierten Menschenbilder der Befürworter des bedingungslosen Grundeinkommens herausarbeitet und andererseits die pessimistischeren Sichtweisen der Kritiker. Bemerkenswert dabei ist, dass sich diese Sichtweisen nicht entlang der für die sozialpolitischen Positionierungen maßgeblichen politischen Einstellungen sortieren. So sind es nicht nur Linke, sondern auch Wirtschaftsliberale, die die Überzeugung vertreten, dass die Befreiung von Zwang zur Arbeit die Menschen zu eigenständigem Tätigsein und Verantwortungsgefühl für soziale Belange führen werde, was etwa seinen Ausdruck darin findet, dass Akteure wie der Schweizer Unternehmer Daniel Häni oder der Gründer der Drogeriemarktkette dm, Götz Werner, zu den Befürwortern des bedingungslosen Grundeinkommens zählen. Auf dieser Grundlage arbeitet Olaf Behrend die Argumente der Befürworter und der Kritiker systematisch auf. Dabei wird sehr deutlich, wie stark diese Argumente von den jeweils zu Grunde gelegten Menschenbildern abhängen. Alles dies unterstreicht mit großer Deutlichkeit: Ohne substanzielle empirische Forschung ist und bleibt die Debatte um das bedingungslose Grundeinkommen eine politische Debatte, also eine Debatte, in der mit politischen Überzeugungen argumentiert wird und nur begrenzt mit empirischer Evidenz.

Neben dem Themenessay enthält das Heft ein Symposium, in dem Hans Peter Hahn und Hans-Peter Waldhoff sich mit prozesssoziologischen Rekonstruktionen der gesellschaftlichen Entwicklung in Ghana auseinandersetzen, die in dem Band Norbert Elias’s African Processes of Civilisation: On the Formation of Survival Units in Ghana mit nachgelassenen Schriften des soziologischen Klassikers versammelt sind. Das Heft enthält einen Essay von Claudius Härper, der das Buch Social Networks of Meaning and Communication bespricht, in dem Jan Fuhse sein Konzept sozialer Netzwerke präsentiert. Das Heft enthält zwei Sammelbesprechungen: Julia Gruhlich bespricht Neuerscheinungen im Themenfeld Geschlecht, Arbeit und Organisation, Andreas Lange bespricht Neuerscheinungen im Feld der Soziologie der Familien- und Lebensformen. Das Heft enthält außerdem eine Doppelbesprechung von Nina Meier über zwei Sammelbände mit Aufsätzen zur Gestaltung von Stadtgesellschaften. Neun Einzelbesprechungen zu Neuerscheinungen aus den unterschiedlichsten Bereichen der Soziologie vom Digitalen Wandel über kommunikative Gattungen bis zur Wissenschaftsforschung vervollständigen dieses Heft. Doch lesen Sie selbst!

Online erschienen: 2024-05-29
Erschienen im Druck: 2024-05-28

© 2024 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

Articles in the same Issue

  1. Frontmatter
  2. Frontmatter
  3. Editorial
  4. Symposium
  5. Ist das Konzept ‚Zivilisation‘ eine Universalie?
  6. Über die schwankenden Schichten der Zivilisation balancieren
  7. Themenessay
  8. Bedingungsloses Grundeinkommen: Gnostische Fiktion oder pragmatisches Mittel der Sozialstaatsreform?
  9. Essay
  10. Relation und Kohärenz
  11. Sammelbesprechung
  12. Geschlechtertheoretische Perspektiven auf Arbeit und Organisation
  13. Choreographien des Familie-Machens jenseits der Pluralisierungsdebatte. Sammelrezension: Soziologie der Familien- und Lebensformen
  14. Doppelbesprechung
  15. Stadtgesellschaften gestalten
  16. Einzelbesprechung Digitaler Wandel
  17. Georg Glasze / Eva Odzuck / Ronald Staples (Hrsg.), Was heißt digitale Souveränität? Diskurse, Praktiken und Voraussetzungen »individueller« und »staatlicher Souveränität« im digitalen Zeitalter. Bielefeld: transcript 2022, 322 S., kt., 35,00 €
  18. Einzelbesprechung Fachkulturforschung
  19. Anno Eßer, Studentische Fachkulturen: Lebensstile und politische Dispositionen. Eine Untersuchung der Studienfächer Rechtswissenschaft, VWL, BWL, Sozialwissenschaften, Philosophie, Mathematik und Biologie. Opladen, Berlin & Toronto: Barbara Budrich 2023, 228 S., kt., 34,00 €
  20. Einzelbesprechung Gesellschaftsanalyse
  21. Howard Becker, Erzählen über Gesellschaft. Eingeleitet und herausgegeben von Reiner Keller. Wiesbaden: Springer VS 2019, 324 S., eBook, 49,99 €
  22. Einzelbesprechung Ideen- und Sozialgeschichte
  23. Alexandra Schauer, Mensch ohne Welt. Eine Soziologie spätmoderner Vergesellschaftung. Berlin: Suhrkamp 2023, 704 S., kt., 35,00 €
  24. Einzelbesprechung Gattungsanalyse
  25. Jörg Bergmann, Klatsch. Zur Sozialform der diskreten Indiskretion. 2. Auflage. Berlin/Boston: de Gruyter 2022, 235 S., 25,95 €
  26. Einzelbesprechung Medientheorie
  27. Talcott Parsons, Zur Theorie der sozialen Interaktionsmedien, herausgegeben von Helmut Staubacher und Paul Reichacher. Wiesbaden: Springer 2023, S. 193, kt., 29,99 €
  28. Einzelbesprechung Politische Soziologie
  29. Sebastian Büttner / Thomas Laux (Hrsg.), Umstrittene Expertise: Zur Wissensproblematik der Politik (Sonderband Leviathan). Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 2021, 494 S., kt., 99,00 €
  30. Einzelbesprechung Soziologie der Konventionen
  31. Anna Gonon, Eingliederung als Rechtfertigungsarbeit: Konventionen betrieblicher Arbeitsintegration am Beispiel psychisch erkrankter Beschäftigter. Wiesbaden: Springer VS 2023, 340 S., eBook, 53,49 €
  32. Einzelbesprechung Wissenschaftsforschung
  33. Lisa Krall, Epigenetik als Intra-aktion: Diffraktives Lesen umweltepigenetischer Studien mit Karen Barads agentiellem Realismus. Bielefeld: transcript 2022, 288 S., kt., 45,00 €
  34. Rezensentinnen und Rezensenten des 2. Heftes 2024
  35. Eingegangene Bücher (Ausführliche Besprechung vorbehalten)
Downloaded on 10.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/srsr-2024-2025/html
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