Home Sebastian Büttner / Thomas Laux (Hrsg.), Umstrittene Expertise: Zur Wissensproblematik der Politik (Sonderband Leviathan). Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 2021, 494 S., kt., 99,00 €
Article Open Access

Sebastian Büttner / Thomas Laux (Hrsg.), Umstrittene Expertise: Zur Wissensproblematik der Politik (Sonderband Leviathan). Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 2021, 494 S., kt., 99,00 €

  • Martin Seeliger EMAIL logo
Published/Copyright: May 29, 2024
Become an author with De Gruyter Brill

Rezensierte Publikation:

Sebastian Büttner / Thomas Laux (Hrsg.), Umstrittene Expertise: Zur Wissensproblematik der Politik (Sonderband Leviathan). Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 2021, 494 S., kt., 99,00 €


Der von Sebastian Büttner und Thomas Laux herausgegebene Band “Umstrittene Expertise und die Wissensproblematik der Politik“ behandelt die Bedeutung von Expert:innenwissen für die Strukturierung politischer Prozesse. Vom Blickpunkt von Soziologie und Politikwissenschaft etablieren die Beiträge im Band eine umfassende Perspektive auf die Herausforderungen demokratischen Regierens unter Bedingungen hoher gesellschaftlicher Komplexität. Ein Verständnis der funktional differenzierten Gesellschaft, so die Ausgangsüberlegung, erfordert Spezialwissen in Bezug auf ihre einzelnen Bereiche und Feldlogiken. Angesichts der Vielfalt und Heterogenität der entsprechenden Segmente kann Politik ohne Bezug auf Expert:innenwissen keine angemessenen Problemlösungskompetenzen entwickeln.

Ein zweites strukturierendes Moment entfaltet der Einsatz von Expert:innenwissen über seine legitimatorische Wirkung. Um unter Bedingungen struktureller Interessengegensätze und genuiner Unsicherheit der Zukunft politische Gefolgschaft generieren zu können, sind qualifizierte Einschätzungen nötig, die die Bürger:innen von der Angemessenheit politischer Vorhaben überzeugen.

Gleichzeitig, und hierin liegt ein weiterer Ausgangspunkt der im Band enthaltenen Beiträge, besteht im Rahmen demokratischer Systeme eine weit verbreitete Skepsis gegenüber dem politischen Einfluss von Expert:innen, deren Einfluss sich den Regeln der öffentlichen Debatte häufig entzieht, so dass diesem Einfluss eine demokratische Legitimation fehlt. Besonders angesichts eines allgemeinen Entwicklungstrends hin zu technokratischem Regieren – etwa im Zuge der Austeritätspolitik in der Eurozone – wird diese Aufwertung der Expert:innenrolle kritisch gesehen.

Vor dem Hintergrund der dargestellten Herausforderungengliedert sich die Abfolge der einundzwanzig Beiträge zum Band in acht Abschnitte. Im ersten Abschnitt mit dem Titel „Ambivalenzen von Expertise“ behandeln Roland Czada, Holger Straßheim und Nils Kumkar Auseinandersetzungen um den Sinngehalt und die Legitimität von Expert:innenwissen. Der zweite Abschnitt zum „Spannungsfeld wissenschaftlicher Evidenz und Politik“ bezieht diese Perspektive auf Auseinandersetzungen um Expert:innenwissen und die Rolle der Wissenschaft in politischen Entscheidungsprozessen. Eva Barlösius und Eva Ruffing behandeln Momente der Kritik an Expertise. Johannes Schmoldt untersucht die Voraussetzungen und Folgen politischer Urteilskraft. Es folgt ein Abschnitt zum Thema „Krisenexpertise: Umstrittene Problemlösungen“, dessen Beiträge die Subjektivität von Expert:innen in den Auseinandersetzung in Interpretationskonflikten fokussieren. Während Caspar Hirschi diese Auseinandersetzungen anhand einer vergleichenden Analyse der Klima-, Euro- und Coronakrise untersucht, fokussieren Silke Beck und Julian Nardmann die Corona-Pandemie als eigenständige Krise. Der Abschnitt „Umstrittene Politikberatung: Expertise in der Kritik“ umfasst einen Text von Theres Beneke und Marian Döhler, die den Einfluss externer Politikberatung auf deutsche Bundesministerien untersuchen. Ein weiterer Artikel von Stephan Pühringer analysiert Dynamiken expert:innenvermittelter Politikberatung mit Blick auf Fragen ökonomischer Paradigmen im Beratungsprozess. Ein weiterer Abschnitt mit dem Titel „Umstrittene Expertise in der Klimapolitik: Über die Politisierung des Wissens“ analysiert die Bedeutung von Expert:innenwissen im Versuch des Übergangs in eine CO2-ausstoßarme Ökonomie. Die Verwendung von Expertise durch politische Akteure sozialer Bewegungen untersucht der Text von Thomas Laux. Thomas Kern und Dahla Opitz entwickeln eine ähnliche Perspektive mit Blick auf wissenschaftliches Wissen in der Mobilisierung von Fridays for Future. Einen literatursoziologischen Beitrag leistet Fabian Hempel im Wege der Analyse von Romanen über den Klimawandel. Der nächste Abschnitt trägt den Titel „Die globale Dimension von Expertise: Strukturen und Ambivalenzen“. Luca Tratschin untersucht die Katastrophenkommunikation internationaler Organisationen aus dem Blickpunkt einer Theorie der Weltgesellschaft. Internationales Expert:innentum im internationalen Rahmen analysiert Alejandro Esguerra mit Blick auf die Klimafrage als politische Epistemologie des Anthropozäns. Mit der Frage nach den politischen Dynamiken im Kontext von Hochschulrankings befasst sich schließlich der Text von Leopold Ringel, Julian Hamann und Jelena Brankovic. Der Band schließt mit einem Forum „Reflexionen zur Corona-Pandemie“, in dem verschiedene Autoren die Bedeutung von Expert:innenwissen in der Bewältigung der Covid-Krise diskutieren. Eine kritische Perspektive auf die Zunahme der Relevanz von Expert:innenwissen entwickelt Richard Münch. Michaela Pfadenhauer entwickelt eine Typologie unterschiedlicher Formen von Expertise und Expert:innentypen in der Krise. Vom Blickpunkt der Verfassungstheorie analysiert Klaus Ferdinand Gärditz die Pandemie und die aus der Aufwertung von Expert:innenwissens gegenüber dem Alltagsverstand der meisten Bürger:innen resultierende Pathologien für die Demokratie. Im Zentrum des Artikels von Johannes Pantenburg und Benedikt Sepp steht die Positionierung von Angehörigen der „Querdenker“-Bewegung zu wissenschaftlicher Expertise als regierungs- und wissenskritischem Komplex. Andreas Knie und Dagmar Simon diskutieren schließlich das Zusammenwirken von Politik und Wissenschaft in der Corona-Pandemie.

Die Bedeutung von Expert:innenwissen für die Gestaltung von Politik stellt sowohl vom Blickpunkt der politischen Soziologie, der empirischen Politikwissenschaft, aber auch für die politischen Theorie und der Philosophie der Demokratie einen Gegenstand von unmittelbarer Relevanz dar. Da die Forschungsliteratur zum Themenkomplex bislang keine eindeutige Definition und kein allgemeines Verständnis des Expert:innenbegriffes etablieren konnte (siehe den Beitrag von Büttner und Laux, S. 29), besteht ein erster zentraler Beitrag des Bandes in der Schaffung eines Rahmens zur Behebung dieser Defizite.

Mit seinem Schnittstellencharakter als Gegenstand von Soziologie und Politikwissenschaft passt das Thema sehr gut in den publizistischen Rahmen der Zeitschrift Leviathan. Vor dem historischen Hintergrund der Corona-Pandemie behandeln die meisten Beiträge die Covid-19-Krise als empirischen Bezugsrahmen ihrer Analyse der Bedeutung von Expert:innenwissen. Weitere empirische Bezugspunkte finden sich in der Bewältigung der Klimakrise und – wenn auch in geringerem Umfang – der Krise des gemeinsamen europäischen Währungsraumes. Diese Bezugnahmen sind erhellend und verbessern das sozialwissenschaftliche Verständnis der Krisendynamiken. Die soziale Konstruktion der verschiedenen Krisen und die besondere Bedeutung von Expert:innenwissen in diesem Prozess werden im Band gut und kenntnisreich rekonstruiert. Durch die vor allem gegenwartsorientiert ausfallenden empirischen Bezugsmomente fehlen im Band gleichzeitig – abgesehen vom Beitrag von Roland Czada – historische Perspektiven. Um zu verstehen, wie sich die Bedeutung von Expert:innenwissen im Zeitverlauf verändert, wären diese unter Umständen nützlich gewesen.

Ein wichtiger Beitrag des Bandes besteht in der Reflexion der legitimatorischen Wirkung der Wissenschaft für die Politik und ihrem sich hieraus ergebenden politischen Charakter. Wissenschaftliche Befunde sind ihrem Wesen nach nicht objektiv, sondern ihrem eigenen Wesen entsprechend Ergebnis sozialer Praktiken. Gleichzeitig ist auch die Rezeption wissenschaftlichen Wissens im Wege der medialen Aufbereitung Ausdruck subjektiver Adaption und politischer Aushandlung. Den Beiträgen zum Band gelingt es sehr gut, diese politischen Charakteristika der Expert:innenrolle herauszuarbeiten.

Mit Blick auf die konzeptionelle Weiterentwicklung des Begriffes und der Theorie von Expert:innenwissen, aber auch hinsichtlich der zukünftigen Bedeutung von Expert:innen für das Regieren in politischen (und vor allem demokratischen) Systemen, erscheint es bedauerlich, dass der Band kein Abschlusskapitel umfasst, in dem entsprechende perspektivische Fragen erörtert werden. Auch grundlegende demokratietheoretische Überlegungen findet man im Band eher weniger. Referenzen an klassische Debatten wie etwa die Lippmann-Dewey-Kontroverse (vgl. hierzu Lippmann, 1925, Dewey, 1927) sucht man im Buch ebenfalls vergebens. Wie legitim kann eine politische Ordnung sein, deren Implikationen, Voraussetzungen und Konsequenzen von ihren Angehörigen nicht mehr zu verstehen ist? Und böten sich Möglichkeiten, um die Komplexität entsprechender gesellschaftlicher Ordnungen zu reduzieren, um diese unter demokratischen Aspekten handhabbarer zu machen? Wäre es etwa möglich, Expert:innenwissen in allgemeiner verständliche Sprache und Konzepte zu übersetzen? Welche Vor- und Nachteile könnten entsprechende Formate mit sich bringen? Unter demokratietheoretischen Aspekten stellt sich weiterhin die Frage, ob es spezifische Tendenzen gibt, entlang derer die politische Orientierung der Expert:innen verläuft. Neigen sie dazu, spezifische Interessen zu vertreten? Und, falls dem so sein sollte, ließen sich diese entlang politischer Kategorien – wie etwa Klasse oder Ethnizität, Region, Alter oder Herkunft – modellieren? Auch die Herausforderungen, die sich im Prozess der Digitalisierung für den politischen Umgang mit Expertise stellen (Stichwort: Algorithmensteuerung von politischen Entscheidungen), werden im Band praktisch kaum thematisiert. Solche Fragen werden hier leider nicht, oder nur in Ansätzen, behandelt.

Literatur

Dewey, J. (1927). The Public and its Problems. Holt.Search in Google Scholar

Lippmann, W. (1925). Phantom Public. McMillan.Search in Google Scholar

Online erschienen: 2024-05-29
Erschienen im Druck: 2024-05-28

© 2024 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

Articles in the same Issue

  1. Frontmatter
  2. Frontmatter
  3. Editorial
  4. Symposium
  5. Ist das Konzept ‚Zivilisation‘ eine Universalie?
  6. Über die schwankenden Schichten der Zivilisation balancieren
  7. Themenessay
  8. Bedingungsloses Grundeinkommen: Gnostische Fiktion oder pragmatisches Mittel der Sozialstaatsreform?
  9. Essay
  10. Relation und Kohärenz
  11. Sammelbesprechung
  12. Geschlechtertheoretische Perspektiven auf Arbeit und Organisation
  13. Choreographien des Familie-Machens jenseits der Pluralisierungsdebatte. Sammelrezension: Soziologie der Familien- und Lebensformen
  14. Doppelbesprechung
  15. Stadtgesellschaften gestalten
  16. Einzelbesprechung Digitaler Wandel
  17. Georg Glasze / Eva Odzuck / Ronald Staples (Hrsg.), Was heißt digitale Souveränität? Diskurse, Praktiken und Voraussetzungen »individueller« und »staatlicher Souveränität« im digitalen Zeitalter. Bielefeld: transcript 2022, 322 S., kt., 35,00 €
  18. Einzelbesprechung Fachkulturforschung
  19. Anno Eßer, Studentische Fachkulturen: Lebensstile und politische Dispositionen. Eine Untersuchung der Studienfächer Rechtswissenschaft, VWL, BWL, Sozialwissenschaften, Philosophie, Mathematik und Biologie. Opladen, Berlin & Toronto: Barbara Budrich 2023, 228 S., kt., 34,00 €
  20. Einzelbesprechung Gesellschaftsanalyse
  21. Howard Becker, Erzählen über Gesellschaft. Eingeleitet und herausgegeben von Reiner Keller. Wiesbaden: Springer VS 2019, 324 S., eBook, 49,99 €
  22. Einzelbesprechung Ideen- und Sozialgeschichte
  23. Alexandra Schauer, Mensch ohne Welt. Eine Soziologie spätmoderner Vergesellschaftung. Berlin: Suhrkamp 2023, 704 S., kt., 35,00 €
  24. Einzelbesprechung Gattungsanalyse
  25. Jörg Bergmann, Klatsch. Zur Sozialform der diskreten Indiskretion. 2. Auflage. Berlin/Boston: de Gruyter 2022, 235 S., 25,95 €
  26. Einzelbesprechung Medientheorie
  27. Talcott Parsons, Zur Theorie der sozialen Interaktionsmedien, herausgegeben von Helmut Staubacher und Paul Reichacher. Wiesbaden: Springer 2023, S. 193, kt., 29,99 €
  28. Einzelbesprechung Politische Soziologie
  29. Sebastian Büttner / Thomas Laux (Hrsg.), Umstrittene Expertise: Zur Wissensproblematik der Politik (Sonderband Leviathan). Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 2021, 494 S., kt., 99,00 €
  30. Einzelbesprechung Soziologie der Konventionen
  31. Anna Gonon, Eingliederung als Rechtfertigungsarbeit: Konventionen betrieblicher Arbeitsintegration am Beispiel psychisch erkrankter Beschäftigter. Wiesbaden: Springer VS 2023, 340 S., eBook, 53,49 €
  32. Einzelbesprechung Wissenschaftsforschung
  33. Lisa Krall, Epigenetik als Intra-aktion: Diffraktives Lesen umweltepigenetischer Studien mit Karen Barads agentiellem Realismus. Bielefeld: transcript 2022, 288 S., kt., 45,00 €
  34. Rezensentinnen und Rezensenten des 2. Heftes 2024
  35. Eingegangene Bücher (Ausführliche Besprechung vorbehalten)
Downloaded on 11.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/srsr-2024-2022/html
Scroll to top button