Home Howard Becker, Erzählen über Gesellschaft. Eingeleitet und herausgegeben von Reiner Keller. Wiesbaden: Springer VS 2019, 324 S., eBook, 49,99 €
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Howard Becker, Erzählen über Gesellschaft. Eingeleitet und herausgegeben von Reiner Keller. Wiesbaden: Springer VS 2019, 324 S., eBook, 49,99 €

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Published/Copyright: May 29, 2024
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Howard Becker, Erzählen über Gesellschaft. Eingeleitet und herausgegeben von Reiner Keller. Wiesbaden: Springer VS 2019, 324 S., eBook, 49,99 €


Was haben Romane, Fotografien, Bühnenstücke, Filme einerseits und Tabellen, Diagramme, Grafiken und mathematische Modelle andererseits gemeinsam? Auf den ersten Blick nicht viel. Auf den zweiten allerdings schon. So lassen sich diese unterschiedlichen Medien als vielfältige Darstellungsformen von Gesellschaft betrachten, die Howard S. Becker in seinem Buch untersucht.

Howard S. Becker, der als Vertreter der „Second Chicago School“ (Fine, 1995) bekannt ist, bleibt zeitlebens ihrer Fortsetzung im Symbolischen Interaktionismus verbunden. Ganz im Sinne des pragmatistischen Grundgedankens geht Becker davon aus, dass das soziale Handeln nicht durch gesellschaftliche Strukturen oder Kultur(en) vorbestimmt, sondern primär durch intersubjektive Aushandlungs- und Umdeutungsprozesse geprägt ist. Nach solchen kreativen Sinnzuschreibungen, spontanen Improvisationen und situativen Interpretationen sucht Becker in seinen exemplarischen Beispielen, die Gesellschaft erzählen. Die umfangreiche Materialsammlung im zweiten Teil des Buches bezeichnet Becker selbst als eine, die aus „zumeist planlosen, willkürlichen Lesegewohnheiten, langjähriger Lehrtätigkeit sowie dem ganz normalen Leben und meinen ziemlich eklektischen Interessen“ (S. 3) entstanden ist. Entlang einiger grundlegender Konzepte und Ideen, die im ersten Teil dargelegt werden, werden diese Beispiele anschließend diskutiert. Im Sinne der Leitidee kollektiven Handelns („people doing things together“, Herv.i.O., Danko, 2015, S. 147), die dementsprechend auch Reiner Keller in seinem Vorwort zu dem Buch zentral stellt, gehe es in erster Linie darum, „das Erzählen über Gesellschaft als ein gemeinsames und vielfältiges Unterfangen zu betrachten“ (S. 10). Zentrales Ziel des Buches ist es nicht zuletzt deswegen auch, die disziplinären Grenzen der Soziologie und ihren standardisierten und vielfach eingeübten Analysemethoden zu irritieren und stattdessen alternative Formen der Analyse, wie z. B. künstlerische, anzuvisieren.

Das Buch ist in zwei Teile („Ideen“ und „Beispiele“) gegliedert und umfasst insgesamt 16 Kapitel. Der erste Teil „besteht aus kurzen Aufsätzen zu generellen Themen“ (S. 7), wohingegen der zweite Teil, der mit der Überschrift „Beispiele“ betitelt ist, „einige Würdigungen spezifischer Arbeiten, Gesamtwerke oder Arten von Repräsentationen [enthält]“ (S. 7). Zu Beginn des ersten Teils seines Buchs listet Becker eine Reihe von Formaten auf, die – abseits der konventionellen Sichtweisen – als Repräsentationen eines Ausschnitts der Gesellschaft betrachtet werden können: „Belletristik, Drama, Film, Fotografien, Karten, Tabellen, Mathematische Modelle und Ethnografie“ (S. 18–20). Davon ausgehend wird in den folgenden acht Kapiteln zwischen „Machern“ und „Nutzern“ (S. 18) unterschieden, von denen die einen „spezifische standardisierte Repräsentationen“ (S. 18) für die andere Gruppe, die Nutzer:innen, erzeugen. Bei diesen Berichten über die Gesellschaft handelt es sich allerdings nicht um bloße Tatsachen, sondern immer auch um Interpretationen, denn Repräsentationen der gesellschaftlichen Realität müssen allererst gemacht und produziert werden. Dieses Machen und Nutzen von Erzählungen über Gesellschaft wird maßgeblich durch gesellschaftliche Organisationen hervorgebracht. Erst durch eine selektive Auswahl, aktive Übersetzungs- und Anordnungsprozesse sowie eine vorgesehene, aber auch abweichende Nutzung werden diese Medien zu Repräsentationen der gesellschaftlichen Realität. Durch die geteilte Kooperation und Arbeit von Macher:innen und Nutzer:innen werden Repräsentationen erzeugt: So lenken Medien, wie z. B. Hollywoodfilme unsere Rezeption in eine ganz bestimmte, intendierte Richtung, wohingegen abstrakte Kunstwerke ihre Nutzer:innen meist selbst mit der Autonomie betrauen, diese zu interpretieren. Wenn von den Nutzer:innen viel Arbeit verlangt wird, müssen sie auch bestimmte Fähigkeiten besitzen. Für die Nutzung, aber auch die Herstellung gesellschaftlicher Repräsentationen ist auf beiden Seiten, von Nutzer:innen und Macher:innen, ein Wissen erforderlich, das aber meist implizit bleibt.

Nachdem Becker besonders die Arbeit der Nutzer:innen beleuchtet, widmet er sich anschließend den Macher:innen. Für diese stehen verschiedene Formate der Repräsentation zur Verfügung, die sich zwischen den Polen Standardisierung und Innovation bewegen. Meist finden Standardformate ihre Anwendung, da diese Darstellungen meist auch eine standardisierte Rezeptionsweise hervorrufen: „So lassen uns zum Beispiel die standardisierten Shortcuts in der standardisierten Filmsprache sofort erkennen, wer die Guten und die Bösen sind“ (S. 83). Neben diesen standardisierten Darbietungen finden sich allerdings auch innovative Formate, wie z. B. die von John Turkey entwickelten alternativen, statistischen Diagrammen wie das „Stängel-Blatt-Diagramm und den Box-Plot“ (S. 88). Ganz wesentlich zur Darstellung von Wissen über die Gesellschaft gehört für Becker außerdem die Fähigkeit zur Datenreduzierung. Einzelheiten müssen zusammengefasst und handhabbar gemacht werden. Am Beispiel der Landkarten lässt sich dies verdeutlichen: „[...] eine ebene Fläche ist das, was Nutzer wünschen. Sie ist leicht zu transportieren, kann auf andere flache Unterlagen übertragen werden“ (S. 101). Das Zusammenfassen großer Datenmengen zeigt sich ebenso an den zwei sehr unterschiedlichen Beispielen von statistischen Überblicken und ethnografischen Berichten. So liegt die Zielsetzung statistischer Methoden darin, die Fülle an Daten in z. B. einen Durchschnitt zu übersetzen. Ebenso verhält es sich mit dem Ausmaß an Feldnotizen, auch diese „[...] enthalten niemals alles, was sich in ihrer Gegenwart ereignet hat“ (S. 105). Neben der Zusammenfassung gehört die Glaubwürdigkeit von Darstellungsformen, Becker folgend, zu den Kriterien gelungener gesellschaftlicher Repräsentationen. Künstlerische Repräsentationen der gesellschaftlichen Realität entsprechen außerdem ästhetischen Kriterien, indem die im Werk ausgedrückte Wahrheit über die Gesellschaft an „handwerklichen Standards“ (S. 128) gemessen wird. Sogenannte „Missrepräsentationen“ (S. 135) gelten als moralisch verwerflich, da diese nicht neutral sind und verschleierte Werturteile enthalten.

Der zweite Teil des Buches, der sich in weiteren acht Kapiteln mit konkreten Fallbeispielen beschäftigt, beginnt mit Parabeln, Idealtypen und mathematischen Modellen, die einen bestimmten Abstraktionsgrad in Bezug auf ihre empirische Wirklichkeit gemein haben. So ist bei diesen Repräsentationsformen nicht wichtig, ob sie wirklich so sind, sondern veranschaulichen „[...] was passieren würde, wenn es so passieren würde“ (S. 164). Anhand einer Diskussion von Diagrammen macht Becker im Folgenden deutlich, dass gesellschaftliche Wissensbestände nicht nur sprachlich diskursiver Natur sind, sondern ebenso visuelle Komponenten beinhalten. Wie einige Beispiele von (Dokumentar-)Fotografien zeigen, sind diese gesellschaftlich konstruiert und bilden nicht die Realität ab, denn ihre Bedeutung variiert je nach gesellschaftlichem Kontext. Entlang dramatischer Repräsentationen zeigt Becker weiterführend, wie in diversen Theaterstücken von George Bernhard Shaw, Cary Churchill und Wallace Shawn eine Vielstimmigkeit an gesellschaftlichen Perspektiven sichtbar wird, die in und durch soziale Interaktionen entstehen. Am Beispiel von Erving Goffmans Buch „Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen“ (1973) wird die Relevanz einer neutralen Sprache als Darstellungsform soziologischen Erzählens hervorgehoben, mit der es Goffman gelingt, die Aktivitäten in totalen Institutionen nicht per se moralisch zu verurteilen, sondern zu einem tieferen Verständnis zu gelangen, dass diese „in einen Kontext organisatorischer Notwendigkeit“ (S. 237) einordnet. Soziologische Gesellschaftsanalysen finden sich auch in literarischen Romanen, so z. B. in Jane Austens Gesellschaftsroman „Stolz und Vorurteil“, der als eine „Ethnografie der Brautwerbung und Heirat“ gedeutet wird, „wie sie möglicherweise ein Anthropologe oder Soziologe oder ein demografisch orientierter Historiker mit genügen Zeit und ausreichend umfangreicher Forschungsförderung produziert hätte“ (S. 246). Auch in Georges Perecs Gesellschaftsbeschreibungen finden sich literarische Beschreibungen von scheinbar banaler Alltäglichkeit, die HowardBecker „Ethnografie als verallgemeinernde Fiktion oder verallgemeinernde Fiktion als Ethnografie“ (S. 255) nennt. Anhand der Parabeln über imaginäre Städte des Forschers Italo Calvino deutet Becker abschließend die „Literatur als Theorie des Sozialen“ (S. 279), die mehrstimmige statt eindimensionale Gesellschaftsbeschreibungen darstellen kann. Letztlich kommt es darauf an, mit welcher Zwecksetzung die jeweiligen Repräsentationsformen (wie z. B. Stadt- oder Landkarten) verwendet werden. Die wichtige Rolle, die den Nutzer:innen zukommt, schwankt zwischen zwei diametralen Polen: Einerseits umfangreicher, eigener Interpretationsleistung und andererseits der bloßen Erfüllung von Absichten der Macher:innen. Das Buch schließt mit dem Plädoyer, alternative Formen der Repräsentation von Gesellschaft zu untersuchen und das Material und die Methoden der Sozialwissenschaften dadurch produktiv zu ergänzen.

Dem Buch ist ein Interview von Howard S. Becker mit Reiner Keller angehängt, das den Titel trägt „Wie man über Gesellschaft erzählen kann“, das erstmals 2016 im Forum Qualitative Sozialforschung erschien. Hier spricht er über seinen wissenschaftlichen Werdegang, seine Tätigkeit als Jazzpianist, seine Lehre, Vorbilder und bisherigen Werke.

Das Buch versammelt eine Fülle unterschiedlicher Beispiele, die als Repräsentationen von Gesellschaft gedeutet werden. Somit kommt Howard S. Becker das große Verdienst zu, eine Brücke zwischen den Disziplinen zu schlagen und die Soziologie im Hinblick auf ihr methodisch etabliertes, aber teils antiquiertes und restriktives Vorgehen in Bezug auf „,ungewöhnliche‘ Mittel wie Turkeys Box-Plot-Grafik [...], ganz abgesehen von Bildmaterial oder Formaten, die – Gott bewahre! – wie ,Kunst‘ aussehen“ (S. 285) zu irritieren. Die Beispiele aus Theater, Kunst und Mathematik werden so umfassend und detailliert aufbereitet, dass ihre Relevanz für aktuelle soziologische Perspektiven unmittelbar ersichtlich wird. Verschiedene Repräsentationsformate werden außerdem nicht nur vorgestellt, sondern im Rahmen des systematischen Vorschlags einer „Gesellschaft als kollektives Handeln“ (Danko, 2015, S. 147) verargumentiert. Auch der Bezug der kundig ausgewählten Fallbeispiele wird inhaltlich sehr gut eingebunden und unterbricht den Lesefluss nicht, sodass ein stimmiges Gesamtbild entsteht.

Zwar bietet die perspektivreiche Materialanalyse einerseits einen lehrreichen Überblick über diverse Repräsentationsformen, verliert dadurch aber etwas aus dem Blick, was die je spezifische Erzählform von Gesellschaft an den diskutierten Exempeln ausmacht. So macht es sicherlich einen nennenswerten Unterschied, wie Repräsentationen von Gesellschaft durch ein Diagramm, eine Fotografie oder einen Roman hervorgebracht und festgeschrieben werden können. Interessant wäre es dementsprechend nicht nur die Diversität des gesamten Materialrepertoires als farbenfrohen Blumenstrauß zu akzentuieren, sondern auch die jeweils signifikante Form einzelner Blüten stärker herauszustellen. Das Buch erhebt allerdings auch nicht den Anspruch, spezifische und vollständige Analysen zu bieten, sondern eröffnet stattdessen neue Perspektiven, eine innovative und zukunftsweisende Sichtweise auf Gesellschaft als „das Handeln des Einzelnen im Zusammenspiel mit anderen, um Momente der Improvisation und Interpretation, der Koordination und Kooperation“ (Danko, 2015, S. 7) zu betonen, die sich letztlich nicht nur mit anderen, sondern auch durch andere Methoden der Gesellschaftsrepräsentation ereignen.

Literatur

Danko, D. (2015). Zur Aktualität von Howard S. Becker. Einleitung in sein Werk. Springer VS.10.1007/978-3-531-18915-4Search in Google Scholar

Goffman, E. (1973). Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. Suhrkamp.Search in Google Scholar

Fine, G. A. (Hrsg.). (1995). A Second Chicago School? The Development of a Postwar American Sociology. University of Chicago Press. Search in Google Scholar

Online erschienen: 2024-05-29
Erschienen im Druck: 2024-05-28

© 2024 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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Downloaded on 15.11.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/srsr-2024-2021/html
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