Choreographien des Familie-Machens jenseits der Pluralisierungsdebatte. Sammelrezension: Soziologie der Familien- und Lebensformen
Rezensierte Publikationen:
Valerie Jochim, Care. Macht. Arbeit. Lebenswelten von Alleinerziehenden. Frankfurt am Main/New York: Campus 2020, 314 S., kt., 39,95 €
Andreas Oberlinner / Anja Bamberger / Christin Winter / Susanne Eggert, Medienhandeln in pädagogisch begleiteten Familien. München: kopaed 2023, 118 S., kt., 16,80 €
Eva Sänger, Elternwerden zwischen »Babyfernsehen« und medizinischer Überwachung. Eine Ethnografie pränataler Ultraschalluntersuchungen. Bielefeld: transcript 2020, 406 S., kt., 48,00 €
Julia Schneider, Vaterschaft nach Trennung und Scheidung: Eine qualitative Untersuchung im Großraum Rostock. Baden-Baden: Ergon 2022, 271 S., kt., 56,00 €
Familie und private Beziehungen erfreuen sich, nach einem leichten diskursiven Einbruch zu Coronazeiten, wieder einer hohen Aufmerksamkeit in den sozialen wie den Massenmedien. Diese medialen Diskurse sind stark durchsetzt von sozialwissenschaftlichen Wissensbeständen, und Soziolog:innen sind in diesem Feld öffentlicher Kommunikation Interviewpartner erster Wahl (s. z. B. Becker 2024; Newerla 2023). Familiensoziologie ist also eine derjenigen Bindestrichsoziologien, die oftmals entweder aktiv auf eigenes Betreiben oder reaktiv, durch Nachfragen, mit ihren Befunden und Interpretationen, in die Öffentlichkeit gelangt. Die sozialwissenschaftliche Forschung und Theoriebildung zu Familie, privaten Lebensformen und Beziehungen indes erlebt, wie zahlreiche andere Disziplinen auch, erstens eine Phase der periodischen Handbuchisierung jüngst dokumentiert in zwei voluminösen Publikationsprojekten (Becker et al., 2023; Ecarius & Schierbaum, 2022; Schierbaum & Ecarius, 2022; Schneider & Kreyenfeld, 2021). Zweitens gibt es Anzeichen für eine erhöhte Reflexion des eigenen Tuns und Lassens, was die empirische Zugangsweise, das theoretische Besteck und die Publikationsformate angeht (Schneider & Aevermann, 2020). Drittens kann von einer verstärkten Überschneidung der klassischen, stark an strukturellen und morphologischen Fragestellungen orientierten Familiensoziologie mit materialen Wissenschaften des Familienalltags und der Familienentwicklung ausgegangen werden, was zu neuen hybriden Erkenntniskonstellationen beispielsweise mit der Medien- und Digitalisierungssoziologie führt. Das Leitmotiv, das zur Auswahl der zu besprechenden Werke geführt hat, bestand in der Frage, welche Botschaften aktueller Forschungen sind geeignet für einen gesellschaftlichen Diskurs zur Frage: Wie leben wir zusammen? Wie machen wir Familie? Als anschlussfähige Theorieplattform wird die Praxistheorie im weitesten Sinne vorgeschlagen. Sie bietet auch eine wichtige Stütze für eine Depathologisierung und Detherapeutisierung von Diskursen über Familie, die diese als inkompetent adressieren und könnte so eine Art „soziologische Aufklärung“ über und für Familien fundieren.
Eltern und Geschwister Machen – die Rolle von Dingen und Medien
Die zur routinehaften Praxis in der Lebenswelt von Eltern gewordenen Ultraschalluntersuchungen werden von Eva Sänger einer theoretisch wie empirisch tiefgehenden Deutung unterworfen und platziert in einem im weitesten Sinne wissenssoziologischen Zugriff und ethnographischer Detailforschung. Es geht darum, wie über die Visualisierung des Fötus direkt in der Untersuchung und über das Foto dessen Personalität konstituiert wird und wie darüber Mütter, Väter und andere Familienmitglieder wie Geschwister adressiert und damit „subjektiviert“, sozialisiert, also in ihrer je eigenen Spezifik und Allgemeinheit „hergestellt“ werden – gleichsam ein pränatales Doing Family prozessiert wird. Dieser praxeologische Hintergrund wird in einem eigenen Kapitel erläutert: Der Fokus liegt demnach auf dem Vollzug von Handlungen/Tätigkeiten, gestützt und ausgeführt mit dem Körper und mit Artefakten. Dann erscheint Schwangerschaft nicht mehr primär als individuelle solitäres Tun und Erleiden, sondern als kollektive soziale Praxis.
Wie kommt die Autorin zu diesem Erkenntniszugang? Es wurde multimethodisch, explorativ und sowohl längs- als auch querschnittlich geforscht, um diesem praxistheoretisch-subjektivierungsanalytischen Ansatz umzusetzen. So wurde erstens eine teilnehmende Beobachtung von Schwangerschaftsvorsorge und Ultraschalluntersuchungen durchgeführt. Zudem fertigte die Autorin Aufzeichnungen von Nachgesprächen und Expert:innengespräche mit Ärzt:innen sowie Interviews mit Schwangeren und Müttern auf. Dieses vielfältige und heterogene Material diente einer „Methodologie der Verknüpfung“ (S. 71), um möglichst in einer gewissermaßen kaleidoskopartigen Kontrastierung den Gegenstand aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu beleuchten. Das umfangreiche Erhebungsmaterial wird in einer ebenso umfangreichen Ergebnisdarstellung präsentiert, das folgende Themencluster umschließt:
„Ultraschallbilder zeigen – Gemeinschaften stiften“
„Körper zeigen – Kinder machen“
„Zweigeschlechtliche Körper zeigen – Jungen und Mädchen machen“
„Verantwortliche Schwangere machen“
„Babys zeigen – Familie machen“
In letztgenanntem Kapitel wird der Bezug auf praxeologische Theorieelemente als markantes Kennzeichen dieser Veröffentlichung und deren heuristische Fruchtbarkeit sehr deutlich: Sänger (2020, S. 236) konzeptualisiert Ultraschallsituationen als Konstellationen von Menschen, Dingen, Atmosphären, in welchen Familie getan, vollzogen, ja inszeniert wird. Zwei grundlegende Herstellungsgrammatiken generieren das „performing family“. Einerseits das geschlechterspezifische Skript des normativ geforderten Tuns und Lassens von Kindsvater und Kindsmutter – und zweitens das Generationenskript, das das Tun und Lassen der Kinder, also der Geschwister, rahmt und vorbahnt. Väter haben demnach dabei zu sein, das wird von ihnen erwartet. Sie werden in das diagnostische Gespräch als werdende Väter einbezogen und sie richten das Geschwisterkind wahrnehmungsmäßig und verhaltensbezogen auf die Situation ein. Dieses „Geschwistermachen“ wird auch durch die Ärzt:innen in der als Fotoshooting bedeutsam gemachten Untersuchung tatkräftig unterstützt.
Aus dem Fazit sind zwei für die Familienforschung weiterführende Kernaspekte hervorzuheben. Einmal geht es um den ontologischen Charakter des Sonogramms als Ding, das als Bildschirmbild oder als Foto zwischen unterschiedlichen sozialen Sphären zirkuliert, Schwangerschaft sichtbar macht und affektiv auflädt sowie substanziell an der Subjektivierung von Müttern, Vätern und Geschwisterkindern im Rahmen situationaler Konstellationen des „performing family“ beteiligt ist – ebenso wie es der Kauf eines Kinderwagens, das gemeinsame Ansehen einer Fernsehsendung oder eine Familienmahlzeit sind. Zum anderen wird herausgestrichen, dass dieses „doing normal“ und vor allem „happy family“ an die ärztliche Diagnose einer normalen Entwicklung gebunden ist. Treten Komplikationen auf, ist mit schmerzhaften Prozessen, evtl. sogar einem „undoing family“ zu rechnen.
„Doing und problematizing family“ – Medien in prekären Familienverhältnissen
Medien sind ein nicht mehr wegzudenkender Bestandteil spätmoderner Familienlogistik (Lange & Kammerl, 2021). Andreas Oberlinner und sein Autrorinnenteam vom JFF in München haben im Rahmen der vom Bayerischen Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales (StMAS) geförderten Studie „Medienhandeln in pädagogisch begleiteten Familien" zehn pädagogisch begleitete Familien und die begleitenden Fachkräfte aus der Familienhilfe interviewt und damit das Augenmerk auf eine professionspolitische wichtige Population der sozialen Arbeit und Familienbildung gelenkt.
Auch Eltern aus Familien aus problembelasteten Verhältnissen möchten demnach ihren Kindern einen guten und sicheren Medienumgang bieten, weil auch sie wissen, wie wichtig das nicht nur für eine gelingende Freizeit, sondern auch für Ausbildung, Schule und nicht zuletzt für die spätere Karriere im Beruf ist. Und sie wissen und fühlen sich dafür verantwortlich. Allerdings müssen sie dringlicher als ihre medienpädagogischen Ambitionen umzusetzen alltagseinschränkende und energiezehrende Aufgaben wie Krankheitsbewältigung, prekärer Beschäftigung oder Arbeitslosigkeit, Fluchterfahrungen, finanziellen Schwierigkeiten oder belasteten Beziehungen im Familienkontext schultern. Zudem ist es ein immer wieder erhärteter Befund aus der Familienbildung, dass genau diese Zielgruppe am wenigsten durch Programme, auch und gerade zur Medienbildung, erreicht wird. Mit ihrer Forschung wollen die Autor:innen dazu beitragen, diesbezüglich Abhilfe zu schaffen.
Um die Ressourcen und Bedarfe dieser Familien festmachen zu können, wurden leitfadengestützte Interviews mit zehn Familien und den sie begleitenden Fachkräften geführt. In einer ersten Auswertungsserie wird ein umfassender Einblick in die durchaus heterogenen Lebenswelten der Familien und deren je spezifische Indikation für eine Familienbegleitung gewährt. Ebenso wird die Vielfalt des Medienhandelns deutlich gemacht, wobei die Tendenz bei den Kindern eindeutig zu exzessivem Konsum geht und bei den Eltern variantenreicher daherkommt. Wichtig für die Debatte um Medienbildung ist der Nachweis, wie stark Wohnungs- und Wohnumwelt mit dem jeweiligen Nutzungsverhalten gekoppelt sind. So schlagen sich beengte und wenig behagliche Wohnumgebungen in einem überschießenden und unreflektiert-habitualisiertem Mediennutzungsprofil nieder. Die Medienerziehung in den Familien ist wiederum durchaus unterschiedlich. Auf der einen Seite gibt es Familien, in denen die Kinder intensiv konsumieren dürfen, ohne großen Reglementierungen zu unterliegen. Auf der anderen Seite findet man durchaus negative Haltungen zu Medien – einmal ohne Konsequenzen im Sinne von Reglementierungen, einmal mit ausdrücklichen Reglementierungen. Diese allgemeinen Ergebnisdarstellungen werden sehr plastisch ergänzt um intensive Fallvignetten einzelner Familien, die den Gesamtzusammenhang von Familienleben und Mediennutzungsweisen und Medienerziehungsphilosophien offensichtlich werden lassen.
Die Fachkräfte unterstreichen erstens, dass und wie Medien heute unverzichtbar sind für soziale Teilhabe. Zweitens akzentuieren sie die Vorbildfunktion der Eltern. Drittens sehen sie in den Medien auch kompensatorische Facetten für Wissen und Meinungen, über das die Eltern nicht verfügen oder nicht beisteuern können.
Gefragt nach den Unterstützungsbedarfen, wird von den Eltern mehr und tiefergehende Information genannt und von einigen wird gesagt, dass hierzu auch ihre Fachkraft eine wichtige Quelle darstellt. Aber auch die Fachkräfte können weitere Unterstützung gebrauchen. Sie wünschen sich Fortbildungen zu speziell sensiblen Themen wie Umgang mit sexuellen Übergriffen und zu medialen Entwicklungen allgemein. Nicht nur Wissen, sondern begleitende, insbesondere auch ethische Reflexion ist ihnen ein Anliegen, weil sie auf der einen Seite ihr Schutzmandat ernst nehmen, andererseits auch nicht oberflächlich kulturkonservativ und paternalistisch bevormundend agieren möchten. Vom Format her bevorzugen die Fachkräfte mehrheitlich kopräsente Schulungen vor bloßem Text- und Informationsmaterial.
Insgesamt gesehen resümieren die Autor:innen für eine integrative Zusammenarbeit der Familienhilfen jeglicher Art mit Institutionen der Medienbildung. Familiensoziologisch gewendet heißt dies, dass die institutionellen Umweltsysteme von Familie aufgrund ihrer Eingriffstiefe in das spätmoderne Familienleben untereinander kommunizieren und sich abstimmen sollten, um Familien zu entlasten und mit kognitiven Ressourcen versorgen zu können.
Nicht Abbruch, sondern plural vollzogene Umorganisation. Väter nach Trennung und Scheidung
Väter sind heute nicht mehr alleine als Ernährer gefragt. Sie sollen mehr im Familienleben präsent sein und wünschen sich auch eine aktivere und zeitintensivere Rolle im Leben ihres Nachwuchses. Und dieses reformierte Vaterleitbild gilt auch, rechtlich abgestützt, im Falle von Scheidung und Trennung. Wie sich das genau darstellt, das hat Julia Schneider eingehend untersucht. Die Autorin sichtet zuerst eingehend den Forschungsstand zu Trennung und Vaterschaft und stellt hierbei eine klaffende Lücke hinsichtlich der a) individuellen Ebene und b) der Interpretation der neuen Konstellation des Vaterseins aus Sicht der Betroffenen fest. Das führt zu der Forschungsfrage nach den Faktoren, die nach einer Trennung oder Scheidung aus Sicht der Väter relevant sind für Ausgestaltung der Beziehung zu ihrem Kind. Besondere Beachtung gilt aufgrund zahlreicher vorhandener Befunde zur „Schleusenwärterfunktion der Mutter“ (gate-keeping) deren Einfluss auf die Vater-Kind-Dyade. Ebenso berücksichtigt werden gesellschaftliche Geschlechterrollenskripts sowie rechtliche Regelungen und Akteure.
Die dazu durchgeführte qualitative Studie beinhaltete 14 biographisch-narrative Einzelinterviews mit getrennten Vätern. Ausgewertet wurde mit der dokumentarischen Methode. Die zu Befragenden sollten dabei nicht länger als drei Jahre von ihren Partnerinnen getrennt oder geschieden sein, weil in dieser Phase wichtige Aushandlungsprozesse stattfinden.
Zentrales Ergebnis der Auswertungen ist die Extraktion zweier polarer Grundmuster von Vaterschaft: die Souveräne Vaterschaft sowie die Abhängige Vaterschaft. Entscheidend für die dichotome Orientierung ist erstens die wahrgenommene Bedeutung der Kindesmutter. Sie figuriert entweder als gleichberechtigte Handlungspartnerin oder als Gegenspielerin. Das zweite differenzgenerierende Merkmal besteht in der selbstempfundenen Handlungsfähigkeit in der Beziehung zum Kind. Die empfundene Selbstwirksamkeit der Souveränen Väter erstreckt sich auf mehrere väterliche Handlungsbereiche: den Umgang mit dem Kind, mit der Kindesmutter oder Vertretern der Justiz. Die andere Gruppe der Abhängigen Väter sieht sich in all diesen Feldern restringiert bzw. benachteiligt.
Auch das Geschlechterleitbild trägt zur Zweiteilung bei. Väter der Abhängigen Vaterschaft folgen einem klassischen Rollenbild mit wenig individuellem Gepräge und einem rigorosen Verständnis der Aufteilung der elterlichen Aufgaben – d. h. in die väterliche Erwerbsarbeit einerseits und mütterlicher Sorgearbeit andererseits. Die Souveränen Väter sehen Vaterschaft als eine, aber eben nicht als die einzige Facette ihrer Identität und diese Vaterschaft wird nicht als eherner Zustand, sondern prozessbezogen, eben als Entwicklung aufgefasst. Die Souveränen Väter sprechen bezüglich der Beziehung zum Kind von einem Erfolg, dagegen nehmen die Abhängigen Väter die Situation nach der Trennung als Defizit wahr. Neben der Identifikation von Subtypen dieser beiden polaren übergreifenden Orientierungen (Distanzierter Vater, Souverän/Selbstverständlicher Vater/Souverän/Überzeugter Vater/Souveräner Vater/sind: Kämpfender Vater/Abhängiger Vater/Zurückgelassener Vater/Abhängiger Vater) sind die weiteren Hauptergebnisse der Studie,
dass die Kindsmütter die wichtigsten Interaktionspartner mit Hinblick auf die Einordnung als Souveräner oder Abhängiger Vater sind;
dass soziale Netzwerke und Freundschaften eine eher geringe Rolle spielen für die Typik der väterlichen Handlungspraxen,
aber das juristische System großes Gewicht hat für die subjektive Codierung der neuen Handlungs- und Erfahrungswelt nach einer Trennung;
dass der Aushandlungsprozess der Vaterschaft phasenhaft erfolgt;
das Verständnis der neuen Handlungspraxen in Beziehung zu Mütterlichkeit und dem Verständnis von Männlichkeit erfolgt.
Der Wert dieser Arbeit liegt in der Ausleuchtung einer in der Scheidungs- und Trennungsliteratur eher vernachlässigten Gruppe und im Aufdecken einer sozialen Logik der Trennungsdeutung- und Bewältigung. Weiterführend kann man sich eine qualitative Replikation dieser Arbeit mit gespiegelten Interviews von Partnern und Parter:innen nach einer Trennung vorstellen, um das interaktive Wechselspiel im Trennungsverlauf rekonstruieren zu können, was nicht zuletzt zielführend für die Scheidungsbearbeitung wäre.
Zwischen Last und Selbstermächtigung – Facetten des Alleinerziehens in einer Großstadt
Das Alleinerziehen ist ein Dauerbrenner auch der engeren familiensoziologischen Debatten. Das hängt nicht nur mit der zahlenmäßig bedeutsamen Relevanz dieser Familienform im Spektrum des Zusammenlebens zusammen, sondern ebenso mit den mannigfach dokumentierten speziellen Belastungen und damit einhergehenden Ambivalenzen dieses Lebensarrangements. Valerie Jochim hat mit einer Regionalstudie zu München als Lebensraum, basierend auf einer kulturethnographischen Zugriffsweise, ein tiefenscharfes Porträt des „Doing Alleinerziehen“ geliefert. Auf der einen Seite teilen Alleinerziehende zahlreiche gesellschaftliche Rahmenbedingungen für das private Zusammenleben wie rascher sozialer Wandel, neue, prekäre Lebensformen, ökonomischer Druck, Wohnungsknappheit, Kinderbetreuungslücken, Anforderungen an das permanente Bildungsmanagement der Kinder mit den „vollbesetzten“ Familien. Auf der anderen Seite forciert sich dieser anforderungsreiche multiple Zugriff der zeitgierigen Umweltsysteme auf die Ressourcen und Fähigkeit der Familienmitglieder, wenn dieses Anforderungsportfolio alleine bedient werden muss. Eine angemessen theoretische Grundlage für ihre Studie findet die Kulturwissenschaftlerin vor diesem Hintergrund im Lebenslagenansatz. Er dient der Autorin dazu, komplexe soziale Ungleichheiten im Wechselspiel von strukturellen Rahmenbedingungen und der je individuellen Interpretation der Handlungsoptionen in einen Dialog zu bringen.
Empirisch hat die Autorin dies anhand von Leitfadeninterviews, mit Schwerpunkten auf die Erhebung der persönlichen Lebenssituation und Strategien der Alltagsbewältigung in der Tiefe sondiert. Rekrutiert wurden die Interviewteilnehmer:innen über Aushänge in verschiedenen Anlaufstellen für Alleinerziehende in München. Insgesamt belief sich das endgültige Sample dann auf 16 Frauen und 2 Männer, was auch im Groben der realen Verteilung von Vätern und Müttern auf die Lebensform Alleinerziehen entspricht.
Als ein Kernergebnis präsentiert die Autorin die Einsicht in die „vielschichtigen Realitäten“ und repliziert damit einen etablierten Befund der quantitativen Alleinerziehendenstudien. Diese Vielfalt bezieht sich sowohl auf die morphologischen Details des Zustandekommens und der je aktuellen Struktur, als auch auf die lebensweltlichen Schraffuren des Alleinerziehens (S. 103). Nach ausführlichen Einzelfallanalysen, die einen tiefen Einblick in die Handlungen und Widerfahrnisse des „Doing Alleinerziehen“ bieten, wird dann je ein übergreifender Aspekt thematisch fokussiert: das Entstehen und die Struktur des temporären Status alleinerziehend, die Spannungsfelder zwischen Care und Erwerbsarbeit, die ökonomischen Zwänge, das Kinderbetreuungsdilemma, die Spezifik von München als Standort sowie die Labeling- und Dekonstruktionsprozesse im Zusammenhang mit der Zuschreibungspraxis.
Das abschließende Fazit wird pointiert formuliert als „Familienwandel in starren Strukturen“. Die starren Strukturen sind rechtlicher Natur, die Intransparenz von Informationsangeboten – die Metapher der Hürden und des bürokratischen Dschungels fassen dies prägnant zusammen. Das Attribut „starr“ umschreibt auch noch weitgehend die Arbeitszeitvorgaben, die für alleinerziehende Elternteile und deren Doing Family das Leben zu einer logistischen Stolperfalle machen, die noch holpriger wird aufgrund unzureichender und kostspieliger Kinderbetreuungsplätze.
Praktiken der Konstitution und Modulation fluider Familienelemente – Ein kurzes Fazit
Den Alltag unter besonderen Bedingungen permanent bewältigen, die Trennungssituation im Sinne der Kinder managen, mit der medizinischen Diagnostik als Familie umgehen und Care-Arbeit konzeptionalisieren – all dies ist in den besprochenen Monografien sichtbar geworden als ein permanentes, bisweilen fragiles, prekäres Geschehen, das sich nicht immer bewusst choreographiert vollzieht, sondern abhängig von latenten Normen und Wissensbeständen, rechtlichen und sozialen Rahmenbedingungen. Damit liefern die Monografien erstens Hinweise auf das subtile Wechselspiel zwischen menschlicher Teil-Agency und familienrelevanten Umweltsegmenten, ohne deren Wandel es auch keinen Wandel von Familie gäbe – wie den Medien und den immer mehr in die Mitte der Gesellschaft rückenden Interventionen der sozialen Arbeit. Einer rein auf sozialstrukturelle Permutationen des bürgerlichen Kernfamilienmodells und weiterer familiendemografischer Fragen kaprizierten Familienforschung entgehen trotz großer Datensätze solch tiefenscharfe Abbildungen des spätmodernen Familienlebens. Diese hier ausschnitthaft dargestellten qualitativen Einblicke in die spätmoderne Tänzel- und Stolperchoreographie des schnöden Alltagslebens sowie der Familiengründung können daher wichtige Beiträge der Soziologie der Familie für eine interessierte Öffentlichkeit liefern. Gegenüber einer flottierenden Pathologisierung und Therapeutisierung von Familienproblemen könnten Familienakteure erkennen, was und wie sie es leisten, den Alltagsladen am Laufen zu halten!
Literatur
Becker, O. A., Hank, K., & Steinbach, A. (Hrsg.). (2023). Handbuch Familiensoziologie. Springer VS.Search in Google Scholar
Becker, T. (2024). Die befreite Liebe. Der Spiegel, 78(7) 98–106.Search in Google Scholar
Ecarius, J., & Schierbaum, A. (Hrsg.). (2022). Handbuch Familie. Band I: Gesellschaft, Familienbeziehungen und differentielle Felder. Springer VS.10.1007/978-3-531-19985-6Search in Google Scholar
Lange, A., & Kammerl, R. (2021). Die mediatisierte und digitalisierte Familie: Prozesse und Resultate der Sozialisation. Einführung in den Schwerpunkt. Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation, 41(4) 361–365.10.3262/ZSE2104361Search in Google Scholar
Newerla, A. (2023). Das Ende des Romantikdiktats. Kösel.Search in Google Scholar
Schierbaum, J., & Ecarius, J. (Hrsg.). (2022). Handbuch Familie. Band II: Erziehung, Bildung und pädagogische Arbeitsfelder. Springer VS. 10.1007/978-3-658-19843-5Search in Google Scholar
Schneider, N. F., & Aevermann, T. (2020). Familienforschung im Wandel. Trends und Perspektiven. Beziehungsweise, 23(Juni-August) 6–10.Search in Google Scholar
Schneider, N., & Kreyenfeld, M. (Eds.). (2021). Research Handbook on the Sociology of the Family. Elgar.10.4337/9781788975544Search in Google Scholar
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- Georg Glasze / Eva Odzuck / Ronald Staples (Hrsg.), Was heißt digitale Souveränität? Diskurse, Praktiken und Voraussetzungen »individueller« und »staatlicher Souveränität« im digitalen Zeitalter. Bielefeld: transcript 2022, 322 S., kt., 35,00 €
- Einzelbesprechung Fachkulturforschung
- Anno Eßer, Studentische Fachkulturen: Lebensstile und politische Dispositionen. Eine Untersuchung der Studienfächer Rechtswissenschaft, VWL, BWL, Sozialwissenschaften, Philosophie, Mathematik und Biologie. Opladen, Berlin & Toronto: Barbara Budrich 2023, 228 S., kt., 34,00 €
- Einzelbesprechung Gesellschaftsanalyse
- Howard Becker, Erzählen über Gesellschaft. Eingeleitet und herausgegeben von Reiner Keller. Wiesbaden: Springer VS 2019, 324 S., eBook, 49,99 €
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